Herfried und Marina Münkler: Die neuen Deutschen

Ein Land vor seiner Zukunft

Berlin ; Rowohlt ; September 2016 ; 333 Seiten ; ISBN 978-3-87134-167-0

 

Obwohl die Indikatoren deutlich waren, waren zumindest die Regierungen in allen europäischen Regierungen überrascht, oder taten zumindest so, von der Flüchtlingsflut die letztes Jahr über Europa und vor allem mit über 1 Millionen Flüchtlinge über Deutschland hereinbrach. Manche sprachen gar von einem Flüchtlings-Tsunami! Während gerade die osteuropäischen Nationen mit Ungarn an der Spitze ihre Grenzen dicht machten, hat Angela Merkel mit ihrem am 31. August 2015 in der Bundespressekonferenz geäußerten mittlerweile zur Berühmtheit gewordene Satz „wir schaffen das“ zunächst den mehr oder weniger freien Zugang nach Deutschland gewährt. Anfängliches „Zustromregulierungs- und Registrierungschaos“ hat sich mittlerweile mit Etablierung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) gebessert. Der Flüchtlingsdeal mit der Türkei hat dafür gesorgt, dass sich die Anzahl der Flüchtlinge über die Ostmittelmeerroute verminderte, wohingegen sich der Strom aus dem zentralen Mittelmeerraum, aus Libyen und Ägypten, signifikant erhöhte. Glaubt man den Recherchen von Patrick Kingsley in seinem empfehlenswerten Buch „Die neue Flüchtlingswelle“ wird die Anzahl der Flüchtlinge nicht weniger werden, Abschottung hin oder her.

 

Auch wenn die Konflikte in Syrien und Afghanistan, also aus dem Nahen und Mittleren Osten, wider Erwarten schnell gelöst werden sollten, der Strom an Verfolgten und Kriegsgeschädigten aus Ostafrika, z.B. Eritrea oder aus dem Niger-Gebiet wird nicht abreißen. Die Gründe, sich auf eine jahrelange beschwerliche und menschenunwürdige Reise, die mit dem Tod enden kann, einzulassen, sind so gravierend, dass offensichtlich nichts und niemand den Strom an Friedens- und Wohlstandssuchenden reduzieren können. Anstelle also weiter über Möglichkeiten der Eindämmung und Abschottung an den EU-Außengrenzen zu diskutieren, sollte man stattdessen besser den Realitäten ins Auge sehen und sich damit vielmehr der Verbesserung der Möglichkeiten für die Integration widmen. Da kommt gerade das Buch „Die neuen Deutschen“ der Literaturwissenschaftlerin Marina Münkler und ihrem Mann, dem aus Büchern wie „Die neuen Kriege“ oder "Imperien“ bekannten Politikwissenschaftler Herfried Münkler gerade Recht.

 

Auch die Münklers gehen davon aus, dass sich in den kommenden Jahren die Flüchtlingssituation nicht dramatisch verbessern wird. Vorab zur Begriffsklärung: ganz einfach gesprochen, Menschen, die zur Flucht gezwungen sind, werden als "Flüchtlinge" bezeichnet, Menschen, die aus eigenem Antrieb ihr Land verlassen, gelten als "Migranten", Menschen, die einen Asylantrag gestellt haben, über den noch nicht entschieden wurde, werden als "Asylbewerber" bezeichnet. Da sich also die Zahlen gleich welcher Kategorie nicht signifikant nach unten bewegen werden, müssen so gesehen dringend und schnellstmöglich Verfahren gefunden werden, die ganzen offenen Baustellen im Umgang mit den Flüchtlingen und Migranten zu schließen. Und anstelle in den diversen Talkshows allem und jedem der selbsterklärten Experten ein Forum zu geben, ist hier natürlich in erster Linie die Regierung in der Pflicht. Während die sich aber oft aus parteipolitischem Kalkül nicht auf eine einheitliche Linie im Sinne der darunter leidenden Menschen einigen kann, ja nicht einmal eine sachliche Debatte geführt wird, zeichnen ihnen die beiden Autoren einen Weg vor und stellen elf Imperative auf, darunter fünf „Merkmale des Deutschseins“, mit denen die Integration gelingen kann. Gelingen von beiden Seiten, d.h. aus Sicht der Flüchtlinge, in dem sie sich bestmöglich in unsere Gesellschaft integrieren und aus Sicht von uns Deutschen, dass wir die Integration fördern und aktiv unterstützen. Die beiden Autoren bauen ihre Imperative mit einem Blick in die Geschichte auf und unterstützen so nachhaltig ihre Argumentation.

 

Zunächst entmythologisieren sie die aktuelle Flüchtlingssituation, in dem sie darlegen, dass Flüchtlingsbewegungen und –ströme schon immer Teil unserer Geschichte und Gesellschaft waren und somit auch heute keine besondere Situation oder gar einen Ausnahmezustand darstellen. Menschenbewegungen in größerem Maße zwischen Land und Stadt oder auch über Grenzen und Meeren hinweg gab es schon immer. Die Autoren kommen mit dem Griff in die Geschichtskiste auch zu dem Schluss, dass, wie das negative Beispiel Frankreich zeigt, nicht die Staatsbürgerschaft das entscheidende Kriterium für Integration darstellt oder auch das Gestalten eines Rahmens für eine multikulturelle Gesellschaft, sondern schlichtweg der Arbeitsplatz. Die Migranten und Flüchtlinge müssen die Möglichkeit haben, Deutsche zu werden, in dem sie Zugang zu Arbeit haben und wer dann für sich und seine Familie für den Lebensunterhalt aufkommen kann, bemüht sich auch umso mehr um Integration, so die Argumentationskette von Marina und Herfried Münkler. Ansonsten kommt es wirklich zu den ungewollten „Parallelgesellschaften“, in dem dann die Flüchtinge und Migranten in ihrer eigenen Welt, Religion und Kultur leben.

 

Auch räumen die Autoren mit Mythen oder auch Parolen der Rechten auf, in dem sie in ihren Untersuchungen zu dem Schluss kommen, dass die Migranten überwiegend eben nicht nach Deutschland kommen, um schmarotzerhaft die großzügigen deutschen Sozialsysteme auszunutzen, sondern sich eben wirklich redlich durch Arbeit den Zugang zum Sozialsystem verdienen wollen. Dazu muss man ihnen aber Handlungsfähigkeit zugestehen und Sie nicht in Aufnahmelager zum Nichtstun verdammen. Auch widerlegen sie die Auswirkungen der sogenannten „Pull-Effekten“ wie z.B. das „wir schaffen das“ von Angela Merkel. Viel stärkeren Einfluss auf die Migrantenzahlen habe die „Push-Faktoren“, also die Ursachen dafür, die angestammte Heimat zu verlassen.

 

Das deutsche Verständnis von Nation beruht auf einer gemeinsamen Sprache, Geschichte und Kultur und darauf müssen sich die „Neuankömmlinge“ auch einlassen, wollen sie Teil dieser Gesellschaft werden. Wir wiederum müssen unseren auch gewerkschaftlich arg regulierten Arbeitsmarkt für diese Menschen öffnen. Trotz zunehmender Automatisierung und Digitalisierung ist schon allein aus demografischen Gründen Zuwanderung gewollt und gewünscht (bis zu einer Million jährlich, so die Autoren), dies kann und muss auch für Flüchtlinge und Migranten gelten. Das müssen auch die arbeitsmarktprotektionistisch denkenden Linken und Gewerkschaften endlich akzeptieren. Durch Zugang zum Arbeitsmarkt und dem Willen zu Integration können also humanitäre Gesichtspunkte berücksichtigt und unser Durst nach Facharbeitern gestillt werden sowie eine vernünftige Balance zwischen kultureller Identität beim Aufeinandertreffen unterschiedlicher Religionen gewahrt bleiben.

 

„Die neuen Deutschen“ sind aber nicht nur die Flüchtlinge und Migranten, sondern auch die Deutschen, die den Flüchtlingen hilfsbereit entgegenkommen, kompromissbereit sind, sich den neuen Herausforderungen dahingehend stellen, dass sie sich selbst und ihr sozio-kulturelles Umfeld positiv in Richtung der neuen Situation bewegen, einfach weltoffen sind. Im Moment aber sind wir Deutschen, so die Autoren, gespalten, politisch gespalten, gespalten nach Regionen, gespalten in Ost und West. Dabei spalten uns nicht die Flüchlinge an sich, sondern die gegen die Flüchtlinge gerichteten Aktionen, die wiederum Gegenreaktionen hervorrufen. Wie auch immer, die aktuelle Situation erfordert einen langen Atem und eine gewisse Frustrationstoleranz auf beiden Seiten, aber wenn der Staat, Wirtschaft und wir, die Zivilgesellschaft, an einem Strang ziehen wird es funktionieren. Der italienische Schriftsteller Tomasi di Lampedusas sagte einst: „Wenn wir wollen, dass alles bleibt, wie es ist, muss sich alles andere verändern“. Und auch der in diesem Sinne engstirnigst Denkende muss einsehen, dass dies nicht möglich ist. Deutschland wird oder ist bereits ein Einwanderungsland und ist hin auf dem Wechsel zu einer offenen Gesellschaft.

 

Die Menschen, die sich auf dem harten Weg nach Europa machen, haben derartig gravierende Gründe, dass sie sich in ihrem Drang nach Frieden oder lebensnotwendigen Dingen nicht durch Grenzzäune und einer möglichen Rückführung abschrecken lassen. Man muss die Flucht, die Migration und die Aufnahme also humanisieren. Ansonsten kommt es traurigerweise dazu, wie es die Münklers so treffend bezeichnen, zu noch mehr Grabstätten der Namenlosen, zum Grab des unbekannten Flüchtlings in Anlehnung an das Grab des unbekannten Soldaten nach dem 2. Weltkrieg – und trotz Vorfälle in Bautzen und Dresden sind wir in Deutschland ein Vorbild an Gastfreundlichkeit, stehen damit aber in Europa leider weitestgehend alleine da.

 

Fazit: Das Buch von Marina und Herfried Münkler liefert Antworten und Konzepte, die wir schon lange von der Politik erwarten, vor allem erwarten können. Schweigen im Verständnis auch von Konzeptlosigkeit erzeugt nur Verunsicherung, schürt Ängste und spielt den Rechten in die Hände. Integration ist eine politische Angelegenheit und nicht eine pure administrative Maßnahme. Polemik frei wird durch das Ehepaar Münkler basierend auf historischen Grundlagen und definierten kulturellen Rahmenbedingungen ein relativ einfach umzusetzendes Maßnahmenpaket geliefert. Das ist auch die Stärke des Buches, es verzichtet auf eine attraktive und medienwirksame aber dafür unrealistische und vor allem langdauernde Problemlösung. Es ist heutzutage nicht mehr die Frage nach dem „ob“ der Integration, sondern nach dem „wie“. Und dafür liefern die Autoren Rezepte. Nun liegt es an der Politik, die Vorschläge oder zumindest die dahinter steckende Grundidee aufzugreifen und unter „Mitnahme“ der Bevölkerung und der Flüchtlinge umzusetzen.

 

Andreas Pickel

4/5 Sterne
4/5 von 5

© 2016 Andreas Pickel, Harald Kloth