Friedensmacher

Margaret MacMillan

Die Friedensmacher

Wie der Versailler Vertrag die Welt veränderte

Berlin ; Propyläen ; 2015 ; 733 Seiten ; ISBN 978-3-549-07459-6

 

Als am 4. August 1914 deutsche Truppen die Neutralität Belgiens verletzten, um gegen den französischen Erzfeind erneut die Klingen zu wetzen, waren überall in Deutschland ein unvergleichlicher Nationalstolz und ein Gefühl der Befreiung zu spüren. Es kam zu klassen- und parteiübergreifenden Solidaritätsbekundungen suggerierte doch die Regierung den Angriff als eine notwendige Präventivmaßnahme gegen die russisch – französische Einkreisungspolitik.

 

Vier Jahre und Millionen von Toten auf den diversen Kriegsschauplätzen später war die Euphorie schon längst dem Kampf ums Überleben gewichen. Obwohl die Armee auf den Kriegsschauplätzen weiter tapfer kämpfte, war das Deutsche Reich 1918 am Ende seiner Kräfte, auch wirtschaftlich und politisch. Das Bitten um einen Waffenstillstand war schließlich unausweichlich. Die Gründe dafür waren vielfältig: Fehlannahmen über die französischen und russischen Stärken und Schwächen, eine im 19. Jahrhundert verhaftete Strategie, die der modernen Technik weitestgehend nicht folgen konnteoder auch ein enthemmtes Militär, dass den Zorn der besetzten Gebiete und damit den Widerstand der Bevölkerung dort stärkte.

 

Vor 2 Jahren, also 100 Jahre nach Ausbruch der „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“, erschienen unzählige Publikationen zum Ausbruch und Verlauf des Ersten Weltkriegs. In zwei Jahren nun, zum 100. Jahrestag des Kriegsendes werden der Vertrag von Versailles und die Konsequenzen des Krieges ganz allgemein für die Geschehnisse der folgenden Jahrzehnte und auch heute noch allumfassend aufgearbeitet werden. Viele Autoren sitzen jetzt sicherlich schon über den letzten Seiten ihres Manuskripts. So verwundert es, dass nun letztes Jahr ein bereits vor 15 Jahren erstmalig erschienenes, preisgekröntes und bereits als Dokumentation verfilmtes Buch über DEN Friedensvertrag des Ersten Weltkriegs endlich in einer deutschen Version herausgebracht wurde.

 

Warum es mit einem gerade für Deutschland so wichtigen Buch so lange gedauert hat, dass ein Verlag eine deutsche Übersetzung publiziert, ist schwierig zu sagen. Vielleicht, weil die Autorin abschließend den Sturm der Entrüstung über den Schmachfrieden nicht nachvollziehen kann und die „Deutsche Buße“ in Form von hohen Reparationen und Gebietsabtretungen schon irgendwie als gerecht empfindet. Diese Bewertung überrascht umso mehr, seit renommierte Historiker, wie z.B. Christopher Clark, zu der Erkenntnis der „Kollektivschuld“ am Ausbruch des Ersten Weltkriegs kommen und somit das Argument der alleinigen Kriegsschuld des Deutschen Reiches zu ungerechtfertigt hohen Strafen führte. Oder vielleicht auch, weil MacMillan argumentiert, dass ein besseres Abkommen für Deutschland einen Despoten wie Hitler niedergehalten hätte. Auch das ist in Anbetracht der gesamten Umstände die zu seiner Machtübernahme führten, anzuzweifeln. Der Erste Weltkrieg war ein Krieg, den niemand wollte, aber auch niemand verhinderte. Das Deutsche Kaiserreich war bei weitem nicht unschuldig am Ausbruch des Ersten Weltkriegs, aber es war nicht mehr schuldig als seine Mit- und Gegenspieler in Moskau, Paris, London oder auch Wien.

 

Nichtsdestotrotz ist das Buch absolut interessant und lehrreich, eine Pflichtlektüre nicht nur für Historiker und Geschichtsinteressierte, sondern vor
allem auch für Diplomaten. Die Rahmenbedingungen der Konferenz, in Umkehrung von Clausewitz also die Fortsetzung des Krieges mit diplomatischen Mitteln, die symbolischen Grabenkämpfe um Terrain, Geld und Macht ist allumfassend spannend erzählt.

 

Insgesamt spart MacMillan mit Kritik an den „Friedensmachern“, an den Architekten des Versailler Vertrages. Klar, man hätte vieles anders regeln
können, aber damit unbedingt besser? Es ist ein Leichtes, heute sozusagen mit der Weisheit des Rückblicks zu urteilen, unter den gegebenen Umständen und vor allem auch der Zeit sowie mit dieser Vielzahl an unterschiedlichen Protagonisten und Akteuren hat man mit hoher Hingabe eine letztendlich solide Lösung für alle damaligen Herausforderungen in der Welt gefunden. Die Amerikaner nutzen für so eine Situation das so passendeWort „catch 22“, also eine Art ausweglose Lage – wie man es auch macht, es ist immer verkehrt. Zu Beginn des Pariser
Friedenskongresses war man sich alleine schon bezüglich des Ziels der Konferenz uneinig, an einem Ende stand das Ziel, Deutschland für immer niederzuhalten, am andern Ende das hehre Ziel einer neuen stabilen Weltordnung. Gerade der amerikanischen Präsidenten Wilson wollte dazu Mechanismen für die neue Gestaltung der internationalen Beziehungen finden. Als Grundprinzip für den Vertrag galt das vom ihm ausgegebene Prinzip des sogenannten „Selbstbestimmungsrechts“, später in der Völkerbundcharta abgeschwächt als „Zustimmung und Wünsche“,  der Völker deklariert. Aber gerade hier gab es ausreichend Schnittmengen mit Konfliktpotential, mussten doch die meist historisch begründeten Hunderten von regionalen Forderungen von Völkern mit den globalen Interessen der Hauptmächte in Übereinstimmung gebracht werden und sich auch deren ökonomische Verantwortung wiederspiegeln. Das Ergebnis manch “fauler Kompromisse“ z. B. hinsichtlich Südtirol oder dem Elsass, ist hinreichend bekannt. Trotz Selbstbestimmungsrecht befragte dort niemand die Bevölkerung zu ihrem Schicksal.

 

Blendend gelingt es der Autorin, die einzelnen Charaktere treffend zu beschreiben und liefert zu jedem der Protagonisten so was wie eine eigene
Biografie gleich mit. Im Schwerpunkt sind dies Georges Clemenceau für Frankreich, der amerikanische Präsident Woodrow Wilson sowie der britischer
Premierminister David Lloyd George (Obgleich einer der Hauptleidtragenden des Krieges, war Russland aufgrund seines innenpolitischen Chaos kein Verhandlungs- oder gar Vertragspartner). Jeder von Ihnen vertrat die mächtigen Interessen seines Landes und so gesehen wurde jeder ihrer Schritte und Worte auf das Genaueste verfolgt. Aber die „großen Drei“ waren auch individuelle Menschen mit Stärken und Schwächen, Vorlieben und Abneigungen. Auch diese menschlichen Seiten prägten natürlich die Konferenz. Trotz der nicht unerheblichen Anzahl an „Strippenziehern“ verliert man jedoch bei MacMillan nie den Überblick. Mit subtilem Humor liefert sie nicht nur eine historische Abhandlung über einer Art „männlichen Zickenkrieg“ sondern auch über „Amigos“ und Lobbyismus in höchster Ausprägung. Das ganze bereichert durch unzählige Anekdoten über das „Geschachere“ insbesondere außerhalb der Konferenzräume. So wird auch vermeintlichen Nebendarstellern wie Rumänien ausreichend Platz in dem 630 Seiten Werk eingeräumt, eignete sich doch das Verhalten der modebewussten und einkaufssüchtigen Königin für ausreichend Klatschmeldungen abseits aller Politik.

 

Der Erste Weltkrieg war ein hoch komplexer Krieg und dementsprechend kam es auch zu einem sehr komplexen Friedensvertrag. Insgesamt 440 Artikel in 15 Teilen, Anhängen und Ergänzungsverträgen sollten die Nachkriegsordnung regeln. Am 28. Juni 1919 unterschrieben Reichsaußenminister Hermann Müller und Verkehrsminister Johannes Bell unter Protest das Dokument im Schloss von Versailles. Der Protest richtete sich vor allem gegen den Artikel 231, der Deutschland die alleinige Schuld am Ersten Weltkrieg attestierte. Insgesamt eliminierte der Friedensvertrag zwei der drei Großmächte der Mittelachse, die k.u.k.-Monarchie und das Osmanische Reich. Deutschland blieb dagegen eine kontinentale Großmacht. Da der Vertrag trotz oder gerade wegen seines Umfangs weder Sieger noch die Besiegten zufrieden stellte, schürte er schon mit Unterzeichnung das Fundament für neues Konfliktpotential. Offiziell gab es Kriegsgewinner, aber so richtig was zu gewinnen gab es nicht. Halbherzig ging man mit der Bestrafung von  schuldigen Personen um. Der deutsche Kaiser lebte unbehelligt wie ein normaler Mensch, der nie einer Fliege was zu Leide tat, in den Niederlanden und von den Hunderten von den Alliierten erfassten Kriegsverbrechern wurden nur 17 vor Gericht gestellt und nur vier zu milden Strafen verurteilt. Vor allem in Deutschland wurde das Militär von strategischen Fehlplanungen und militärischen Niederlagen reingewaschen (so begrüßte Reichspräsident Ebert die heimkehrenden Soldaten mit den Worten: „Kein Feind hat Euch überwunden“), so dass die „Dolchstoßlegende“ auf fruchtbaren Boden traf. Deshalb war gerade im Deutschen Reich der Wille nach Revisionismus nicht zu bändigen und wartete geradezu auf einen Agitator wie Hitler. Aber auch nach dem Zweiten Weltkrieg und sogar heute noch ist der „Friedensvertrag“ Ursache für viele ethnische, nationale und soziale Konflikte.

 

Der Versailler Vertrag war und ist bestimmend auch noch für die heutige Zeit, gerade wenn man die heutigen Konflikte im Nahen und Mittleren Osten oder auch auf dem afrikanischen Kontinent genauer betrachtet. Das steht unzweifelhaft fest. Einige Länder oder Völker sind heute noch zutiefst empört, ja gar traumatisiert angesichts ihrer „Abwicklung“, andere, auf Seiten der Kriegsgewinner kamen und kommen mit ihrer neu gewonnenen geographischen und politischen Größen nicht zurecht.

 

Die Erben des Krieges und seiner Friedenskonferenz sind heute noch spürbar. Der Krieg hinterließ lange Zeit oder hinterlässt bis heute bleibende Erinnerungen. Für Franzosen, Briten und Belgiern ist es heute noch DAS Ereignis, welches die nationale Identität brachte, für uns Deutsche schob sich der Holocaust und die unleugbare Schuld des Zweiten Weltkrieges über die Erinnerung an den ersten Weltkrieg. Aber man sollte auch nicht vergessen, die neue deutsch-französische Freundschaft hat eines der Hauptprobleme der Pariser Verhandlungen und des Versailler Vertrages gelöst. Angesichts von 1.3 Millionen Toten Franzosen, von Granattrichtern übersäte französische Gebiete, Regionen, in denen nichts Lebendiges mehr wuchs, nicht einmal mehr Vogelzwitschern zu vernehmen war, ist das vielleicht die außergewöhnlichste „friedensmachende“ Geschichte überhaupt.

 

Fazit: Das Buch ist fast auf eine Stufe mit die „Schlafwandler“ von Christopher Clark zu stellen. Während der eine in exzellenter Art und Weise den Weg in die Katastrophe erklärt, behandelt MacMillan die Konsequenzen für die nächsten Hundert(en) Jahren. Der hervorragende methodische Aufbau und der essayistische Stil („… Zudem ähnelte der Balkan einer von einem Sturm zurückgelassenen Pfütze am Strand, die eine Vielzahl von Organismen enthielt…“), der Wechsel zwischen Thesen und Anekdoten, sowie der ständige Wechsel der Perspektiven bereiten zudem ein außerordentlich kurzatmiges Lesevergnügen und einen teils neuen Blick auf eine der wohl spannendsten Monate der Weltgeschichte.

 

Andreas Pickel

4 Sterne
4 von 5

© 2016 Andreas Pickel, Harald Kloth