Anna Maria Sigmund: "Das Geschlechtsleben bestimmen wir"

Sexualität im Dritten Reich

München ; Heyne ; 2009 ; 362 Seiten ; ISBN 978-3-453-62035-3

 

Die Wiener Historikerin Anna Maria Sigmund hat sich nach ihren Bestellern "Die Frauen der Nazis" und ihrem 2006 erschienen und vielbeachteten Buch "Diktator, Dämon, Demagoge" einem bis dato wenig untersuchten Thema des Dritten Reiches gewidmet, der Sexualpolitik der Nationalsozialisten.

 

Um es vorwegzunehmen, wer eine anzügliche Beschreibung des ausschweifenden Lebens der NS-Eliten erwartet, der wird enttäuscht. Stattdessen weist Sigmund in sachlicher Darstellung nach, wie gerade Themen wie sexuelle Aufklärung, Familienförderung, "befohlene" Eheschließungen oder auch Homosexualität hervorragende Beispiele für die tiefe Kluft zwischen nationalsozialistischem Anspruch und Realität darstellen. In vielen Bereichen wurde versucht, alles einem geordneten hierarchischen Prinzip unterzuordnen, Zucht und Ordnung in allen Bereich durchzusetzen, gerade vor den Schlafzimmern mussten die Nationalsozialisten aber kapitulieren.

 

Während sich die nationalsozialistischen Größen mit den schönsten Frauen umgaben, sich mit der Zahl ihrer Geliebten brüsteten und mit ihrer Männlichkeit und ihrem Stehvermögen prahlten, war deren Führer Adolf Hitler als "Sexsymbol" nicht geeignet. Ausschließlich mit Eva Braun liiert, widerlegt die Autorin alle Gerüchte über mögliche Jugendsünden Hitlers, etwaigen Seitensprüngen oder gar homoerotischen Neigungen. Hitlers volle Konzentration galt dem Streben nach der Herrschaft über den europäischen Kontinent, seine Begierde nach Macht stellte alle anderen Begierden in den Schatten. Frauen waren für Hitler reine "Gebärmaschinen", deren Pflicht es war, in ausreichender Anzahl arisch reine Kinder in die Welt zu setzen. Früh in den Ehestand eingetreten, sollte die "freie Liebe" verhindert werden, Verhütung zugunsten der Förderung kinderreicher Ehen war unerwünscht. Für Frauen war Sex vor der Ehe verpönt, Männer sollten Kontakt zu Prostituierten meiden. Dagegen sollte reger Geschlechtsverkehr in der Ehe stattfinden, ggf. auch außerhalb. Die Ehe durfte kein Selbstzweck sein, Glück und Liebe in der Ehe waren nebensächlich. Alles hatte dem Erhalt, besser noch der Vermehrung von Art und Rasse zu dienen.

 

Ganz im Gegensatz zu Hitlers Anweisungen für das einfache Volk und seinem persönlich "keuschen" Verhalten handelten seine NS-Funktionseliten. Da Hitler keinen klaren Verhaltenskodex vorgab, loteten sie ganz nach dem Motto, je höher der Rang, desto größer die Freiheiten, ihre Grenzen bis zum Äußersten aus. In "Saus und Braus" lebend standen sie, so Sigmund, ständig außerhalb oder innerhalb des gültigen Rechts. Von den Eskapaden seines Führerkorps wissend, tolerierte Hitler Korruption und ein ausschweifendes Sexleben.

 

Anders verhielt sich im Bereich der erotischen Kunst. Hierzu machten die Nationalsozialisten klare Vorgaben zu Schönheitskriterien für die Aktmalerei (sic!), beispielsweise für die Frau: blond, lange Beine und einen nordischen, apfelgroßen Busen.

 

Gegenüber Frauen zeigte man ansonsten wenig Toleranz. Die Frau gehörte an den Herd und sollte sich um die Familie kümmern. Um die Geburtenraten zu steigern, war es dabei zunächst unerheblich, ob die Kinder ehelich oder unehelich auf die Weltkamen. Hauptsache die Statistiken passten. Erst als der Führer diese "falsche Moral" ablehnte, wurden Pläne auf die rechtliche Gleichstellung von unehelichen Kindern ad acta gelegt. Skurriler Höhepunkt der staatlichen "Babyförderung", also Maßnahmen zum Erhalt der arischen Rasse, waren die durch die SS eingerichteten "Lebensborn-Heime", in denen ausgewählte Frauen in luxuriös ausgestatteten Häusern in reizvoller Umgebung wohlumsorgt ihre Kinder zur Welt bringen und aufziehen konnten. Die von Himmler geschaffene Idylle konterkarierte sein ansonsten brutale Pogrompolitik.

 

Das Ergebnis aller Maßnahmen war jedoch ernüchternd, wurde aber durch gefälschte Statistiken vertuscht. Das Volk war, so die Autorin zwar bereit, ihr Leben für den Führer in einem sinnlosen Krieg zu opfern, den Erhalt der arischen Rasse ließen sie sich aber nicht aufzwingen.

 

Konträr zu der sonst bis ins kleinste Detail durchgeplanten Politik verhielt es sich auch im Bereich der sexuellen Aufklärung. Obwohl die Kinder und Jugendlichen von klein auf indoktriniert und zu einem einheitlichem Verhalten getrimmt wurden, Sexualität wurde tabuisiert.

 

Nicht nur verboten, sondern rigoros verfolgt und bekämpft wurde Homosexualität. Wollte man einen Rivalen aus dem Weg schaffen, denunzierte man ihn als Schwulen, den Rest erledigte die Gestapo. Meist in ein Konzentrationslager deportiert, erfuhren sie dort eine ähnlich brutale Behandlung bis zum Tod, wie es ansonsten nur die Juden erfuhren. Dennoch gelang es nicht, Homosexuelle in großem Maße ausfindig zumachen, gar die Homosexuellenszene auszumerzen. Ganz im Gegenteil, die Bilder halbnackter muskelgestählter Jünglinge auf irgendwelchen Kundgebungen und die nur aus Männern bestehenden politischen Gruppierungen hinterließen in der öffentlichen Wahrnehmung ein anderes Bild.

 

Die widersprüchliche Politik zeigte sich auch im Umgang mit der Prostitution. Hitler ordnete zunächst die Schließung aller Bordelle an, die Umsetzung war jedoch mangelhaft, da sich seine Eliten einer aktiven Unterstützung verweigerten. Als nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges vor allem die Wehrmacht die Einrichtung von Bordellen forderte, um die Moral der Truppe aufrechtzuerhalten, wurde die Etablierung von Freudenhäusern unter staatlicher Kontrolle genehmigt. Schnell entstanden SS-, Fremdarbeiter sowie KZ-Bordelle, das NS-System entwickelte sich zum größten Bordellbetreiber aller Zeiten.

 

Daheimgebliebene Frauen aus "erbbiologisch einwandfreiem Milieu" hatten sexuellen Kontakt mit Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern, Soldaten an der Front vergnügten sich mit einheimischen Frauen, Minderjährige praktizierten die freie Liebe. Der Sittenverfall hatte keine Grenzen - und der Führer schwieg.

 

Anna Maria Sigmund hat ein wundervolles Buch geschrieben. Ohne effekthaschend und auf Verkaufszahlen schauend sich unter der Gürtellinie zu verirren, zeigt sie die widersprüchliche Politik der nationalsozialistischen Strategen auf. Gerade in der Sexualität wird die Schere zwischen Anspruch und Wirklichkeit mehr als deutlich. Die in die Vergangenheit gerichtete Politik Hitlers wurde konterkariert durch die Realität, statt vier Kinder wie erhofft, maximal zwei, statt die Frau am Herd zu haben und Kinder zu gebären und groß zu ziehen, verwirklichte sich das weibliche Geschlecht im Beruf. Ehe und Familie galten als nicht schutzbedürftig, Hauptsache Kinder wurden im wahrsten Sinne des Wortes "produziert", notfalls auch durch einen Seitensprung. Anhand veranschaulichender Beispiele werden durch die Autorin Gründe für das Scheitern der arisch fokussierten Bevölkerungspolitik aufgezeigt, ohne sich in für den Laien undurchschaubaren Statistiken zu verheddern. Anhand neuester Quellen schließt sie hier eine der letzten Lücken über das nationalsozialistische Terrorregime.

 

Fazit: Insgesamt macht der fast schon belletristische Schreibstil Sigmunds das provokante und interessante geschichtliche Thema zu einem reinen Lesevergnügen.

 

Andreas Pickel

4 Sterne
4 von 5

© 2009 Andreas Pickel, Harald Kloth