Deutsche Geschichte. 1918 - 1945
München ; C.H. Beck ; 2022 ; 638 Seiten ; ISBN 978-3-406-77660-1
Was wurde nicht schon alles veröffentlicht zur Deutschen Geschichte von Beginn des Ersten Weltkrieges bis zum
Zusammenbruch des Dritten Reiches 1945. Viele Historiker ziehen dabei eine stringente Linie mit Ursache-Wirkung-Beziehungen durch diese Zeit, andere wiederum sträuben sich gegen einen Verlauf mit
30 Jahre mehr oder weniger Kontinuität. So stellt sich die Frage, ob noch ein weiteres Buch nötig ist, um die Vorgänge dieser Zeit zu verknüpfen, anders zu erklären? Ein eindeutiges „Ja“ wenn man
das exzellente Buch von Michael Wildt »Zerborstene Zeit. Deutsche Geschichte 1918 bis 1945« zugrunde legt. Um es Vorwegzunehmen, ein absolut großartiges Werk und ebenso in seiner Quellenanalyse
über die Zeit 1918 bis 1945 besonders wertvoll.
Wie schon der Titel des Buches „Zerborstene Zeit“ suggeriert, legt Wild uns eine raue zerschnittene politische Landkarte mit vielen scharfen Kanten und Zacken für seine Betrachtung zu Grunde.
Dabei lässt er durch das gesamte Buch ziehend Zeitzeugen zu Wort kommen, deren persönliche (Lebens-)Geschichte, deren Blick auf die Geschichte. Diese individuellen Erlebnisse und Biografien,
aufgesplittet in 12 Themenkapiteln, widersprechen der Theorie von Kontinuitäten und Abhängigkeiten. Er verstrickt also hinreichend bekannte innen- und außenpolitische Vorgänge mit der sich
dargestellten realen Situation von Zeitzeugen und damit von normalen Menschen.
Der fast 70-jährige Autor wurde 2007 zum Professor ernannt und war viele Jahre lang Professor für Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert mit Schwerpunkt Nationalsozialismus an der renommierten
Humboldt-Universität in Berlin. Auch Mitglied des Editorial Board der Yad Vashem Studies ist er ein ausgewiesen anerkannter Historiker für den Antisemitismus und alles was damit zusammenhängt,
sowohl ideologisch als auch soziologisch z. B. Täterstudien betreffend. Schwerpunkt seiner letzten Forschungsprojekte waren ethnisch bedingte Vertreibungen und Morde in Europa.
In dem vorliegenden Buch geht er chronologisch vor und beginnt jedes Kapitel mit einem sogenannten „Bottom Line Up Front“ mit den Schlüsselaspekten und wesentlichen Analysen des Folgenden. Das
erweckt Interesse und ein fokussierteres Lesen der folgenden Abschnitte. Das Buch setzt ein mit den Revolutionen nach dem Ersten Weltkrieg. Als die alte Macht, so Wildt, ihr wichtigstes
Instrument verlor, das Militär, war es um sie geschehen. Dabei brauchte man es eigentlich als Ordnungsmacht, als Schutzwall gegen den Bolschewismus. Der Autor sieht eine Koinzidenz zwischen der
Niederschlagung der Münchner Räterepublik und der Veröffentlichung der Friedensbedingungen des Versailler Vertrages und bezeichnete dies als „Siedepunkt der nationalistischen, völkischen
Bewegung, dessen Wirkung auf die politische Entwicklung nicht unterschätzt werden kann“. Als absolut verherrend und gesellschaftszerreißend bezeichnet Wildt die Inflation von 1923, denn
diejenigen, die bereits Sachwerte in Form von Industrieanlagen und Immobilen hatten, konnten weitere Sachwerte kaufen, währenddessen diejenigen, die auf Geldleistungen angewiesen waren, fast
alles verloren, von Rentnern und sozial Schwachen gar nicht zu reden. Nicht ausgespart werden darf natürlich in diesem Teil des Buches auch der Hitler-Putsch am 9. November 1923, der scheiterte.
Dies war jedoch für Hitler, so Wildt, die Gelegenheit, seine bisherige Strategie, an die Macht zu gelangen, zu überarbeiten und speziell während seiner Haftzeit in Landsberg generell die Politik
des Nationalsozialismus neu zu organisieren.
Gegen Ende der 20er Jahre präsentierte sich die NSDAP nach und nach als den Inbegriff der „Volksgemeinschaft“ und Adolf Hitler vereinigte das Charisma ihres „Führers“. Trotzdem, so Wildt, war
kein Masterplan erkennbar, sondern die Macht wurde zielstrebig unter Nutzung jeglicher Form der Gewalt sowie Einschüchterung, aber auch durch das Wecken des verloren gegangenen
Gemeinschaftsgefühls sukzessive ausgeweitet. Die Wirtschaft wurde im Rahmen eines Vierjahresplans strikt auf die Aufrüstung der Wehrmacht ausgerichtet, fast 50% des Wachstums gingen auf
Militärausgaben zurück (angesichts der heutigen Diskussion eines Beitrages Deutschlands in Höhe von 2% des BSP zur NATO unvergleichlich hoch), 1938 wurden 80% aller Staatsausgaben für Waren und
Dienstleistungen für die Wehrmacht ausgegeben mit dem Ziel, 3.6 Millionen Soldaten unter Waffen zu stellen. 1938 war auch das Jahr, in dem das Regime mit dem Anschluss Österreichs sowie der
Forderung nach den sudetendeutschen Gebieten der Tschechoslowakei seine expansionistischen Ziele deutlich machte und sich die antisemitische Politik mehr und mehr radikalisierte. Trauriger
Höhepunkt waren das Novemberpogrom, deren Brutalität, Destruktivität und Gewaltobsession sich laut Wildt nicht genau erklären lässt und deren Ausmaß an Zerstörungen, körperlicher Gewalt,
Vergewaltigungen und Morde bis heute nicht bekannt sind.
Der Autor setzt fort über den Aufstieg der Nationalsozialisten und ihrer ideologisch motivierten mörderischen Politik, die Mobilisierung aller Kräfte für den Rassenkrieg um die Weltherrschaft und
endet mit ihrer Agonie. Bereits kurze Zeit nach der Machtergreifung war die politische Ordnung auf den Kopf gestellt, stramme Nationalsozialisten standen an der Spitze politischer Ämter auf allen
Ebenen, die wesentlichen Grundrechte waren abgeschafft. Wildt nimmt hierbei den Begriff „Revolution“ in den Mund und bezeichnet das System als rassistische Volksdiktatur. Dabei zeigt er in einem
für ein derartiges Buch sehr umfangreichen Teil über die Sängerin und Tänzerin Josephine Baker die Verknüpfung rassistischer mit kolonialistischer Denkweisen auf. Sehr interessant und etwas
abweichend von den üblichen Darstellungen ist auch das 6. Kapitel „Menschen am Sonntag“, in dem er intensiv auf das Alltagsleben der Menschen und die Kultur der damaligen Zeit eingeht und eine
Art kurzgefasste Sozialstudie präsentiert. Sehr erfrischend wirken da so Erzählungen einer 25-jährigen Textilarbeiterin wie sie am Sonntag, dem wirklich einzig freien Tag in der Woche, in die
Natur außerhalb der Großstadt fährt, den Alltag abwerfen, Baden gehen, Füße hochlegen, die Schönheiten des Lebens genießen. Diese teils beruhigend und entspannend wirkenden Episoden in dem Buch
enden dann abrupt, als der Autor zu den mörderischen Exzessen des NS-Regimes überleitet, beginnend bei den selbst die NS- Bürokratie überbordenden Deportationen, die dann schließlich über
die menschenverachtenden Abkommen der Wannsee Konferenz, die den Anspruch des Reichssicherheitshauptamtes auf Federführung in der „Judenfrage“ bestätigte, bis zum Massenmord in den
Konzentrationslagern führte. Ein wahrer Horror sind die Beschreibungen des Ablaufs eines Eisenbahntransports mit Waggons voller Juden, ihre letzte Entmenschlichung dort mit Abgabe aller
verbliebenen Wertsachen, der Bekleidung bis zum 20 bis 30 Minuten dauerten Todeskampf in der Gaskammer. Man fragt sich trotz diverser Studien (siehe z.B. das von mir rezensierte Buch von Harald
Welzer: Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden), wie Menschen zu derartigen Grausamkeiten „ohne mit der Wimper zu zucken“ in der Lage waren.
Ängstlich war dann nach der Befreiung vor allem die Bevölkerung in den umliegenden Dörfern der Lager vor Rache von befreiten Häftlingen gleichermaßen wie von den Soldaten der Alliierten, die
dieses Elend und Leid sahen. Dies insbesondere in den Ostteilen, die von der roten Armee befreit wurden, da Stalin mit aller Deutlichkeit die Weisung ausgab, die verwundete (deutsche) Bestie muss
auch in ihrer eigenen Höhle in Deutschland ausgemerzt werden, da eine verwundete Bestie weiterhin sehr gefährlich sein kann. Aber auch durch die einst besetzten oder annektierten Länder selbst,
besonders in Polen und der Tschechoslowakei, kam es nun zur Abrechnung mit der selbst ernannten Herrenrasse, Millionen von Vertriebenen begleitet von Gewaltakten waren die Folge. Dort erwartete
sie erst mal weiteres Elend und Hunger in den zerbombten Städten, woraus die, so Wildt, Entschuldigungslegende entstand, sprich, durch die Leidensjahre nach 1945 hätten die Deutschen ihre Schuld
abgebüßt, ja, seien nun die eigentlichen Opfer des Krieges!
Im Gegensatz zu Wildt neigen viele dazu, einen gewissen Determinismus und diesen damit als Absolution zu verwenden, das Individuum war nur Teil und kleines Rädchen im System und erklärt bzw.
vielmehr entschuldigt also sein Handeln. Manche verwenden dazu breitgefächerte Gesamtdarstellungen der Deutschen Geschichte, um darzulegen welche Prozesse wie ein Zahnrad in das nächste greifen,
die Abläufe bestimmt haben und das alles möglichst dynamisch. Bei Wildt müssen wir uns umgewöhnen: Er seziert individuelle und kollektive Erfahrungen, deren „Unebenheiten“ und Ausfluss für den
Verlauf der Dinge. Es waren also nicht Strukturen oder Prozesse die dazu führten, dass alles so verlief, wie es dann letztendlich kam, sondern Festlegungen und Entscheidungen, Befehle von
Menschen. In deren individueller Biografie zeigen sich dann ggf. Stetigkeiten, aber vor allem auch die Diskontinuitäten. Aus einer einheitlichen Darstellung, einem einheitlichen Verlauf wird
stattdessen ein Mosaik aus unterschiedlichen Schicksalen mit unterschiedlichen Verläufen, Querbewegungen, Umleitungen. Diese Brüche im Leben einzelner Menschen, vor allem, wenn es sich um
Entscheidungsträger handelt, spiegeln sich dann aggregiert in den innen- und außenpolitischen Geschehnissen wieder. Es gibt also keine Stringenz, keinen roten Faden der Geschichte, sondern
zeitliche Brüche und Zerrissenheit in den Lebensläufen, die diese bestimmten. Dazu erörtert Wildt Fragen über die Dimension der sogenannten „Deutschen Geschichte“, die einer gewissen Dynamik
unterlag, veränderten sich doch die Zugehörigkeit zur Nation geografisch als auch ihrer Bürger betrachtend kontinuierlich.
Diese Perspektive von Individuen und Gruppen auf die politischen Abläufe spiegelt sich natürlich auch auf Wildts Darlegungen über den Antisemitismus und des Holocausts wieder. Opfer als auch
Täter betrachtend, geht sein Blick aus Westeuropa kommend bis hin zu den mörderischen Lagern und -Gaskammern sowie den Einsatzgruppen in Polen und in der Ukraine.
Das Kapitel über Lemberg, erst zu Österreich, dann zu Polen, später der Sowjetunion gehörend und schließlich ukrainisch, erweitert unseren Horizont auch in andere Richtungen. Es erschließt uns
das Konfliktpotential mehr oder weniger willkürlicher Grenzziehungen und ist angesichts des aktuellen Kriegs dort aktueller denn je.
Wildt nutzt für seine Analysen einen immens hohen Fundus an Literatur, Tagebucheinträgen archivierten Quellen in Ost und West, Zeitzeugeninterviews, Gesprächsprotokolle, Berichte der
Geheimdienste und Biografien der Protagonisten, die er nicht einfach zitiert, sondern einordnet, quervergleicht und damit validiert. Das Buch ist somit packend und spannend zugleich und spannt
uns einen allumfassenden und tiefgründigen Bogen um alle Facetten dieser Zeit.
Er stellt im Gegensatz zu vielen seiner Historikerkollegen Akteure, egal, ob tragend oder der „kleine Mann von der Straße“, in den Mittelpunkt seiner Analysen, suchte in unzähligen Dokumenten das
bis dato Unentdeckte, und eben nicht politische Prozesse, Entscheidungen und Strukturen. Welche Themen haben Familien, Freunde und Bekannte Zuhause bei Tisch beim Essen bewegt, was wurde da
diskutiert, welche unterschiedlichen Positionen gab es da? Es geht ihm dabei auch nicht um der so oft gerühmten „Weisheit des Rückblicks“, sondern er folgt den Stimmen von Zeitzeugen. In
Tagebüchern und anderen Zeitzeugenberichten liest man das aktuelle Empfinden heraus, ohne eben zu wissen, wie sich das Rad weiterdreht. Das machen sie so interessant. Auch wenn Tagebücher oft zu
Selbstdarstellungen neigen, so geben sie doch über die persönlich empfundenen Erfahrungen sehr authentisch ein Gespür für Brüche und Widersprüche in Abläufen. Wildt lässt uns mit diesen Stimmen
nicht alleine, sondern analysiert und ordnet diese ein. Durch diese persönlichen Geschichten und Schicksale, alle ohne einen sogenannten gemeinsamen Nenner, widerlegt er damit der weitläufigen
Meinung einer gewissen Kausalität von Ursache und Wirkung und einer Vorherbestimmung von den Ereignissen und Abläufen, erklärt aber andererseits doch wie es dann zu einer Art zusammengefassten
Gewalt einer wie Wildt es beschreibt „rassistischen Volksdiktatur“ gegen andere Ethnien kam. Dies, weil antidemokratische Saat sowohl links auch als rechts der Gesellschaft auf fruchtbaren Boden
traf.
Auch die handelnden Personen hatten keinen Gesamtplan, den sie stringent durchzogen. Dies verdeutlich Wildt an den unterschiedlichen Wahrnehmungen und auch Handlungs- sowie Einflussmöglichkeiten
von Zeitzeugen. Jeder einzelne trägt mit seinem Handeln und Tun Verantwortung für das, was passierte aber vor allem auch hinsichtlich der Ausgestaltung der Zukunft. Wilds Buch selbst ist alles
andere als stringent und einheitlich, was der Großartigkeit keinen Abbruch tut. Im Gegenteil, es ist keine „retrospektive Glaskugel“, um damit rückwärts in die Zukunft zu schauen, aber zu
verfolgen, warum vieles so gekommen ist, wie es sich dann abspielte, ist ein Genuss. Deutsche Geschichte war eben keine Einheit, dies gilt gleichermaßen für die Jahre nach 1989, sondern ist von
Brüchen und Diskontinuitäten unterbrochen. Wildt möchte Dissonanzen sichtbar machen!
Fazit: Die historischen Einzelheiten, individuelle als auch gesellschaftliche Dynamiken, Wildt’s eleganter Schreibstil und seine scharfäugigen Beobachtungen, machen dieses Buch zu einem „Muss“ für jeden zeithistorisch interessierten Leser.
Andreas Pickel
© 2023 Andreas Pickel, Harald Kloth, Cover: Copyright © Verlag C.H. Beck
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