Simon Shuster: Vor den Augen der Welt

Wolodymyr Selenskyj und der Krieg in der Ukraine

München ; Goldmann ; 2024 ; 528 Seiten ; ISBN 978-3-442-31724-0

Buchcover: Vor den Augen der Welt. Portrait von Wolodymyr Selenskyj
Copyright © Penguin Random House Verlagsgruppe

 

Seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine am 24. Februar 2022, ist dieser Krieg auch medial nachhaltig beeinflusst durch seine beiden Protagonisten, den beiden Präsidenten Selenskyj und Putin. Während sich bei Putin die Literatur und westliche Medien (bewusst) bedeckt halten, um seine diktatorische Machtausübung sowie sein Expansions- und Großmachtstreben nicht weiter zu verherrlichen, ist der ukrainische Präsident in seinem ständigen Bemühen um finanzielle Mittel und vor allem westliche Waffenlieferungen omnipräsent. Man könnte annehmen, er hätte sein ganzes Leben nichts anderes getan, als den „toughen“, in seinem stetigen Verlangen renitenten Staatsmann aber vor allem Feldherrn zu spielen. Dabei war er zu Beginn seiner beruflichen Karriere wirklich ein „Spieler“, genauer Schauspieler und Komödiant. Diesen Werdegang vom früher russlandaffinen Bühnenakteur auf die weltpolitische Bühne eines nun gegen Russland als Kriegsherrn agierend müssenden Staatspräsidenten zeichnet Simon Shuster nach.

Der im letzten Jahr 50 gewordene Autor Simon Shuster ist Korrespondent für das amerikanische Nachrichtenmagazin TIME und lernte Selenskyj Anfang 2019 bei einer Show kennen, also in einer Zeit als dieser noch eher ein Komödiant mit politischen Ambitionen war. Shuster wurde in Moskau geboren und emigrierte als Kind zwei Jahre vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion in die Vereinigten Staaten. Shuster gilt als exzellenter Kenner des russisch-ukrainischen Konflikts, seit der russischen Annexion der Krim im Jahr 2014 berichtet er ausführlich über den Krieg in der Ukraine. Er lebt in New York verbringt aber derzeit einen Großteil seiner Zeit in Kiew.   

Selenskyj, erst 46 Jahre alt, kam am 20. Mai 2019 nach einem erdrutschartigen Sieg seiner Partei „Diener des Volkes“ an die Macht und war zunächst gezwungen, den Wechsel von der fiktiven Welt eines sehr erfolgreichen Comedians hin zu einem starken Präsidenten eines Landes voller Korruption und einflussreichen Oligarchen zu vollziehen. Gleich nach Amtsantritt spürte er was es heißt im absoluten Rampenlicht zu stehen, als er seine Vermögensverhältnisse offenlegen musste und dies die Medien in allen Details ausbreiteten, dass er nicht nur vermögend war, was vielen ja bekannt war, sondern wie reich er war. Zu einer Art Chamäleon wurde er jedoch dann nach dem russischen Einmarsch in die von ihm geführte Ukraine, in dem er sich zum selbstbewussten Kriegsherrn mit einer beeindruckenden Hartnäckigkeit und Widerstandskraft entwickelte. Shuster charakterisiert ihn hier treffend als „… hartnäckig, selbstbewusst, rachsüchtig, unpolitisch, mutig…, resistent gegen Druck und schonungslos gegenüber allen, die sich ihm in den Weg stellten…“ Mitarbeiter bezeichneten ihn sogar als „Entscheidungsgenerator“. Dieses Verhalten und seine Charaktereigenschaften, und das vorab auch als zusammenfassende Kernaussage des Buches, übertrugen sich ebenso auf sein an allen Fronten kämpfendes und Entbehrungen hinnehmendes Volk, das auch jetzt noch mit einer nie geglaubten Resistenz dem an Ressourcen weit überlegenen Aggressor begegnet und wiedersteht.  

Unmittelbar nach dem Beginn der Invasion glaubte jeder im Westen an einen schnellen Fall Kiews. In der Konsequenz wurde anstelle von passiver Unterstützung der Verteidigungsanstrengungen, z.B. mittels militärischer Beratung und vor allem Waffen, zu Beginn lediglich politisches Asyl und Hilfe bei der Einsetzung einer Exilregierung angeboten. Doch vom ersten Tag an zeigte Selenskyj, dass er nicht gewillt war, sich dem Druck zu beugen. Von einem Bunker aus führte er die Regierungsgeschäfte, warb um Unterstützung, besuchte die Front und Shuster war meist mit dabei. Im Bunker hatte Selenskyj eine Art eigene Suite, mit Küchenzeile, Essbereich, eigenem Bad, aber den Umständen geschuldet doch relativ spartanisch. Der Originaltitel des Buches lautet im Gegensatz zum eher pompösen deutschen Titel nüchtern „The Showman“ und das spiegelt eigentlich den ganzen Charakter Selenskyjs gut wieder: egal wie schwierig die Situation auch ist, eine sehr kommunikative und vor allem überzeugende Art, diese zu vermitteln. Zu vermitteln nicht nur, was jeder in den heutigen „Echtzeitmedien“ selbst sehen kann, sondern dies verbunden mit wahrhaftigen Emotionen und Situationsbeschreibungen.   

Neben dieser Widerstandskraft spielten Selenskyj natürlich auch die anfangs teils dilettantischen Fehler der russischen Armee auf allen Ebenen, taktisch, operativ, strategisch, in die Karten. Die russischen Streitkräfte gingen nach Schema-F vor, Initiative, Kühnheit, Überraschungsmomente gab es nicht bzw. waren oftmals auch politisch nicht gewollt. Alleine im ersten Kriegsmonat verlor Russland mehr Soldaten als in 10 Jahren Afghanistankrieg, in den zwei Wochen in der Schlacht um Donbass mehr Soldaten als die USA in 20 Jahren im selben Land, wie Shuster richtig schreibt, Dabei war der Blutzoll nicht nur gegen die reguläre ukrainische Armee hoch, sondern Polizisten, Jugendliche mit Drohnen und selbst alte Menschen mit privaten Waffen wie Jagdgewehren stellten sich der roten Armee in den Weg. Anstelle eines eigentlich erwarteten riesigen Flüchtlingstrecks in Richtung Westen, kehrten alle nach Kiew zurück und wollten Teil dieses Triumphes sein. Für Shuster war die Verteidigung Kiews DAS entscheidende Ereignis seit dem Zweiten Weltkrieg, da die Ukraine als Land erhalten blieb und Putin verwehrt wurde, plötzlich an der polnischen Ostgrenze zu stehen, das Großmachtstreben Russland einen immensen Schaden erlitt sowie andererseits auf ukrainischer Seite ein enormes Selbstbewusstsein zum Tragen kam. Dies hat sich aber nach einigen Personalwechseln sowie einem verstärkten Bombardement aus der Luft und mit Fernraketen („Shock and Awe“ - Schrecken und Furcht) in den letzten Monaten schlagartig geändert, was dazu führte, dass die russische Armee derzeit die Oberhand an fast allen Fronten hat. Ein Wende wieder zugunsten der Ukraine ist derzeit nur mit kontinuierlichen Waffenlieferungen aus dem Westen vorstellbar.        

Shuster beschreibt zu Beginn auch den wesentlichen Grund für den Angriff Putins: die Orange Revolution, die Ende 2004 ihren Anfang hatte und an deren Ende die Abneigung gegen jeglichen weiteren russischen Einfluss in der Ukraine Vorrang hatte und stattdessen dem Lied der Pet Shop Boys „Go West“ folgend, die Annäherung an den Westen stand. Selenskyj, zu jener Zeit auf dem Weg zu einem berühmten Comedian, machte damals mit seiner Truppe Witze, die selbst seine Mutter als beängstigend betrachtete, über die Revolution und verfolgte umfangreiche geschäftliche Beziehungen mit Russland.

Putin stattdessen tat schon früh kund, dass er sich mit den Ergebnissen der Revolution nicht abfinden werde. Der Einmarsch in die Krim folgte seinen Worten. Dieses Ereignis war auch für Selenskyj der Anlass, das erste Mal so richtig politisch in Erscheinung zu treten, kritisch gegenüber der eigenen Regierung aber auch mit klaren Worten an Putin gerichtet. Ende 2014 stellte er unter Hinnahme eklatanter finanzieller Konsequenzen die Bühnenarbeit in Russland ganz ein. Während er seinem Manager Tyra bereits im April 2018 bei einer Autofahrt im Rahmen seiner Deutschlandtournee preisgab, als Präsident zu kandidieren, weihte er seine Frau und Freunde erst im folgenden Herbst in seine Pläne ein. Nachdem viele Ukrainer den Amtsinhaber Poroschenko für einen gescheiterten Frieden verantwortlich machten, war Selenskyj kurze Zeit später, also zu Begin 2019, bereits Favorit auf das Amt und wurde schließlich auch gewählt.           

In der Frühphase des Krieges ließ der ukrainische Präsident den militärischen Part des Krieges durch die Experten und Militärs führen, insbesondere durch Saluschnyi, den militärischen Oberbefehlshaber, den Selenskyj im Frühjahr 2021 persönlich an allen Hierarchien vorbei an die Spitze der ukrainischen Armee hievte. Dies auch mangels eigener militärischer Erfahrungen und damit bedingt Selbstvertrauen, die Operationsführung seiner Militärs zu hinterfragen. Er dagegen konzentrierte sich auf das Wahrnehmen, was an der Front passierte, und adressierte diese Wahrnehmungen in Videobotschaften. Interviews und Pressekonferenzen nahe der Front selbst unter Gefahr einem Bombenangriff zum Opfer zu fallen, schreckten Selenskyj nicht ab, Zuversicht zu verbreiten. Später dann übertrug oder besser impfte er in unzähligen Inlands- und Auslandsreisen seinem Volk seine Widerstandskraft sowie Optimismus ein und bat die westlichen Länder und Institutionen, wie z.B. die EU, permanent, ja fast schon penetrant um Unterstützung. Die westliche Welt sollte jederzeit das Leid des ukrainischen Volkes vor Augen geführt werden, um zu helfen und diese Hilfe darf auch nicht nachlassen. Dies unermüdlich bis zur totalen Erschöpfung, auch und gerade jetzt, als der Nahe Osten und die Unterstützung von Israel mehr in den Fokus der westlichen Staaten rückte.

Dem ist, wenn man dann die Phase nach dem Erscheinen des Buches nimmt, nicht mehr so. Nach und nach bringt sich Selenskyj auch in die militärischen Strategie- und Gefechtsplanung mit ein. Nicht zuletzt tauschte er auch Anfang Februar 2024 neben dem Generalstabschef auch manch anderen General in leitender Position aus. Diese „Einmischung“ deutet Shuster auch am Ende des Buches in einer Art Ausblick an, auch in einem Ausblick auf eine „Post-War-Szenario“, in dem er sohr wohl die Möglichkeit sieht, dass Selenskyj die ihm nun per Kriegsrecht auferlegten zusätzlichen Zuständigkeiten dann auch behalten und eben nicht zur vollen Rechtstaatlichkeit zurückkehren möchte. Selenskyj versucht sicherlich weiterhin, um sich herum einen elitären Kreis an dynamischen, handlungswilligen und -fähigen Männern und Frauen aufzubauen, die er aber jederzeit von sich abhängig und damit kontrollierbar macht. Ähnlich wie in Russland sind alle personellen und materiellen Ressourcen zentral zu mobilisieren und einzusetzen. Ob das System sich so in Richtung einer einzelnen Person an den Machthebeln verselbständigt, wird man sehen. Das heißt plakativ ausgedrückt, Selenskyj muss sich dann entscheiden, ein Staatspräsident im Nadelstreifenanzug und mit weißem Hemd zu sein oder wie jetzt in militärischer Uniform.     

Ein Teil des Buches behandelt auch das Ringen Selenskyjs um eine diplomatische Einigung mit Russland. Lange Zeit setzte er auf diese Karte, hoffte, Putin doch irgendwie zu einem Kompromiss bringen zu können. Selbst nach den entdeckten Gräueltaten russischer Soldaten in Butscha gab er sich weiterhin der Illusion hin, mit Putin verhandeln zu können. Doch weit gefehlt: Putin zeigte alsbald noch „spitzere Zähne“ und sein wahres Gesicht. Nach und nach erst sah Selenskyj die Sinnlosigkeit dieses Vorhabens.

Selenskyj selbst hielt die Biografie über sich für einen 46-Jährigen eigentlich als zu früh. Aber ich denke, er hat sie letztendlich selbst gutgeheißen, weil sie seinen bisherigen Weg exzellent nachzeichnet. Dabei wechselt der Autor in seinen Erzählungen gekonnt zwischen Dialogen, Ereignisbeschreibungen, Meinungen sowie Gedanken. Das alles mal humorvoll mal ironisch, aber stets erschreckend real. Shuster erläutert auf zwei Erzählebenen, einerseits aus der des Beobachters und „Wahrnehmers“, andererseits als unmittelbar Betroffener, nachhaltig einem breiteren Publikum das Mysterium Selenskyj, seinen Aufstieg aus dem politischen Nichts und vor allem seine Überzeugungskraft. Dies einerseits nach innen zur Stärkung der Widerstandskraft und -willen seiner Bevölkerung aber auch nach außen im permanenten Ringen um finanzielle und materielle Ressourcen. Shuster bildet durch eine Art „Schlüssellochblick“ einen teils neuen Blick auf die unmittelbare Umgebung von Selenskyj, seiner Familie und entmythologisiert das lange vorherrschende Bild eines planlos agierenden ehemaligen Komödianten, unfähig ein Volk durch diese harten Zeiten zu führen.

Gerade auf Reisen bildete sich Selenskyj mit historischen Büchern auch zu den größten Feinden der Ukraine, Hitler und Stalin, weiter. Vergleiche mit Churchill konnte er nichts abgewinnen, im Gegensatz zu Vergleichen mit Charlie Chaplin. Nur 170cm groß und selbst nie in der Armee gedient, zeigt Selenskyj seit Beginn der Invasion eine nie erwartete Größe und Kriegstüchtigkeit. Shuster’s Buch klingt nicht wie eine Eloge auf einem Menschen, sondern spart auch nicht mit Kritik, wo angebracht, und ordnet die eine oder andere Situationsbeschreibung auch entsprechend ein. So zum Beispiel das Versagen Selnskyjs, die Invasion nicht vorhergesehen zu haben bzw. alle Hinweise darauf weggewischt zu haben, selbst als das Land auch von Belarus aus von drei Seiten umzingelt war. Sogar noch am Abend davor glaubte er nicht an einen Angriff, genauso wie auch deutliche Anzeichen, dass Auftragskiller auf ihn angesetzt waren. Die Hauptkritik an Selenskyj ist jedoch, dass er Kritik an seiner Person nicht hören möchte, was er falsch entschieden und anders angeordnet hat. Dies ist so Shuster beängstigend, denn man braucht im engsten Zirkel auch Menschen, auf die man hört, die einem nicht nur Halt geben, sondern auch einem den Spiegel vor die Nase halten, wenn man sich irgendwo verrannt hat. Hierin liegt die wesentliche Leistung des Buches. Quasi nebenbei gibt er einen interessanten Einblick in die verborgene Privatsphäre der Entourage des ukrainischen Präsidenten und lieferte eine Beschreibung des ukrainischen Systems aus Macht und Politik gleich mit. 

 

Fazit: Brilliante Biografie, die ein erschreckend realistisches Bild über die derzeitige Situation in der Ukraine zwei Jahre nach Kriegsbeginn zeichnet.

 

Andreas Pickel

4/5 Sterne
4/5 von 5

© 2024 Andreas Pickel, Harald Kloth, Cover: Copyright © Penguin Random House Verlagsgruppe

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