Ian Kershaw

Wendepunkte

Schlüsselentscheidungen im Zweiten Weltkrieg

Obwohl bereits über 60 Jahre seit der Kapitulation der Deutschen Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg vergangen sind, wird auch heute noch heiß diskutiert, wann welches Ereignis dem Zweiten Weltkrieg die entscheidende Wende gab. Während viele Autoren den vorhersehbaren Zusammenbruch der Deutschen Wehrmacht automatisch mit dem Fall Stalingrads in Verbindung bringen, datieren neuere Forschungsergebnisse (Karl-Heinz Frieser: Die Ostfront 1943/44) den Zeitpunkt auf Mitte 1942, als an der Ostfront ohne jegliches Konzept und ohne den Versuch im Rahmen der immer noch gegebenen Möglichkeiten die Initiative zu behalten, nur noch reagiert wurde. Manche Autoren sehen die ausschlaggebenden Ereignisse für den Zusammenbruch der Chimäre Hitlers bereits viel früher, als die deutsche Wehrmacht, Ende 1941 vor Moskau zum Stehen gebracht, seine erste Winterkrise erlebte. Sieben Jahre nach den Sieben Todsünden des Ersten Weltkriegs von Sebastian Haffner (2001) legt nun der mit seiner monumentalen Hitler-Biografie berühmt gewordene britische Historiker Ian Kershaw die „Zehn Wendepunkte“ des Zweiten Weltkriegs vor.

 

Für Ian Kershaw war der Zweite Weltkrieg ohne Zweifel eine logische Folge und Fortsetzung des Ersten Weltkriegs, in seinen Nachwirkungen aber bei weitem prägender. In seinem neuesten Werk rekonstruiert der Bestseller-Autor zehn Entscheidungen im Zeitraum von 18 Monaten (Mai 1940 bis Dezember 1941) an den unterschiedlichsten Schauplätzen, die aus seiner Sicht aufgrund ihrer Tragweite und den Konsequenzen für Folgeentscheidungen den Verlauf des Krieges entschieden. Laut Kershaw sind diese Wendepunkte untereinander verknüpft und verbanden die zunächst unabhängig verlaufenden Kriege in Europa und Asien. Interessant für den Autor war auch die Frage, was passiert wäre, wenn diese Entscheidungen nicht getroffen, sondern eine Alternativlösung gewählt worden wäre, ohne sich aber dabei auf eine „What happens if ... -Diskussion“ einzulassen.

 

Drei der sogenannten Wendepunkte betreffen den Tatort Berlin (Angriff auf die Sowjetunion, Kriegserklärung an die USA, Genozid an den Juden), je zwei Wendepunkte betreffen Japan sowie die damals aus seinem Isolationismus heraustretenden Vereinigten Staaten von Amerika. Je ein Wendepunkt wird ausschlaggebenden Entscheidungen im zunächst überrumpelten Großbritannien, dem sich parasitär verhaltenden Italien sowie dem über unermesslichen personellen und materiellen Ressourcen verfügendem, aber führungsschwachem Russland zugeschrieben. Richtigerweise wird keine der wichtigen Entscheidungen Frankreich zugeordnet, ein Umstand, der der Grand Nation sicherlich missfallen dürfte.

 

Kershaw beginnt sein Buch in Großbritannien und stellt damit seinen wesentlichsten Protagonisten Churchill in den Mittelpunkt, eine Persönlichkeit, über die neben Hitler und Wilhelm II. vielleicht die meisten Biografien geschrieben wurden. Im Gegensatz zu Italien, Japan und Deutschland, die neben den ideologischen Gründen auf Seiten Nazi-Deutschlands vor allem Landgewinn, Reputation sowie Wohlstandsteigerung als Kriegsziel verfolgten, stand für England die Wahrung seines Weltreiches und seines Weltmachstatus im Mittelpunkt.

 

Nachdem sich die britische Außenpolitik bereits Ende der 30er Jahre (Appeasement) mehr durch Verwirrung, Unsicherheit und Untätigkeit als durch eine stringente durchsetzungsfähige Politik hervortat, man war durch Hitlers Manöver mehr der Getriebene als der Treibende, offenbarte Hitlers Blitzkrieg gegen Frankreich im Mai 1940 die gesamte Hilflosigkeit des britischen Empires. Erst mit Churchill dem neuen starken Premierminister gelang es nach und nach die Bevölkerung, Wirtschaft und Rüstung auf den Krieg um- und einzustellen. Der Weg dahin war aber für Churchill alles andere als einfach.

 

Trotz des Scheiterns der auch unter Vermittlung des amerikanischen Präsidenten Roosevelts geführten Verhandlungen mit Italien und der unabwendbaren französischen Kapitulation wurde zwischen Tauben (Fraktion um den britischen Außenminister Halifax) und Falken (Fraktion um Churchill) im britischen Kriegskabinett intensiv über die Fortsetzung des Krieges gerungen. Laut Kershaw waren zu diesem Zeitpunkt die Ergebnisse der hitzig geführten Sitzungen nur einem elitären Kreis bekannt und wurden in seiner ganzen Tragweite erst Anfang der 70er Jahre einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich.

 

Mit dem „Wunder von Dünkirchen“, das Churchill am 4. Juni 1940 öffentlich bekannt gab, stieg das in ihm gesetzte Vertrauern als Kriegsherr und er wurde nunmehr der alleinige Taktgeber im Kriegskabinett. Nachdem Churchill jegliche Waffenstillstands- oder Friedensverhandlungen ablehnte, war die Entscheidung für die Fortsetzung des Krieges getroffen. Aber, so Kershaw, unter ggf. anderen Umständen hätte die Entscheidung für den Krieg und gegen Waffenstillstandsverhandlungen auch anders ausgehen können.

 

Die Konsequenz war, dass Hitler den Krieg im Westen nicht beenden konnte, um so die Masse der personellen und materiellen Ressourcen in den Osten zu werfen. Hitler sah sich nun gezwungen, schnell eine Entscheidung zu suchen, entweder gegen die Sowjetunion, um den Kontinent zu beherrschen, oder gegen England; in beiden Optionen war schnelles Handeln gefordert, bevor Amerika in den Krieg eintreten konnte und vor allem wollte.

 

Das zweite Kapitel thematisiert die Entscheidung Hitlers, die Sowjetunion anzugreifen. Am 31. Juli 1940 gab Hitler vor seinen Generalen bekannt, Russland niederzuwerfen, um England die Hoffnungslosigkeit eines Widerstandes gegen Deutschland zu verdeutlichen aber bekanntermaßen vor allem, um den bereits in Mein Kampf titulierten notwendigen Lebensraum im Osten zu gewinnen. Erst mit Erreichen dieses Ziels sei dann unter Führung des deutschen „Herrenvolkes“ ein Weltfrieden möglich.

 

Laut Kershaw war diese Entscheidung diejenige mit den vielleicht weitest reichenden Konsequenzen für den gesamten Weltkrieg und ohne Umschweife die alleinige Entscheidung Hitlers. Hitlers Absicht war zwar bereits seit längerem bekannt, stieß aber vor der unumgänglichen Entscheidung vom 31. Juli bei den Generälen zunächst auf große Skepsis. Doch stilisierte der schnelle Sieg gegen Frankreich Hitler zum „Größten Feldherrn aller Zeiten“ und vermeintliche Kritiker verstummten schnell. Seine Entscheidung fand so bald eine breite Unterstützung unter Militärs, Funktionseliten und in der Bevölkerung.

 

Obwohl Großbritannien nicht gewillt war, einen Verhandlungsfrieden einzugehen, waren nun alle Planungen auf den Ostfeldzug auszurichten. Jedoch, so Kershaw, entwickelte man im Vorfeld dieser ultimativen Entscheidung und auch noch danach sehr wohl parallel eine komplementäre oder auch alternative (je nach Sichtweise der Teilstreitkräfte) Peripheriestrategie im Mittelmeerraum, die auch von Hitler als eine echte Option betrachtet wurde. Diese Strategie sollte das britische Empire weiter schwächen und die USA neutralisieren. Als es jedoch nicht gelang Vichy-Frankreich und Spanien mit in diese Pläne einzubinden und die Diversifizierung der Wehrmachtstrukturen ein einheitliches Meinungsbild behinderte, lag der Fokus nun ausschließlich auf Russland. Mit der Weisung für das „Unternehmen Barbarossa“ am 18. Dezember 1940 wurden die Weichen endgültig Richtung Ostfeldzug gestellt. Hitler wollte den Krieg so früh wie möglich, da erst 1942 die USA für einen Kriegseintritt vorbereitet schien. Nach einigen Verzögerungen, z. B. durch das Griechenlandfiasko Italiens, die sich später noch als mitentscheidend herausstellen sollten, rollte am 22. Juni 1941 die deutsche Kriegsmaschinerie gen Moskau.

 

Thematisch zusammenhängend mit Hitlers Beschluss, die Sowjetunion anzugreifen, ist das Kapitel 6. Auch wenn er es nie zugab, ist es heute unumstritten, dass es Stalins alleinige Entscheidung war, jegliche Angrifftendenzen der Deutschen Wehrmacht zu verleugnen, mit der Konsequenz, dass die „Operation Barbarossa“ die Rote Armee völlig unvorbereitet treffen sollte. Nach außen hin wurden alle außen- und sicherheitspolitischen Aspekte durch die „großen Fünf“ (Stalin, Malenkow [Stalins rechte Hand in der Partei], Molotow [Ministerpräsident und Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten], Berija [Chef des NKWD] und Mikojan [Verantwortlicher für den Außenhandel im Politbüro]) getroffen. Die Kontrolle über den Geheimdienst NKWD, die brutalen Säuberungen in der Armee Mitte der der 30er Jahren und dem zur Staffage verkommenen kompetenzlosen Zentralkomitee machten Stalin aber zum ausschließlichen Entscheidungsträger. Russland war mit Beginn des Zweiten Weltkrieges auf einen größeren Konflikt nicht vorbereitet. Gerade durch die mörderische Terrorwelle in der Armee ging fast die gesamte militärische Expertise und Erfahrung verloren. So war man sichtlich erleichtert, als man am 23. August 1939 den Hitler-Stalin-Pakt unterzeichnen konnte, den so Kershaw, „infamsten diplomatischen Coup in der Geschichte“.

 

Nachdem es zunächst gelang, die baltischen Staaten der Sowjetunion auch gegen Widerstände unterzuordnen, erlebte die schlecht organisierte, ausgerüstete und vor allem geführte Rote Armee in Finnland ihr Fiasko. Über eine Million Soldaten gelang es nicht, die kleinen finnischen Streitkräfte zu besiegen. Nach über 200.000 Toten in den eigenen Reihen musste man schließlich einen Waffenstillstand, der Finnland die Unabhängigkeit bewahrte, schließen. Als dieses Fiasko in ganz Europa die Runde machte, führte dies insbesondere auch in der deutschen Militärführung zu einer trügerischen Unterschätzung der Moral und Kampfkraft der Roten Armee. Ein Umstand, der sich später rächen sollte

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Erst als Anfang 1941 deutsche Angriffpläne virulent wurden, begann man in der russischen Militärführung mit ersten Operationsplanungen. Die Ergebnisse waren verheerend. Die personelle und materielle Ausrüstung wurde als so ungenügend eingeschätzt, dass man frühestens 1942 für einen Konflikt mit Deutschland gerüstet war; das die Pläne von einem deutschen Hauptstoß in Süden ausgingen und Stalin sein Befestigungssystem räumlich verschieben ließ, verschärfte die Situation.

 

Summa summarum, der Konflikt musste auf alle Fälle mit allen Mitteln hinausgezögert werden. Hinzu kam, dass die Südgrenze nach der Eroberung Jugoslawiens und Griechenlands durch die deutsche Wehrmacht offen lag und die militärische Ineffizienz durch eine diplomatische Isolation verstärkt wurde. Stalin dagegen glaubte sich auf einer Insel der Glückseligkeit und schenkte nur seiner eigenen Einschätzung der Situation Glauben, ja er missbilligte jegliche anders lautende Geheimdienstinformation oder sonstigen Quellen. Auch Hinweisen aus westlichen Staaten traute er nicht. Obwohl alle Informationen wie einzelne Mosaiksteinchen zu dem Gesamtbild - der deutsche Angriff ist immanent - zusammenpassten, ignorierte Stalin alle Warnungen, bestärkt durch Lagebeurteilungen der ihm treu ergebenden Geheimdienste. Auch widerrief er persönlich sämtliche Pläne für einen Präventivschlag, nur um das Deutsche Reich nicht zu provozieren. Die Folgen sind bekannt.

 

Innerhalb kürzester Zeit stand die Deutsche Wehrmacht vor Moskau und erst im Dezember 1941 gelang eine erste, aber äußerst effektive Gegenoffensive, die die Wehrmacht einen ersten verhängnisvollen Winter in Russland bescherte und aus meiner Sicht zu Recht von Kershaw als Wendepunkt des Krieges bezeichnet wird. Allerdings wären Millionen von Menschenleben zu retten gewesen, hätte nicht die Personalisierung der Verantwortung auf Stalin zu einem der größten Irrtümer der Geschichte geführt - die (vorsätzliche) Ignorierung des deutschen Angriffs noch bis einen Tag vor Angriffsbeginn. Dabei hätte es, so Kershaw, ausreichend Alternativen gegeben. Je früher die Gefahr erkannt worden wäre, desto intensiver und effektiver hätte man sich grenznah gegen den Angriff rüsten können. Auch ein Bündnis mit dem Westen wäre eine Option gewesen und letztendlich hätten örtlich und zeitlich begrenzte Abschreckungsmanöver im Sinne einer Demonstration der Stärke, ggf. dazu geführt, weiter Zeit für die notwendigen Abwehrmaßnahmen zu gewinnen.

 

Hitlers Angriff auf die Sowjetunion verzögerte sich in verhängnisvoller Weise, da sich der wesentliche Bündnispartner Italien als militärisch unfähig erwies. Doch wie kam es dazu, dass sich auch Mussolini seinen Teil nehmen wollte, aber letztendlich nicht mehr als ein Anhängsel Deutschlands blieb? Mussolini - der Duce - sah sich eigentlich im Verhältnis mit Hitler als dessen Meister. Schließlich stand er für den Ursprungsfaschismus, während Hitler diesen nur für seine Zwecke radikalisierte. Nach und nach drehten sich aber die Machtverhältnisse.

 

Besonders die immensen diplomatischen Erfolge Hitlers ließen schon bald das Blatt wenden und aus dem Lehrer einen von Minderwertigkeitsgefühlen geplagten Bewunderer Hitlers werden. Nachdem Mussolini zunächst einen Status als „nicht kriegführende Macht“ akzeptierte, verfolgte er sein Ziel, die Beendigung der britischen und französischen Herrschaft im Mittelmeerraum und die Kontrolle über den Balkan zunächst durch einen Parallelkrieg - einem, so Kershaw, Krieg im Kriege. Mit Hitlers Blitzkrieg gegen Frankreich schwanden die Vorbehalte gegen einen Kriegseintritt und man kämpfte nun offiziell als Bündnispartner auf der Seite der Deutschen Wehrmacht. Nach einer kurzen Beteiligung am Westfeldzug, lag schließlich der Balkan im Fokus, um den Krieg seinen eigenen, italienischen Stempel aufzudrücken. Dies übrigens entgegen dem erklärten Willen Hitlers, der den Schwerpunkt für Italien eindeutig in Nordafrika sah. Am 28. Oktober 1940 griffen italienische Truppen das vermeintlich leicht zu schlagende griechische Heer an. Was als schneller Sieg gedacht war, endete für das unkoordiniert geführte und unzureichend modernisierte Heer und damit für den nach seiner eigenen Selbsteinschätzung unfehlbaren Duce im Fiasko.

 

In nur sechs Wochen wurde deutlich, dass Italien selbst Griechenland nicht Herr werden konnte, die Achse Berlin-Rom, so Kershaw, hatte ihre Achillesferse. Die Konsequenz war weittragend, musste doch Mussolini die dringend für den Wüstenkrieg benötigten Truppen aus Nordafrika an den Peloponnes zurückbeordern, allerdings ohne Erfolg. Schließlich half nur noch die Unterstützung Hitlers. Diese Truppen, so der Autor, waren für den Ostfeldzug ohne Bedeutung, mit der wesentlichen Ausnahme, dass Hitler durch das Eingreifen gezwungen wurde, den Angriffstermin nach hinten zu verlegen. Zusätzlich schwächten die Truppenabstellungen das deutsche Heer entscheidend für den Kampf gegen Großbritannien in Nordafrika. Das Hauptmotiv Italiens für den Kriegseintritt, eigene Machtansprüche anzumelden und durchzusetzen, blieb ein Wunschtraum. Italien musste seine über Jahrhunderten gehegten und durch Mussolini auferweckten Großmachtambitionen endgültig begraben. Ähnlich wie bei Stalin lag aufgrund der Personalisierung der Entscheidungsfindung die alleinige Entscheidung für den Krieg, den Kriegsschauplätzen und den Kriegszielen auf Seiten des Diktators. Laut Kershaw gab es jedoch Alternativen zu dieser Entscheidung. Die Option, sich den Alliierten anzuschließen wird als abwegig beurteilt, da sich auch hier Italien früher oder später im Krieg befunden hätte, dann aber gegen das damals als übermächtig geltende Heer Hitlers. Auch die Entscheidung, neutral zu bleiben hätte ggf. zur Folge gehabt, fremde Truppen im Land akzeptieren zu müssen. Aber die Alternativen, den Griechenlandfeldzug zu einem späteren Zeitpunkt zu beginnen oder zugunsten von Nordafrika ganz auf das Balkanabenteuer zu verzichten, hätten dem Krieg im Mittelmeerraum einen völlig anderen Charakter geben können.

 

Die Entscheidung Japans, sich in Richtung der britisch und französisch dominierten Länder nach Südostasien auszudehnen führte dazu, dass sich die Kriege in Europa und Asien zum Weltkrieg verbanden. Wenden wir uns also nun dem zweiten großen Bündnispartner Deutschlands sowie dem Krieg im Pazifik zu, wo sich Japan seinen Teil am Kuchen sichern wollte. Ziel Japans war von jeher der Erhalt ökonomischer Autonomie. Stützen konnte man sich dabei auf ein starkes Militär. Entgegen der Situation z. B. in Deutschland, Russland und Italien gab es kein eigentliches Machtzentrum, die einheitliche Ideologie und Denkweise erleichterte jedoch jegliche Entscheidungsfindungen.

 

Als starker Mann in Japan galt der Ministerpräsident Fürst Konoe, für den entweder eine ungerechte Landverteilung oder Verteilung von Rohstoffen zum Krieg führen konnte. Da Japan seit jeher schlechte Beziehungen zu den USA, Großbritannien, Frankreich und den Niederlanden pflegte, schien das Deutsche Reich der langersehnte Ausweg aus der Isolation zu sein. Der Hitler-Stalin-Pakt, also ein Bündnis Deutschlands mit dem Feind im Norden, zerstörte aber zunächst alle Träume. Stattdessen verschärfte sich der Konflikt mit den Vereinigten Staaten im Pazifik, als man von einer möglichen nördlichen Landstrategie zugunsten eines im Schwerpunkt maritimen Südvorstoßes abwich. Schnell stand man vor der Entscheidung, dem Wendepunkt, sich entweder der amerikanischen Vorherrschaft zu beugen oder schnellstmöglich unvorhersehbare Schritte zu unternehmen. Man entschied sich für letzteres und am 27. September 1940 wurde der Dreimächtepakt mit dem Deutschen Reich und Italien geschlossen. Mit dem Bündnis sollte eine amerikanische Intervention verhindert werden, um die ökonomische und politische Zukunft des Landes zu sichern. Laut Kershaw gab es zur Entscheidung für den Südvorstoß, die von der gesamten Machtelite akzeptiert wurde, keine plausible Alternative. Neben der Vermeidung von Prestigeverlust und innenpolitische Konsequenzen konnte die Rohstoffversorgung nur durch Imperialismus gesichert werden. Der Weg zur Entscheidung von 1941, der zum Angriff auf Pearl Harbor führte, war geebnet.

 

Mit dem japanischen Einmarsch in Französisch-Indochina im Juli 1941, der den Weg auf die Ölquellen in Niederländisch-Indien öffnete, beendeten die USA endgültig alle diplomatischen Beziehungen, verhängte ein totales Erdölembargo und fror alles japanisches Kapital ein mit der Konsequenz, dass Japan kein Öl mehr kaufen konnte. Für Japan kam dies einer Kriegserklärung gleich, ein Untergang in Ehren war immer noch besser als ein Überleben in Schande. Auf allen Ebenen wurde ein baldiger Angriff auf die USA als notwendig erachtet, ein vergleichbares zeitraubendes Ringen zwischen Falken und Tauben wie in Großbritannien stand nicht zur Debatte. Als der Hardliner Tojo, bis dato Heeresminister schließlich Ministerpräsident wurde, gab es kein zurück mehr. Die ausschlaggebende Konferenz fand schließlich am 1. November 1941 statt. Drei Optionen wurden diskutiert. Erstens die Vermeidung eines Krieges unter ggf. der Hinnahme von Versorgungsproblemen, zweitens sofort Krieg zu führen oder drittens sich zwar für den Krieg zu entscheiden, aber weiter die diplomatische Tür offen zu lassen. Man entschied sich schließlich für Krieg, als der auf 30. November 1941 terminierte letztmögliche Termin für eine diplomatische Lösung aufgrund mangelnden Entgegenkommens der Vereinigten Staaten von Amerika verstrich. Am 1. Dezember wurde die Einwilligung zum Krieg gegeben, mit dem Angriff auf Pearl Harbor am 7. Dezember war der unerklärte Krieg für die Rettung der Ehre nun erklärt. Laut Kershaw gab es gerade bis Herbst 1941 keine echte Alternative, um Armut, Demütigung und Schmach unter der Herrschaft der USA zu verhindern. Dann jedoch hätte man es versäumt, konsequent auf Diplomatie zu setzen. Die unter Zeitdruck geführten Gespräche waren schließlich zum Scheitern verdammt. Mit Ende des Krieges stand Japan unter noch größerer ökonomischer Abhängigkeit, aber mit bekannten immensen materiellen Wohlstand.

 

In zwei Kapiteln beschäftigt sich Kershaw mit dem sukzessiven Hineinschlittern der USA in den Krieg. Zunächst führte man den „unerklärten Krieg“ diese als short of war bezeichnete Handlungsweise glich einem Vabanquespiel an der Schwelle zum Krieg. Einerseits wurde man selbst Verhalten aktiv zum Schutz des zivilen Schiffsverkehrs im Atlantik, andererseits agierte man eher passiv durch die Unterstützung Großbritanniens und ab 1941 im Rahmen eines umfangreichen Leih- und Pachtprogramms auch der Sowjetunion. Insbesondere Letzteres legte so Kershaw die Basis für den späteren gemeinsamen Kampf der USA, Großbritanniens und der Sowjetunion. Bis dahin hatte Roosevelt allerdings einen langen innenpolitischen Kampf zu führen, deren Ausgang lange ungewiss blieb und die heutige unilaterale Politik zu Grunde legend kaum zu glauben ist. Der Präsident stand vor dem Dilemma einerseits die Isolationisten nicht zu vergrämen und die Öffentlichkeit und politischen Entscheidungsorgane hinter sich zu bringen, andererseits war eine schnelle und unbürokratische Unterstützung Großbritanniens nötig, um der Expansion des nationalsozialistischen Deutschlands Einhalt zu gebieten. Dies wurde insbesondere virulent, als Hitlers Wehrmacht Frankreich in wenigen Tagen förmlich überrannte. Durch einen Ausbruch aus dem Isolationismus und der Neutralität, der Aufhebung des Waffenembargos gegen kriegführende Mächte, sollten die westlichen Demokratien mit allem unterstützt werden, was ohne aktive Kriegsführung möglich war. Darauf bereitete er sein Volk schrittweise vor.

 

Im Dezember 1940 fiel laut Kershaw eine der Schlüsselentscheidungen des Krieges, die „Erklärung des Wirtschaftskrieges“ gegen die Achsenmächte, Roosevelt gab der öffentlichen Meinung die Richtung vor und war nicht länger ihr Getriebener. Schließlich setzte sich Roosevelt mit der Verabschiedung des „Lend-Lease Act“ im März 1941 gegen alle Widerstände durch und Großbritannien erhielt die erbetene materielle Unterstützung. Die Kriegspolitik der USA und Großbritanniens war nun unumkehrbar miteinander verknüpft, auf der anderen Seite waren die Beziehungen der USA zu Deutschland unwiderruflich zerbrochen. Der Faktor Zeit und die materielle Überlegenheit schwenkte nun zunehmend auf die Seite der transatlantischen Bande. Andererseits dachte Roosevelt aber im Frühjahr 1941 noch nicht daran, aktiv in den Krieg einzutreten, es bestand nicht die geringste Chance, dem Kongress eine Kriegserklärung abzuringen. Doch der Zug Richtung Waffengang war nicht mehr aufzuhalten.

 

Ein weiterer Schritt in den Krieg waren im August 1941 drei gravierende Änderungen im „Selective Service Act“, die erneut nur gegen große Widerstände durchgesetzt werden konnten: die Möglichkeit der Verlängerung der Dienstzeit von Wehrpflichtigen, der Einsatz von Wehrpflichtigen auch außerhalb der westlichen Hemisphäre sowie vor allem die Aufhebung jeglicher Obergrenzen für die Streitkräfte. Um zu vermeiden, dass Hitler den Atlantik kontrollieren und damit die Verteidigungsinteressen der USA gefährden konnte sowie durch die nicht abreißende Versenkung amerikanischer Frachtschiffe wurden die USA nun gezwungen, den Geleitschutz des zivilen Schiffsverkehrs nach und nach zu erweitern. Als Roosevelt noch immer hoffte, Japan zu zügeln und sein Land Schritt für Schritt auf den Krieg vorzubereiten, war schließlich der katastrophale Zwischenfall Pearl Harbor die Eintrittskarte, ein geeintes Volk in den Krieg zu führen. Roosevelt hatte den richtigen Moment abwarten können, der Kriegseintritt wurde provoziert durch feindliche Aggression und nicht durch sein präsidiales Verhalten.

 

Die letzten beiden Kapitel des Buches sind wieder Hitler-Deutschland gewidmet. Zunächst thematisiert Kershaw die Kriegserklärung an die USA. Die Vereinigten Staaten von Amerika waren mit Kriegsbeginn und noch bis Ende 1940 zwar nicht als unmittelbarer Gegner, jedoch als feindliche Macht angesehen, die im Gegensatz z. B. zur Sowjetunion nicht von ideologischer sondern von strategischer Relevanz war. Die noch unbedeutende Rüstungsproduktion sowie eine offensichtliche Politik des Isolationismus ließen aus deutscher Sicht einen baldigen Kriegseintritt als unwahrscheinlich erscheinen. Trotzdem wurde die Frage, wie man den USA begegnen sollte aufgrund deren zunehmenden materiellen Unterstützung immer mehr virulent. Hitler forderte nun unter Zuhilfenahme Japans einen schnellen Sieg gegen die Sowjetunion, um einen baldigen Kriegseintritt der USA im Atlantik zu verhindern. Den japanischen Angriff auf Pearl Harbor empfand er so als Befreiung sah er die USA nun für lange Zeit auf dem Kriegsschauplatz im Pazifik gebunden. Als aber die USA zunehmend auch ihre militärischen Anstrengungen im Atlantik verstärkten, wurden Überlegungen angestellt, wie man dem nun neuen Gegner begegnen konnten. Hitlers Denken spiegelt sich dabei in Aussagen wie von Ribbentrop wider: „Eine Großmacht lässt sich nicht den Krieg erklären, sie erklärt ihn selbst“ oder dahingehend, wie man einem Gegner den Krieg erklären sollte, von dem man nicht wusste, wie man ihn niederwerfen und besiegen sollte.

 

Die Gründe für Hitlers Entscheidung, den USA am 11. Dezember 1941 den Krieg zu erklären gibt bis heute Anlass zu Spekulationen, ist aber laut Kershaw einfach zu erklären. Hitler nahm das Unvermeidliche vorweg und wollte die USA im Zaum halten, bevor es seine volle wirtschaftliche und militärische Macht entfalten konnte. Im Hochgefühl des japanischen Angriffs war die deutsche Kriegserklärung die logische Folge. Auch, so Kershaw, hatte Hitler aufgrund der ihm vorliegenden Lageberichte keine anderen zweckmäßigen Alternativen: Fehlprognosen über den amerikanischen Rüstungstand sowie eine Überschätzung der Bedeutung des Pazifiks in den strategischen Überlegungen der USA. Auch wäre Roosevelt durch die immer aggressiver werdende U-Bootskriegsführung der Deutschen Marine früher oder später zu einer Ausweitung des militärischen Konflikts mit Deutschland gezwungen worden, mit der wahrscheinlichen Folge einer formellen Kriegserklärung von Seiten der USA. Somit war, so der Autor, Hitlers Entscheidung weniger schicksalsbehaftet, die über das Wohl und Wehe der deutschen Bevölkerung entschieden hat, sondern eher konsequent. Die Folgen sind bekannt. Das amerikanische Militärpotential mit der britischen Widerstandskraft schuf die Voraussetzungen für die lange herbei gesehnte zweite Front im Westen, der es schließlich der Roten Armee ermöglichte von einer strategischen Defensive in die Offensive überzugehen.

 

Das letzte Kapitel beschäftigt sich wohl mit einer der weittragendsten Entscheidung der Weltgeschichte überhaupt, die an Skrupellosigkeit nicht zu übertreffen ist: Der Genozid an den Juden, der ca. sechs Millionen Tote zur Folge hatte. Der Holocaust war eine fast logische Folge der ideologischen Grundlagen, auf denen Hitlers Herrschaft beruhte. Die eine Führer-Entscheidung zur Ermordung der Juden gab es dabei nicht. Nach vorheriger Ausgrenzung gingen die Nationalsozialisten bereits mit Kriegsbeginn von der Verfolgung zur physischen Vernichtung der Juden über. Je weiter sie den Krieg ausdehnten, desto mehr radikalisierten sie ihre „Judenpolitik“. Wie mittlerweile allgemein anerkannt, war der Holocaust ein geradliniger, im Wesentlichen von politisch-ideologischen Triebkräften bestimmter Weg in den organisierten Massenmord, gestützt durch ein System, in dem jeder jeden überwachte aber irgendwie jeder doch nicht wusste oder wissen wollte, was der andere machte. Die Entscheidung zur Judenvernichtung ist nach Kershaw absolut irrational. So logisch und stringent im Rückblick der Weg in den Holocaust auch verlaufen sein mag, die grausame Umsetzung entbehrt jeglicher Rationalität.

 

Laut Kershaw gab es somit aufgrund der Stringenz des Antisemitismus auch keine Alternativen, lediglich bei den Tötungsmethoden waren Alternativen denkbar. Diese Abgrenzung zu den anderen „Wendepunkten“ zeigte sich auch noch in einem anderen Aspekt: Die Judenvernichtung galt als absolutes Staatsgeheimnis, über das nach langen Diskussionen nur unter hohen Entscheidungsträgern entschieden wurde. Mündliche Befehle und eine ausgeklügelte Tarnsprachen belegen dies. Nachdem der Kriegsschauplatz Polen mit seiner mehrheitlich jüdischen Bevölkerung als Experimentierfeld für den Genozid genutzt wurde, begann mit der Operation Barbarossa der eigentliche ideologisch begründetet „Vernichtungskampf“. Durch den Einsatz von Einsatzgruppen radikalisierte sich die Gewalt gegen die Juden (siehe Besatzungspolitik und Massenmord). Spätestens im Herbst 1941 war allen Beteiligten klar, dass mit der „Endlösung“ die physische Vernichtung aller Juden verbunden war. Nun griff ein Rädchen in das andere, mit der Einführung der mobilen Gaswagen und der Gaskammern wurde der traurige Höhepunkt erreicht.

 

Die Entscheidung über die Methode wurde in der berüchtigten Wannseekonferenz am 20. Januar 1942 getroffen, als unter der Leitung des Chefs des Reichssicherheitshauptamtes, Reinhard Heydrich, die organisatorische und technische Vorbereitung des Genozids getroffen wurde. Obwohl, und dieser Aspekt wird von Kershaw nachhaltig unterstrichen, sowohl Heydrich auch als sein Vorgesetzter, SS-Chef Himmler als die „Architekten des Genozids“ bezeichnet werden, steht heute außer Zweifel, dass ein Verbrechen mit so monströsen Dimensionen nur durch den Mann an der Spitze des NS-Regimes, den „Führer“ Adolf Hitler autorisiert worden sein konnte. Nachdem diese „Ermächtigung“ einmal erteilt war, wurde eine Prozess in Gang gesetzt, ja eine Lawine ausgelöst, die aufgrund der vernetzten Strukturen des Systems nicht mehr zu stoppen war - und für die es so Kershaw eigentlich keine Alternative gab.

 

Natürlich kann man streiten, warum Kershaw genau diese zehn Aspekte in genau diesem eingeschränkten zeitlichen Rahmen als die Wendepunkte des Zweiten Weltkriegs bezeichnet. Aber auch bei mir wurde aus anfänglicher Skepsis Überzeugung, da plausibel aufgezeigt wird, wie die hier getroffenen Entscheidungen Ausgangspunkt für Entscheidungen / Verläufe zu späteren Zeitpunkten des Krieges waren. Kershaw macht an vielen Stellen zu Recht deutlich, dass die von ihm thematisierten Entscheidungen weder vorbestimmt noch zwangsläufig waren, sondern das jeweilige politische System widerspielgelten. Während in den demokratischen Systemen viel diskutiert und abgewogen wurde, die Entscheidung quasi reifen musste, wurde in den faschistisch-autoritär geführten Ländern durch die Allmacht der Herrscher oftmals dynamisch und entgegen dem Ratschlag des persönlichen Environments intuitiv entschieden. Auch wenn natürlich die „Wendepunkte“ so vor allem wesentlich von den Entscheidungsträgern abhingen, waren doch alle Aktionen von nur schwer beeinflussbaren Determinanten bestimmt, z. B. die Kapazitäten der Rüstungswirtschaft, die die Mobilisierung aller notwendigen Ressourcen bestimmte, die Aktionen und Reaktionen der Gegner (siehe z. B. USA gegen Japan) oder aber auch die jeweilige Bürokratie, die die Entscheidungen umsetzen sollte, aber bekanntermaßen jegliche Dynamik ausbremsen oder eine Eigendynamik entwickeln konnte. Die gegenseitige Abhängigkeit zwischen individueller Entscheidung und Handelns sowie unbeeinflussbaren äußeren Größen bildete die Grundlagen für die jeweils getroffenen Entscheidung.

 

Kershaw hat erneut ein sowohl inhaltlich als auch stilistisch hervorragend zu lesendes und interessantes Buch verfasst. Auch wenn er im Prinzip die Einzelthemen analysierend nichts wesentlich Neues erzählt; die Art wie er den Stoff vermittelt und insbesondere das Aufzeigen der Interdependenzen der verschiedenen „Wendepunkte“, die wohl alleine für sich betrachtet gar nicht die bekannten Konsequenzen gehabt hätten, gebühren Respekt. Obwohl z. B. über Hitler, Churchill, Stalin und den anderen Protagonisten bereits unzählige Biografien verfasst wurden, gelingt es Kershaw, bereits bekannte Aspekte in ein neues Licht zu stellen und vor allem plausibel zu erklären - dies alles in einem jederzeit sachlichen und trotz der Komplexität des Themas leicht verständlichen Lesestil.

 

Fazit: Das absolut empfehlenswerte Buch bereitet insgesamt trotz des Umfangs ein außerordentlich kurzatmiges Lesevergnügen und eine neuen Perspektive auf den Zweiten Weltkrieg.

 

Andreas Pickel

4/5 Sterne
4/5 von 5

© 2009 Andreas Pickel, Harald Kloth