Robert Gerwarth: Die Besiegten

Das blutige Erbe des Ersten Weltkriegs

München ; Siedler ; 2017 ; 480 Seiten ; ISBN: 978-3-8275-0037-3

 

Die Feierlichkeiten anlässlich des 100. Jahrestages des Endes des Ersten Weltkriegs, gemäß dem amerikanischen Historiker George F. Kennan die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“, neigen sich mit seinem Höhepunkt am 11. November, an dem Tag, an dem vor 100 Jahren mit der Unterzeichnung des Waffenstillstandabkommens durch das Deutsche Reich im Wald von Compiègne bei Paris die Kampfhandlungen offiziell beendet wurden, dem Ende zu. Doch wird es auch Siegesfeiern geben für das 100-jährige „Jubiläum“ des Endes unzähliger blutiger Bürgerkriege in den fünf Jahren danach? Bis auf einige Gedenkveranstaltungen anlässlich der in dieser Zeit erfolgten Staatengründungen wohl eher nein, ist diese Zeit doch einem breiteren Publikum bis dato weniger bekannt.

 

Bereits 2013 revolutionierte Ian Kershaw mit seinem Buch „Die Schlafwandler“ (siehe Christopher Clark: Die Schlafwandler) vielleicht nicht die Sichtweise auf den Weg in den „Grande Guerre“, aber gab ihr doch eine neue Richtung. Das Deutsche Kaiserreich war bei weitem nicht unschuldig am Ausbruch des Ersten Weltkriegs, aber es war nicht mehr schuldig als seine Mit- und Gegenspieler in Moskau, Paris, London oder auch Wien, so das Ergebnis seiner Quellenstudien und Analysen. Ein Jahr später gab Leonhard mit seinem Buch „Die Büchse der Pandora: Geschichte des Ersten Weltkriegs“ (siehe Jörn Leonhard: Die Büchse der Pandora) ein Standardwerk über die Ereignisse dieser Zeit heraus. Mittels der „Büchse der Pandora“, aus der unmenschliches Leid und Gewalt über die Menschheit herfällt, wurde der Erste Weltkrieg selten besser beschrieben. Nun nähert sich mit Robert Gerwarth endlich auch ein Historiker in einer beindruckenden Gesamtdarstellung den Krisen und Konflikte der unmittelbaren Nachkriegszeit, also der Zeit von 1919 bis 1923.

Gerwarth ist Direktor des „Centre for War Studies“ am University College in Dublin. Während sich viele Autoren bei ihren Studien zum Ersten Weltkrieg auf die Kriegsjahre 1914 bis 1918 und den durchaus spannenden Weg dorthin fokussieren, und höchstens noch eine direkte Verbindungslinie zu Hitler und den Weg in den Zweiten Weltkrieg ziehen, erforscht man an seinem Institut stattdessen auch intensiv die unmittelbar den Friedenshandlungen folgenden Ereignissen bis zum Lausanner Abkommen 1923. Somit werden bis dato in der Geschichtsschreibung eher nur beiläufig oder einzeln beschriebene regionale Ereignisse, Konflikte, intra- und interstaatliche Kriege sowie ihre Konsequenzen und vor allem auch ihre Interdependenzen untersucht. Diese Analysen liefern teils unvermutete neue Rückschlüsse auf den Ersten Weltkrieg an sich aber auch für die folgenden Jahrzehnte, ja teils bis heute.

So behandelt das Buch neben der russischen Revolution von 1917 insbesondere die paramilitärischen Gewaltausbrüche in Mittel-, Südost- und Osteuropa in der Zeit von 1919 bis 1923. Gerwarth spart dabei fast keine Region aus. So thematisiert er neben Russland und dem Deutschen Reich genauso Länder wie Italien, Finnland oder auch Bulgarien und erklärt nebenbei auch, wie Hitler bei Kemal Atatürk erste Ansätze zu Rassenreinheit schätzen lernte, ja ihn diesbezüglich sogar bewunderte. In nur kurzer Zeit zwischen 1917 und 1920 kam es zu 27 gewaltsamen Regimewechsel. Allerdings überdauerten bis Ende der 30er Jahre nur zwei der 1918 geschaffenen Staaten als freie Demokratien. Die sich gegenseitig aufstachelnden Bürgerkriege waren die schlimmsten seit dem 30-Jährigen Krieg, immerhin 250 Jahre waren seitdem verstrichen. Alleine die Revolutionswirren in Russland kosteten 3 Millionen Menschen das Leben und zum Beispiel auch Ungarn verlor in dieser kurzen Zeit zwei Drittel seiner Größe und fast Drei Viertel seiner Bevölkerung.

 

Gerwarth räumt mit vielen bis dato vorherrschenden Mythen zu dieser Zeit auf. So zum Beispiel mit der sogenannte „Brutalisierungsthese“, das heißt, für ihn waren die Schrecken des gerade erst beendeten Krieges eben nicht die Ursachen für Gewaltausbrüche. Dazu waren die (Nachkriegs-)Konflikte zu unterschiedlich und traten dort auf, wo man sie nicht unbedingt erwartete. In anderen Regionen dagegen blieb es ruhig, obwohl gerade dort Gewaltexzesse im ersten Weltkrieg wüteten. Die Erfahrungen der Schützengräben so Gerwarth waren jedenfalls nicht ausschlaggebend für die marodierenden Gruppen in all den unterschiedlichsten Territorien.

So waren es laut Gerwarth vor allem die Verliererstaaten, die „Besiegten“, deren Frustration sich über die für sie ungerechte Friedensordnung, das Vorenthalten des Selbstbestimmungsrechts der Völker, in rohe Gewalt äußerte. Die Niederlagen im Krieg unterstützten die Revolutionen und Zerfallserscheinungen der großen Reiche. Aber auch die „verstümmelten“ Sieger, wie zum Beispiel Italien, hatten nichts zu feiern. Zwischenstaatliche Kriege, Bürgerkriege oder ein Gemenge aus Beidem kennzeichneten diese Zeit. Dabei sollte der Gegner nun nicht nur besiegt, sondern ein für alle Mal vernichtet werden. Dieses „alles oder nichts“ eskalierte dann von einer eher konventionell geführten Auseinandersetzung im Ersten Weltkrieg zu einer an Gewaltexzessen ausufernden Fortsetzung. Dieser eher gesamteuropäische denn nationale Bürgerkrieg war für den Autor auch eine Art Ausgangspunkt für den Zweiten Weltkrieg. Schon gar nicht kann man diese Periode als „Zwischenkriegszeit“ titulieren, gab es doch fast 4 Millionen Opfer, Opfer, die zum Beispiel bis auf das Massaker in Smyrna 1922 fast keine Aufmerksamkeit erregten.

Obwohl das Buch in den Teilen „Niederlage“, „Revolution und Konterrevolution“ sowie „Imperialer Zerfall“ thematisch gegliedert zu sein scheint, geht der Autor vielmehr chronologisch vor. Es beginnt de facto mit der Russischen Revolution von 1917, behandelt dann die Umbruchphase 1918/1919 u.a. in Deutschland, Bulgarien und Italien und endet mit den Nachkriegsjahren 1919 - 1923 und seinen enttäuschten Erwartungen. Radikalisierung als Folge von (oftmals nicht empfundener) Niederlage, Revolution und Gegenrevolution sowie unerfüllte Hoffnungen in den Friedenshandlungen waren eine „ungesunde Gewaltmischung“. Das Gefühl der Umkreisung sowie der Drang, den Tod Hunderttausender von Kameraden und die Niederlage an sich einen höheren Sinn zu geben, schweißte die Menschen für ihre Exzesse zusammen. Im Gegensatz zum Krieg breitete sich nun diese in ihrer Brutalität ausufernde Gewalt auf ethnische Minderheiten sowie vor allem auch auf Alte, Kinder und Frauen aus.

 

Die erstmalig seit dem Westfälischen Frieden wieder in größerem Maße gebrochene Unterscheidung von Kombattanten und Nichtkombattanten in Kampfhandlungen war das wesentlichste Kriterium dieser Zeit. Dabei war, wie später auch besonders bei den Einsatzgruppen der SS festzustellen, der Prozess der Eigendynamik von Mord, Plünderung, Vergewaltigung und ethnischer Säuberung markant. Von Kriegsende wollte kaum einer etwas wissen, denn schließlich war man selbst der personifizierte Krieg. Zusätzlich motiviert in Deutschland durch die „Dolchstoßlegende“ waren Lust auf Gewalt, Brandschatzung, Raub und Tötung an der Tagesordnung. Und gerade dort, wo multiethnische und multikulturelle Reiche wie Österreich-Ungarn, Russland oder das Osmanische Reich auseinanderbrachen oder im Friedenvertrag dividiert wurden, kam es zu ethnisch motivierten blutigen Konflikten. Ein derartiges Ausmaß an Transformation konnte nicht unblutig über die Bühne gehen. Klare oder gar einheitliche regional übergreifende Konzepte der Aufständischen waren dabei nicht festzustellen, nur demokratische oder kommunistische (außer in Russland natürlich) Regierungstendenzen wurden bekämpft. Innerhalb Deutschlands verzeichnete vor allem Bayern in diesen Jahren einen massiven Rechtsruck, München wurde die Hochburg des Nationalismus und war nicht umsonst, so Gerwarth, die Geburtsstätte des Nationalsozialismus.

Das, was einst schon vor über 15 Jahre Wolfgang Schivelbusch für Deutschland betreffend die „Kultur der Niederlage“ nannte (Schivelbusch, Wolfgang: Die Kultur der Niederlage, 464 S., Alexander Fest Verlag, Berlin 2001.) kann durch die Analysen Gerwarths auf ganz Europa übertragen werden. 13 Millionen deutsche Männer, also ca. 20 Prozent der Bevölkerung von 1914, nahmen am Krieg teil, davon verstarben ca. 2 Millionen und über 2.5 Millionen wurden versehrt oder verwundet. Die somit leidgeprüfte Bevölkerung findet nach einer kurzen Verschnaufpause für ihre verlorenen Kriege schnell die Schuldigen. Verantwortlich gemacht und zur Verantwortung gezogen werden die bisher am Steuerrad stehenden, die das Land nach einer langen Vorphase der Orientierung- und Strategielosigkeit in den Krieg und fast in ihre Vernichtung geführt haben. Diese Legitimitätskrise der Regierung wird verstärkt durch fehlende Militärdisziplin, fehlende staatliche Strukturen, äußeren Druck und Kriegsmüdigkeit ganz allgemein. Niederlagen, so schreibt Schivelbusch, sind Zeiten des Vatermords und der Rückbesinnung auf die Mutter Nation, zu deren Rettung und Bewahrung nun die Söhne aufstehen. Daher die Revolutionen - das Wegfegen der Verliererväter - und die karnevalistische Feststimmung, wie in Frankreich im September 1870 und in Deutschland im November 1918. Nun durch Gerwarth wird eine vergleichbare Situation auch in vielen anderen gerade ost- und südosteuropäische Länder bewusst.

Zusammenfassend legt Gerwath deutlich klar: Europa war auch nach dem Ersten Weltkrieg ein sehr fragiles und unsicheres „Pflaster“, indem durch Bürgerkrieg, Konflikte, ethnische Säuberungen und Revolution mehr als 4 Millionen Menschen in einer Art „erweiterten europäischen Bürgerkrieg“ ihr Leben ließen. Gerade die ethnischen Vertreibungen wurden befeuert durch den Zusammenbruch multiethnischer Großreiche wie Österreich-Ungarn oder das Osmanische Reich. Auch wenn diese Großreiche jahrhundertelang als „Völkergefängnisse“ galten, praktizierte man dort überwiegend gewaltfrei Ethnien übergreifendes Miteinander und Zusammenleben. Nun wurden Menschen anderer Ethnien in einer Art entmenschlicht, dass in Teilen sogar der Genozid die logische Folge war. Dies und diese Zeit ist wichtig für das Verständnis der weiteren gewaltsamen Kriege, Bürgerkriege und Konflikte des 20. Jahrhunderts und Gerwarth meint damit nicht ausschließlich den Zweiten Weltkrieg. Dabei vermeidet er bewusst Prognosen über zukünftige Konflikte, über die weitere Entwicklung des aktuellen Europas, sondern konzentriert sich stattdessen darauf, die Wurzeln von Krieg und Krisen zu beschreiben, bzw. wie man deren Ursprünge verknüpft. Nichtsdestotrotz ist das Verständnis dieser Zeit unabdingbar, um die Logik und Ziele der folgenden gewalttätigen Konflikte bis hinein zu den Jugoslawienkriegen zu verstehen. Beispielsweise auch die gemachten Zusagen, Widersprüche oder gar Täuschungen bezüglich Palästinas führten dazu, dass der Nahe Osten bis heute nicht zur Ruhe gekommen ist.

Fazit: Auch weil das Buch nur 340 (mit Anmerkungen, Bibliografien, Literaturverzeichnis fast 500) Seiten dick ist, ist es sehr kurzweilig. Mit hohem Detaillierungsgrad, aber auch jederzeit verständlich zeichnet er den Weg von Krieg in Bürgerkrieg und den immens hohen Gewaltexzessen an Zivilisten nach, vor allem skizziert er einen gesamteuropäisch umfassenden Bogen, der unkontrolliert aus den Fugen geriet. Das Buch ist klar strukturiert und durch die chronologische Abhandlung und exzellente Verknüpfung der teils verwirrenden Ereignisse gelingt es Gerwath sicherlich auch ein breiteres Publikum zu erreichen. Insgesamt eine beeindruckende, äußerst fesselnde Darstellung der Jahre 1919 bis 1923, die bis dato ihresgleichen sucht.

Andreas Pickel

4/5 Sterne
4/5 von 5

© 2018 Andreas Pickel, Harald Kloth

Erster Weltkrieg - Buchrezensionen