Ian Kershaw

Hitlers Freunde in England

Lord Londonderry und der Weg in den Krieg

Hat das Buch von Jörg Friederich Der Brand, der die Bombardierung deutscher Städte durch vor allem britische Bomber mit dem Holocaust verglich, noch einen Sturm der Entrüstung in England und einen deutsch-britischen Historikerstreit ausgelöst, bleibt das Echo nach einem nicht minder aufsehenerregenden Buch über das deutsch-britische Beziehungsgeflecht in der Vorphase des Zweiten Weltkrieges vergleichsweise ruhig: Britische Adlige sollen Sympathie für die nationalsozialistischen Machthaber gehegt und offen deren Kontakt gesucht haben.

 

Autor dieses brisanten Buches ist Ian Kershaw der britische Zeithistoriker und Bestsellerautor der zweibändigen Hitler-Biografie Hitler, mit Joachim Fest der vielleicht renommierteste Kenner Hitler-Deutschlands.

 

Ende Mai 1936 besucht der spätere Chef des Auswärtigen Amts Ribbentrop den Adeligen Charles Stewart Henry Vane-Tempest-Stewart, der siebte Marquess von Londonderry, und schenkt ihm eine Porzellanfigur eines SS-Mannes. 55 Jahre später entdeckt Kershaw diese Figur auf dem Familiensitz der Londonderries und beginnt nach Beendigung seiner Hitler-Biografie intensive Nachforschungen über die Zusammenhänge dieses Geschenkes anzustellen - aus einem ursprünglich beabsichtigten kurzen Artikel wird ein über 400 Seiten dickes Buch.

 

Wie kam es dazu, dass offensichtlich britische Adelige, allen voran Lord Londonderry, immerhin bis 1935 Luftfahrtminister, bewusst Kontakt zu den nationalsozialistischen Eliten hielten, die später als Kriegsverbrecher verurteilt und hingerichtet wurden?

 

Im ersten Teil des Buches legt Kershaw zunächst das Bild des NS-Regimes in der britischen Öffentlichkeit, in den Medien und der Regierung dar. Dabei zeigt er auf, dass es Hitler gelang, trotz innenpolitischer Säuberungen, illegitimer Aufrüstung und Wiedereinführung der Wehrpflicht und den Einmarsch in das Rheinland, auch das britische Establishment über seine wahren Absichten zu täuschen, in Teilen zu polarisieren und insgesamt von allen Seiten unterschätzt wurde. Vielleicht wollte man aber auch bewusst die wahren Absichten nicht erkennen, war doch der Wunsch nach Verständigung groß. Dieser Wunsch basierte auf eine gewisse Verunsicherung unter den Adligen, hervorgerufen durch die noch präsenten Schreckensbilder des Ersten Weltkrieges, die jeden Gedanken an einen neuerlichen Krieg verdrängten, die immer stärker werdenden Probleme des britischen Empire in seinen Kolonien und innenpolitisch dem zunehmenden Aufstieg der Labour Partei, die am britischen Establishment und der alten Ordnung rüttelte. Darüber hinaus hatte man ein gewisses Schuldbewusstsein gegenüber den Deutschen, war man doch der Überzeugung, dass ihnen mit dem Versailler Vertrag Unrecht geschehen sei. Zusammen mit einem zumindest unterschwelliger Antisemitismus in diesen Kreisen ein guter Nährboden für Hitlers Vertuschungspolitik.

 

Der Hauptakteur des Buches, Lord Londonderry, von 1931 bis 1935 Luftfahrtminister, verfolgte mit seiner Politik zwei Absichten: Einerseits die Wiedereinbindung Deutschlands in die laufenden Abrüstungskonferenzen und zum zweiten den weiteren Aufbau der königlichen Luftwaffe (Aufrüsten bei gleichzeitiger Bereitschaft zu Verhandlungen). Doch sein Handeln war zum Scheitern verurteilt, wurde er doch stattdessen mit Etatkürzungen konfrontiert, während gleichzeitig Deutschland immense Anstrengungen in den Aufbau ihrer Luftflotte steckte. Als man ihm paradoxerweise vorwarf, dagegen nichts unternommen zu haben und das deutsche Militärpotential unterschätzt zu haben, folgte im Juni 1935 prompt seine Demission.

 

Brüskiert durch diese Entscheidung wurde er nun zunehmend ein blühender Verehrer Nazi-Deutschlands und man gab man sich von da ab bei vielen gegenseitigen Besuchen die Klinke in die Hand.

 

Doch, so Kershaw, basierten diese permanenten Kontakte auf einem doppelten Missverständnis . Die Nationalsozialisten sahen in Londonderry einen auf die britische Regierung einflusshabenden Adligen, was er aber de facto zu diesem Zeitpunkt nicht mehr war, während Londonderry immer noch auf eine Verständigung mit Deutschland hoffte, und sich so wieder als der Heilsbringer in das rechte Bild er britischen Öffentlichkeit rücken wollte. Dies bekräftigte er auch durch die Herausgabe eines Buches mit dem Titel Ourselves and Germany (England blickt auf Deutschland), indem er noch 1938 für eine Verständigung zwischen Deutschland und England warb, wovon er eines der ersten Exemplare mit einem Begleitschreiben direkt an Hitler schickte.

 

Doch nicht nur Londonderry schwamm auf dieser Verständigungswelle, auch andere Adlige suchten immer wieder den Kontakt zu Nazi-Größen und selbst Neville Chamberlain, seit Mai 1937 Nachfolger von Stanley Baldwin als Premierminister, übersah selbst noch beim Münchner Abkommen 1938 die wahren Absichten Hitlers - die britische Appeasementpolitik ereichte seinen Höhepunkt.

 

Erst mit dem Einmarsch Deutschlands in Prag zerplatzte die Seifenblase und rief allseits, nun auch bei Lord Londonderry, blankes Entsetzen hervor. Der weitere unausweichliche Weg in den zerstörerischen Zweiten Weltkrieg ist bekannt.

 

Lord Londonderrys Rechtfertigungsversuche blieben bis zu seinem Tode 1947 ungehört. Er war und blieb der gesuchte Sündenbock der Gesellschaft für die jahrelangen Fehleinschätzungen gegenüber der Person Hitlerer stand im Abseits (so der Titel des letzten Kapitels). Lord Londonderry gilt als das statuiertes Exempel für die Hilflosigkeit Großbritanniens im Umgang mit Hitler.

 

Ich kann dieses Buch nachhaltig empfehlen, auch weil es Ian Kershaw in glänzender Art und Weise gelingt, seinen eigenen Landsleuten den Spiegel vor das Gesicht zu halten. Nicht umsonst wurde dieses Buch mit dem Originaltitel "Making Friends with Hitler: Lord Londonderry and Britain's Road to War" mit dem in England hoch angesehenen Elizabeth Longford Historical Biography Preis ausgezeichnet.

 

Fazit: Insgesamt ein hochinteressant zu lesendes Buch, pointenreich, teils spannend erzählt, was eine bisher noch nicht bekannte Facette der Appeasement-Politik aufdeckt.

 

Andreas Pickel

5 Sterne
5 von 5

© 2005 Andreas Pickel, Harald Kloth