Beat Stauffer: Maghreb, Migration und Mittelmeer

Die Flüchtlingsbewegung als Schicksalsfrage für Europa und Nordafrika

Zürich ; NZZ Libro ; 2019 ; 320 Seiten ; ISBN 978-3-03810-363-9

 

Seit 2015 die Flüchtlingswelle auf den europäischen Kontinent überschwappte und auch die Aufnahmekapazitäten selbst eines so reichen Landes wie Deutschland überstrapazierte, wurden von Seiten der Europäischen Union sowie der deutschen Bundesregierung unzählige Maßnahmen getroffen, um die „Welle“ in geordnete Bahnen zu lenken, ohne die eigentlichen Ursachen zu bekämpfen. Auch wenn mittlerweile sehr viel für die Verteilung und Integration der Flüchtlinge gemacht wird, verhindert eine halbwegs einheitliche Linie der europäischen Staaten eine nachhaltige Linderung der Situation, von Lösung will ich gar nicht sprechen, dass diese Menschen überhaupt in so großer Zahl zu uns kommen. Viele Lösungswege beginnen auch erst dann, wenn die Flüchtlinge auf Booten den afrikanischen Kontinent verlassen oder bei uns auf illegale Weise ankommen, anstelle sich nun wirklich einmal intensiv damit zu beschäftigen, warum Menschen sich unter Lebensgefahr und menschenunwürdigen Verhältnissen auf den beschwerlichen Weg nach Europa machen, manche sind zwei Jahre und mehr unterwegs, und was man dagegen tun kann.

 

Auch werden meist alle Flüchtlinge „über einen Kamm geschoren“ als wirklich zu differenzieren zwischen denen, die wirklich unsere Hilfe bedürfen, weil Leib und Leben bedroht sind und denjenigen, die sich in Europa lediglich ein besseres Leben versprechen. Aber auch diese Gründe kann und darf man nicht so einfach vom Tisch wischen. Da tut es gut, mit „Maghreb, Migration und Mittelmeer" endlich einmal ein Buch in den Händen zu halten, welches die Situation aus dem Blickwinkel der betroffenen Länder beschreibt und auch und insbesondere den Betroffenen selbst eine Stimme gibt.

Beat Stauffer, seit 1988 als freischaffender Journalist tätig, gilt aus ausgewiesener Experte der Materie. Seit Mitte der 90er Jahre beschäftigt er sich mit dem Thema der Migration aus dem Maghreb sowie ganz allgemein mit den Themen Islamismus und Dschihadismus. Dazu ist er mehrfach pro Jahr für längere Zeit im Maghreb (Maghreb umfasst die nordafrikanischen Länder Libyen, Tunesien, Marokko, Algerien sowie Mauretanien), um sich selbst ein Bild von der Situation vor Ort und den Veränderungen dort zu verschaffen.

Beat Stauffer gilt als absoluter Kenner der immer noch fragilen Region. Seine Eindrücke aus unzähligen Reisen in die Länder des Maghreb sowie seine zahlreichen Begegnungen mit den Protagonisten vor Ort, teils auch mit hier weitestgehend unbekannten „Strippenzieher“ im Hintergrund, aber auch sein Gespür für Land und Leute hat er in einem beeindruckenden Buch zu Papier gebracht. Frankreich war über 100 Jahre Kolonialherr der Maghreb Staaten, französisch ist dort neben arabisch die Zweitsprache, so dass Literatur über diese Region überwiegend nur auf Französisch erhältlich war. So gesehen öffnet uns im deutschsprachigen Sprachraum dieses Buch den Zugang zu dieser faszinierenden aber auch problembehafteten Region. Anlass war die Flüchtlingskrise, in der die Maghreb Staaten eine Schlüsselfunktion als Auffang-, Sammel- und Transitland für Migranten aus Ländern südlich der Sahelzone einnehmen, aber auch weil viele gerade junge Menschen aus diesen Ländern sich selbst in unverändert hoher Zahl auf den Weg nach Europa machen.

 

Im Mittelpunkt des Buches steht die irreguläre Migration, die seit Etablierung des Schengener Abkommens Anfang der 90er Jahre ein permanentes Thema ist und weiter bleibt. Ziel des Buches ist es, den auf Seiten der Europäischen Union immer noch völlig unkoordiniert verlaufenden Zustrom von Flüchtlingen und Migranten nachzuzeichnen, an dem Beispiel der Maghreb Staaten die Ursachen zu analysieren und Lösungsmöglichkeiten zu skizzieren. Dabei geht es dem Autor ausschließlich um die sogenannten Wirtschafts- und nicht Kriegsflüchtlinge. Es wäre zu komplex, diesen Aspekt auch noch in einem einzigen Buch zu betrachten, ohne dabei schon rein quantitativ an der Oberfläche bleiben zu müssen.

Der Autor gibt zunächst einen für ein derartiges Buch notwendigen historischen Abriss. Während man bis in die späten 80er Jahre (Arbeits-)Migranten nicht nur duldete, sondern in großem Stile aktiv rekrutierte, um den Bedarf an einfachen und billigen Arbeitern zu decken, wurde die legale Migration ab Juni 1990 mit dem 2. Schengener Abkommen (damit wurde ganz Nordafrika von der Personenfreizügigkeit ausgenommen) unmöglich gemacht. Die Folge war der Beginn einer unkoordinierten illegalen Migration und 15 Jahre später lebten zum Beispiel schon ca. eine halbe Million Marokkaner gesetzeswidrig alleine in Spanien. „Harraga“ nennt man die jungen Männer aus dem Maghreb, die ihr Land illegal Richtung Europa verlassen, die sich plakativ in die drei Motivgruppen „Glückssucher, Abenteurer („Demonstration von Männlichkeit und Mut“) sowie Desperados“ differenzieren lassen. Die Suche nach Arbeit, aber auch nach Freiheit ist der Antrieb, um das Leben in der empfundenen Perspektivlosigkeit zu verlassen. Dies gilt gleichermaßen für die meisten Migranten aus den Sahelstaaten, die seit der Schließung der klassischen „Transitrouten“ in den Maghreb Staaten quasi steckenbleiben.

Im Schwerpunkt befasst sich der Autor mit Tunesien und zieht daraus Parallelen zu den beiden anderen ähnlich gearteten Ländern, Algerien und Marokko (in Libyen sowie Mauretanien ist die Situation unterschiedlich). Tunesien gilt als das Musterbeispiel des „Arabischen Frühlings“ von 2011, die Etablierung eines parlamentarischen Pluralismus, Gleichstellung der Frauen sowie das Recht auf freie Meinungsäußerung oder auch Versammlungsfreiheit suchen seinesgleichen in der arabischen Welt. Trotzdem hat es auch immense Probleme, gerade den jungen Menschen Perspektive zu vermitteln und eine Herausforderung dabei scheint gerade dieses Gemenge oder besser Zwiespalt aus traditionellem Arabismus und europäischer Moderne zu sein. Negativ unterstützend ist dabei auch die nachgewiesen immens hohe Zahl an Schulabbrechern und Analphabeten, die am regulären Arbeitsmarkt nur schwer zu vermitteln sind.

 

Nach der Schließung der Route über Libyen ist heute Tunesien der neue zentrale Startpunkt für die beschwerliche Seereise nach Europa. Sehr detailliert stellt Stauffer in seinem Buch die tägliche Arbeit der Schlepper nach, ein immer noch sehr erträgliches Geschäft – in der Gegend noch lukrativer wie Drogen- oder Benzinschmuggel. Andererseits wird in den Beschreibungen der Situation vor Ort deutlich, wie die ausgenutzten Migrationswilligen hart erspartes Geld gegen Elend tauschen. Blockiert man aber das Schlepperwesen wirkungsvoll, verlieren viele auch dort noch ihre Existenzgrundlage. Ähnlich wie mit der Zerstörung der Opiumfelder in Afghanistan muss man, so paradox das klingt, auch den vermeintlichen (Straf-)tätern Perspektive anbieten, sonst radikalisieren sie sich anderweitig.

Vielen Menschen bei uns ist nicht bewusst, dass sich Millionen von Menschen vom afrikanischen Kontinent und aus den Kriegsgebieten in Syrien und Afghanistan derzeit auf dem Weg nach Europa befinden, einige gar jahrelang. Diese werden sich nicht davon abschrecken lassen, dass sie im Grunde nicht erwünscht sind. Nein, sie werden es immer wieder und wieder versuchen. Die Gefahren, die auf dem beschwerlichen Weg liegen, sind dabei im Vergleich zu dem, was sie Zuhause erwartet, das kleinere Übel. Bis heute ist es der deutschen Bundesregierung und den zuständigen Ministerien und Behörden nicht möglich, eine bundesweite Angabe darüber zu machen, wie viele der einmal Abgeschobenen danach wieder einreisen. Einen Anhaltspunkt kann aber folgende Zahl geben: 28.224. So viele abgeschobene oder freiwillig ausgereiste Asylbewerber sind nach einer Erklärung der Regierung seit 2012 wieder "zurück nach Deutschland" gekommen. Dort heißt es jedoch auch, dass sich „differenzierte belastbare Angaben“ zum Grund der Ausreise nicht ermitteln ließen. Die Zahl bezieht sich außerdem nur auf Asylbewerber, ebenso sind Sonderfälle nicht enthalten.

In den Ausführungen des Autors spürt man, dass wir nur kurz unter dem Migrationsdruck aufatmen können, der Antrieb, seine Heimat verlassen zu müssen und der Sog des europäischen Kontinents sogar noch stetig zunimmt. Deshalb müssen diese „Übel“ nun endlich mal genauer analysiert und dann bekämpft werden, den jungen Menschen muss Perspektive im eigenen Land gegeben werden. Schwierig ist dies allerdings dort, wo gewalttätige Konflikte oder Bürgerkriege in Gang sind und herausfordernd ist es ebenso, dass es von Region zu Region unterschiedliche Fluchtursachen gibt, denen dann auch individuell begegnet werden muss. Unbenommen bleibt dabei, dass den Kriegsflüchtlingen geholfen werden muss und diese geordnet, das heißt insbesondere menschenwürdig hier nach Europa verbracht werden müssen.

Nichtsdestotrotz gibt es dazu auch bereits die eine oder andere Initiative. Eine davon ist die eben erst zu Ende gegangene sogenannte „Afrika Konferenz“ (Compact with Africa), die 2017 unter der deutschen G20-Präsidentschaft ins Leben gerufen wurde. Ziel ist es, die Bedingungen für private Investitionen und Beschäftigungsmöglichkeiten in Afrika gemeinsam mit den afrikanischen Ländern zu verbessern. Momentan beteiligen sich zwölf reformorientierte Staaten: Äthiopien, Ägypten, Benin, Burkina Faso, Cote d’Ivoire (Elfenbeinküste), Ghana, Guinea, Marokko, Ruanda, Senegal, Togo und Tunesien). Der "Compact" verbindet die jeweiligen afrikanischen Teilnehmer mit einem Partnerland aus dem Kreis der G20 sowie internationalen Organisationen wie der Weltbank, dem Internationalen Währungs-Fonds und der Afrikanischen Entwicklungsbank. Es geht vor allem darum, die Privatinvestitionen zu erhöhen.

Ein allumfassendes Buch über die Flüchtlingskrise, ihre Ursachen und Symptome zu schreiben ist ein schier unmögliches Unterfangen und teils auch tagespolitisch bestimmt. Alleine schon die unterschiedlichen Interessen der europäischen Nationen zusammenzufassen, würde vermutlich ein dreibändiges Werk füllen. Nichtsdestotrotz liefert uns Beat Stauffer auf nur gut 300 Seiten am Beispiel der Maghreb Staates viel Hintergrundinformationen, um die Problematik zu verstehen. Er balanciert bemerkenswert die beiden konträr gegenüberstehenden Positionen der „Grenzschließer“ und „-öffner“. Das Buch weckt Interesse, sich intensiver mit dem Thema zu beschäftigen. Es ist informativ und exzellent recherchiert.

Lösungen sind schwierig, aber der Weg geht nur über ein neues Verhältnis der EU zu den Maghreb Staaten. Diese sind der Schlüssel zu einer besser koordinierten Zuwanderung und um zu verhindern, dass unzufriedene Tunesier oder Marokkaner sich dem Terrorismus / bewaffneten Dschihad zuwenden. Dazu müssen nicht nur alle Länder eine einheitlichere Position vertreten, was schwer genug ist, aber auch innerhalb der Länder die verschiedenen Ressorts, was ebenso keine einfache Aufgabe sein wird.

 

Für Beat Stauffer ist die Regulierung der Migrationsströme eine Schicksalsfrage für Europa. Der Migrationsdruck wir eher zu-, als abnehmen, so dass irreguläre Migration weiter eingedämmt werden muss. Eine hermetische Abriegelung ist nicht möglich, deshalb ist die Forderung umso mehr nach einem geordneten Zustrom. Andererseits müssen Rücknahmeabkommen geschlossen werden, um die abgelehnten Asylbewerber geordnet zurückzuführen. Nur so bleiben die europäischen Staaten auch glaubwürdig. Stauffer macht (beängstigend) deutlich: Wenn schon aus relativ wohlhabenden Staaten wie den Maghreb Staaten trotz aller (Lebens-)Gefahren sich Hunderttausende weiter auf dem Weg nach Europa machen, werden es noch wesentlich mehr aus den ärmeren Gebieten Afrikas und den Kriegsgebieten sein.

 

Fazit: Stauffer gelingt es, uns das Thema umfassend nahezubringen. Indem er Flüchtlinge berichten lässt, auch von missglückten Fluchtversuchen erzählt, gibt er der Situation eine Stimme, ein Gesicht. Etwas, was nicht immer guttut, vielleicht ein schlechtes Gewissen verursacht, aber absolut notwendig erscheint. Trotzdem bleibt der Autor objektiv, die Sache neutral betrachtend und versinkt nicht in Emotionen. Das macht das Buch ebenso so interessant und absolut lesenswert!

Andreas Pickel

4 Sterne
4 von 5

 © 2019 Andreas Pickel, Harald Kloth