Johannes Willms: Der Mythos Napoleon

Verheißung, Verbannung, Verklärung

Stuttgart ; Klett-Cotta ; 2020 ; 384 Seiten ; ISBN: 978-3-608-96371-7

 

Cover Johannes Willms: Der Mythos Napoleon
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Nach seinen hochgelobten Napoleon Biographien von 2005, die übrigens seinerzeit die erste seiner Art eines deutschen Geschichtswissenschaftlers seit 100 Jahren war, und 2008, sowie dann aktualisiert 2019, widmet sich der renommierte Historiker und Frankreichkenner Johannes Willms anlässlich des 200. Todestages auch in seinem neuesten Werk dem wohl bekanntesten französischen Kaiser und ergründet dieses Mal explizit seinen Mythos und sein Wirken bis in die heutige Zeit.

 

Um es vorwegzunehmen, wer mit dem Buch die Erwartung verbindet, Napoleons Spuren vom Anfang bis zum Ende, von Korsika bis Sankt-Helena, zu folgen, der liegt hier falsch und sollte sich da vielmehr eine der aktuellen Biographien Napoleons zu Gemüte führen. Für das Gesamtverständnis des „Mythos Napoleon“ ist es allerdings wiederum hilfreich, sich vorab einmal mit dem Leben, dem militärischen und politischen Wirken des Kaisers beschäftigt zu haben. Nur so kann man den bewusst vollzogenen inhaltlichen und zeitlichen Sprüngen des Autors folgen.

 

Willms folgt auch in seinem neuesten Werk strikt seiner Sichtweise, dass nicht nur das außenpolitische, sondern auch das innenpolitische Erbe Napoleons völlig überstilisiert wird. Auch wenn der Autor sich fast ausschließlich auf die zentrale Rolle Napoleons im Machtgezerre um die Hegemonien fokussiert und dabei andere „Kriegstreiber“ vernachlässigt, außenpolitisch und militärisch unterstreicht wird deutlich, dass für ihn Napoleons Ziele weniger kühn als vielmehr konzeptlos waren. Dies führte letztendlich zu seinem Scheitern. Innenpolitisch war er es nicht, der durch sein Handeln und seine Gesetze für liberale Verhältnisse in Frankreich sorgte, sondern hat sogar eher dagegen gearbeitet. Selbst 1815, als er als der große Retter Frankreichs gefeiert aus seinem Exil auf Elba nach Paris zurückkehrte, zeigte das Plebiszit über den „acte additionnel aux constitution de l`Empire“, dass das Volk dem Herrschaftsanspruch Napoleons und seinen Vorstellungen von Liberalismus die Legitimation verweigerte. Erst seine „Strafabschiebung“ auf Sankt Helena führte letztendlich dazu, sich selbst als die „Inkarnation“ der Revolution und freiheitlicher Grundätze zu proklamieren.

 

Auf mehr als dreihundert Seiten nähert sich Willms in drei größeren Kapiteln dem Phänomen an: "Der Mythos", also wie es ihm durch überwiegend militärische Erfolge gelang, seinen Mythos zu gründen, "Das Evangelium", also wie Napoleon auf St. Helena sich durch retrospektive Sichtweisen auf sein Wirken zum Messias erklärte sowie "Die Apotheose ", also seine Verherrlichung bis heute. Willms will damit gemäß seinem Vorwort auf Basis von über 30 Jahre Forschung ergründen, warum sich die (kontroverse) Faszination Bonapartes bis in die heutige Zeit hält.

 

Im ersten und umfangreichste Teil ergründet der Autor mit viel Detailliebe Napoleon als den „Revolutionär“, den „Politiker“, den „Spieler“ und den „Heiland“. Anhand ausgewählter Schlachten und politischen Konflikten stellt er den Aufstieg Napoleons bis zu seiner Rückkehr aus Ägypten im Herbst 1799 dar. Bedeutsam so Willms waren hier vor allem bereits die 4 Monate als Oberbefehlsheber der „Armée de l`intérieur“, als er den Aufstand vom „13 Vendémiaire“ niederschlug und aufgrund dieser Meriten dann zum Chef der Italienarmee berufen wurden. Dort gelang es ihm als „soldiers´soldier“ schnell Respekt und Vertrauen in seine Führungsqualitäten zu gewinnen. Gerade durch den Sieg von Lodi, welcher sogar laut dem berühmtesten deutschen Kriegsphilosophen und Militärtheoretiker Clausewitz zu Erstaunen in ganz Europa führte und nach der Napoleon die gesamte Lombardei mit Mailand beherrschte, und vor allem durch die siegreiche Schlacht von Arcole, als mehr noch als nach Lodi sein strategisches Geschick und seine heroischen Taten propagandistisch herausgestellt wurden, wurde sein Mythos des genialen Strategen geboren. Wie Willms so nachdrücklich beschreibt, durch die mit Glanz und Gloria absolvierte „Lehrzeit“ in Italien und den Siegen auf den Schlachtfeldern in Norditalien wollte Napoleon die Macht über Frankreich erringen („manoeuvre par les derrières“) und sich über den in Schlachten siegreichen Helden als Staatsführer ins Spiel bringen. Als sich Anfang Oktober 1799 die Nachrichten über den Sieg Napoleons über eine türkische Armee in Abukir (Ägypten) von bereits Ende Juli mit seiner Ankunft in Südfrankreich und seiner Rückkehr nach Paris kumulierten, gab dies seinem Mythos einen weiteren Anstoß. Als dann insbesondere das 5-köpfige Direktorium, welches die Geschicke Frankreichs seit 1795 lenkte, nicht so agierte, wie er wollte, stürzte er es schließlich am 9. November 1799 und ließ sich zum Ersten Consul wählen.   

 

Nach der verlorenen Völkerschlacht bei Leipzig im Oktober 1813 und dem (Abdankungs-)Vertag von Fontainebleau wurde Napoleon als Exilort die Herrschaft über die Insel Elba zugesprochen. Laut Willms eine Idee des Zaren Alexander und eine nahezu groteske Dummheit, den gescheiterten Kaiser Nahe Frankeich und Nahe seinem Ort erster militärischer Erfolge, Italien, ruhig stellen zu wollen. Die weitere Geschichte bis Waterloo ist hinlänglich bekannt. Nach dieser Niederlage war eigentlich das Ansehen Napoleons vor allem auch in Frankreich zerstört. Im zweiten Teil stellt Willms nun dar, wie es dem gestürzten und durch seine eigenen Generale zum Abgang gezwungenen und damit gedemütigten Bonaparte gelang, sich am Ort seiner Verbannung Dank der Zusammenarbeit mit Las Cases mit dem „Mémorial de Sainte-Hélène" selbst ein Denkmal zu setzen und unmittelbar nach seinem Ableben einen nie erwarteten Kult in Gang setzte, der in Überführung seiner Gebeine in den Pariser Invalidendom im Dezember 1840 gipfelte. Dies führte, so der Autor, zur Wiederauferstehung Napoleons in Frankreich („Die Apotheose“). Das heißt, Napoleon konterkarierte so die eigentliche Absicht der siegreichen Nationen, ihn als gescheiterten Staatsführer auch für die Nachwelt aufs Abstellgleich zu stellen.

 

Nach Elba nun also die weit von Frankreich liegende Atlantik-Insel St. Helena als Ort der Verbannung. Besonders amüsant sind im zweiten Teil die Beschreibungen über das Leben auf St. Helena. Wie schrieb Heinrich Heine 1827 so schön: Sankt Helena ist das Heilige Grab wohin die Völker des Orients und des Okzidents wallfahren in buntbewimpelten Schiffen, und ihr Herz stärken durch die große Erinnerung an die Taten des weltlichen Heiland (=Napoleon), der gelitten unter Hudson Lowe, wie es geschrieben steht in den Evangelien Las Cases, O`Meara (ein aus Irland stammender englischer Marinearzt) und Antommarchi (Ideen. Das Buch Le Grand). Für Willms waren die eigentlich "Evangelisten" und Leidensgenossen der Baron de Gourgaud, der Comte de Bertrand, der Comte de Montholon und eben vor allem der Comte Las Case, die alle, einschließlich Napoleon das Leben dort als unerträglich und absolut unwürdig empfanden, ja sogar als Martyrium beschreiben. Hinzu kam, dass drei seiner Leidensgenossen ihm aus rein wirtschaftlichen Gründen folgten oder besser folgen mussten.

 

Aus wirklicher Treue folgte ihm nur der Baron de Gourgaud. Dessen krankhafte Eifersucht auf die anderen Mitglieder der Entourage führte nicht nur zu ständigen Streitereien bis zu Duellforderungen, sondern auch zu Napoleons Aufforderung, er möge sich eine Kugel geben. Schließlich mußte de Gourgaud die Insel bereits 1818 verlassen. Dem Leibkoch gelang es durch miserables Kochen am einfachsten, dem Gefängnis zu entkommen. Für alle anderen kam die Erlösung erst mit Napoleons Tod am 5. Mai 1821. Äußerst erstaunlich, wenngleich von intimer Kennerschaft zeugend, ist Willms' Feststellung, Napoleon habe seinen Tod als Erlösung "erlebt".

 

Napoleon und sein Gefolge residierten in Longwood House, das zuvor zeitweise als Pferdestall und Scheune gedient hatte. Wie am Kaiserlichen Hof in Paris waren auch die Gepflogenheiten dort unverändert eines Monarchen würdig, so war es niemandem gestattet zu sprechen, wenn der Kaiser ihn nicht angeredet hatte, durfte sich niemand in Gegenwart Napoleons ohne Erlaubnis setzen, eine besondere Herausforderung, wenn Napoleon abends fünf bis sechs Stunden Schach spielte und dem alle beiwohnen mussten. Hier diktierte er seinen Begleitern seine Memoiren, seine Sicht der historischen Entwicklungen, die den Realitäten größtenteils wiedersprachen, so dass aus dem eigentlich Verschmähten ein Märtyrer wurde.

 

Willms - seit 1997 „Chevalier dans l'Ordre des Arts et des Lettres“ (Der Orden wird verliehen an „Personen, die sich durch ihr Schaffen im künstlerischen oder literarischen Bereich oder durch ihren Beitrag zur Ausstrahlung der Künste und der Literatur in Frankreich und in der Welt ausgezeichnet haben“) kennzeichnet die Herrschaft Napoleons als von den außenpolitischen Erfolgen getragen und innenpolitisch, zwar durch das Volk legitimiert, so umrahmt, dass es allerdings Demokratie verhinderte. Das Gleichheitspostulat der Revolution, so Willms, zu dem sich Napoleon bekannte, widersprach die „Noblesse de l`Empire“. Das Volk sollte willenlos gleichförmig regierbar sein, die Verweigerung demokratischer Partizipation sollte durch einen Volksbeschluss plebiszitär legitimiert werden. Zunächst ordnete Napoleon seinen auf den Schlachtfeldern erworbenen Heldenstatus immer seinen politischen Absichten unter, militärische Siege waren nur das Vehikel für mehr. Sobald er sich aber an die Spitze Frankreichs gehievt hatte, sollten ihm die militärischen Erfolge nur noch dazu dienen, seine Macht über ganz Europa auszuweiten. Diese Umkehrung führte schließlich zu seinem Untergang. Napoleon, so Willms wurde vielerorts in Europa verehrt, da die Beseitigung des Absolutismus für viele Menschen zu einer Verbesserung ihrer Lebensumstände geführt hatte und viele erwarteten von seinen siegreichen Kriegen die Erfüllung des alten europäischen Traumes vom ewigen Frieden … aber dies scheiterte kläglich.

 

Dafür gab es aber für Napoleon eine Rechtfertigung wie er einem seiner „Evangelisten“ diktierte: er steckte in einem Dilemma, der Zwang, demokratisch Handeln zu müssen wurde extern gesteuert von der „Heiligen Allianz“ (Bündnis aus Österreich, Russland, Preußen), welche die im Zuge der Revolution gewonnenen Prinzipien „liberté - egalité – fraternié“ zerstören wollten und innenpolitisch sollte das Volk erst lernen, mit diesen Prinzipien geordnet umzugehen, um eine Anarchie zu verhindern, die diese ebenso zerstört hätte. 

 

Die These von Johannes Willms ist schlüssig: Am Ende seiner Herrschaft habe Napoleon als Feind Europas, als Despot und Unterdrücker der Völker gegolten, aber die Verbannung nach St. Helena wurde zu seiner Apotheose.

 

In der Darstellung und Ableitung und damit Korrektur der bisherigen Mythen über Napoleon liegt die wesentliche Leistung des Buches - die Selbsterfindung Napoleons in der Umdeutung seines Wirkens durch das „Mémorial de Sainte-Hélène". Frei nach Chateaubriand, dass Napoleon zu Lebzeiten die Welt verfehlt hätte aber sie dann als Toter besaß, konnte Napoleon in seiner Selbstdarstellung nicht so handeln, wie er wollte, nicht vorhersehbare Risiken verhinderten dies und er im Grunde zum Despoten werden „musste“. Somit war der Weg frei für die „Heiligsprechung. St. Helena ist heute für die Franzosen ein „Lieu de Mémoire“, ein identitätsstiftender Ort. Willms gelingt es hervorragend, Art und Umfang der komplexen Einflüsse Napoleons für Europa und vor allem Frankreichs darzustellen – eigentlich weniger, als viele meinen - und liefert plausibel den Grund, warum es bei Napoleon kein „sowohl, als auch“ gibt, sondern nur ein schwarz-weiß geprägtes „entweder … oder“, entweder man liebt und verehrt ihn oder man hasst und lehnt ihn ab. 

 

Fazit: Auch wenn Willms nichts wesentlich Neues präsentiert, ist das vorliegende Werk eine glänzende Analyse und zusammenfassende Darstellung, aufgelockert durch viele nette Zitate, seiner drei Jahrzehnte währenden Beschäftigung mit Napoleon.

 

Andreas Pickel

4/5 Sterne
4/5 von 5

© 2021 Andreas Pickel, Harald Kloth, Cover: Copyright © Klett-Cotta-Verlag

 

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