Peter Longerich: Die Sportpalast-Rede 1943

Goebbels und der »totale Krieg«

München ; Siedler ; 2023 ; 208 Seiten ; ISBN 978-3-8275-0171-4

Buchcover Peter Longerich: Die Sportpalast-Rede 1943
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Die Herrschaft des proklamierten tausendjährigen Dritten Reiches war bekanntermaßen bereits nach 12 Jahren beendet. Aber zwei Jahre vor ihrem Niedergang versuchte der Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda, Joseph Goebbels, in seiner zu negativen Berühmtheit gelangten Sportpalastrede das deutsche Volk, Gesellschaft und Wirtschaft mental und in allen Konsequenzen auf den Krieg auszurichten, um so noch die Wende an den nach und nach einbrechenden Fronten herbeizuführen. Eine akribische Analyse über Motive sowie Auswirkungen der Rede gibt der renommierte Historiker Peter Longerich in seinem Buch »Die Sportpalastrede 1943. Goebbels und der „totale Krieg“«.

Am 18. Februar 1943 hielt der Propagandaminister des NS-Regimes, Joseph Goebbels, vor Tausenden von begeisterten Zuschauern eine hochemotionale Rede, die er selbst als sein Meisterstück pries, um die totale Mobilisierung aller Kräfte und Ressourcen für den Endsieg zu fordern. In kaum einer Dokumentation über das Dritte Reich, über die Wirkung von Propaganda, über die Beeinflussung von Menschen, fehlen Ausschnitte dieser Rede, die in dem berühmt-berüchtigten Satz: „Wollt ihr den totalen Krieg“ kumulierte. Der Zeitpunkt der Rede war wohl ausgewählt. In Stalingrad kapitulierte die 6. Armee, selbst der Kriegsheld Rommel musste nach und nach gewonnenes Terrain verloren geben und die Bomben der längst luftüberlegenen alliierten Luftstreitkräfte verbreiteten zunehmend Furcht und Angst nun auch im Kerngebiet des Reiches.     

Der renommierte Historiker und Professor Peter Longerich (u. a. Professor für moderne Geschichte am Royal Holloway College in London und Gründer des dortigen Holocaust Research Centers) kann mit seinen bisherigen Forschungsschwerpunkten wie kein zweiter die Themen „Antisemitismus“ und „Nationalsozialismus“ auch für ein breiteres Publikum fachlich fundiert und verständlich erklären. Seine Biografien über Hitler, Goebbels und Heinrich Himmler sowie sein Buch über die Wannseekonferenz fanden ebenso in Historikerkreisen durchweg positive Resonanz.

Als der Krieg spätestens mit der Niederlage bei Stalingrad seinen Wendepunkt erreicht hatte (siehe Ian Kershaw: »Wendepunkte«), begannen hinter dem Rücken von Hitler verstärkt Intrigenkämpfe seines engsten Zirkels um Macht, Einfluss und Gunst auf dessen Politik und Kriegsstrategie. Nachdem der Führer selbst nicht gewillt war, so wie noch als Agitator in seiner Kampfphase vor der Machtergreifung, sich persönlich in seiner unnachahmlichen Art lautstark an die Volksgemeinschaft zu wenden, sprang Goebbels gerne in die Bresche und hielt diese seit Wochen schon vorbereitete Ansprache. Vorbereitung dahingehend, dass Goebbels die Einführung einer Arbeitsdienstpflicht für Frauen, die Ausrichtung der gesamten Industrie auf Kriegswirtschaft sowie die Schließung von Nobelgeschäften und -restaurants mit allem ihm möglichen Mitteln aktiv vorantrieb. Gerade Letzteres war auch gegen seinen Rivalen Herman Göring gerichtet, der ein dekadentes Leben sehr schätzte. Goebbel’s Ziel war es, alles auf die Front und der Rüstung auszurichten. Im Gegensatz zu Parteigenossen wie eben Göring, wollte Goebbels auch nicht „illusorisch“ sondern „nüchtern realistisch“ wirken, um sich damit populärer zu machen. Doch selbst Hitler war dem gegenüber skeptisch.

Am Rande sei erwähnt, dass Goebbels diese Rede in der Villa Bogensee (Nahe Wandlitz in Brandenburg) geschrieben hatte. Das dortige, ca. 17 ha große Areal, ist derzeit wieder in allen Medien, da das mittlerweile stark marode Gebäude mit 30 Zimmern und sogar einem Kinosaal, nun mangels Kaufinteressenten sogar verschenkt werden soll, um es vor dem Abriss zu retten.      

Absicht Goebbels war es, durch die Proklamation des totalen Krieges die Gefolgschaft für die Partei und des Staates zu bekräftigen oder vielmehr noch zu stärken sowie andererseits die Überwachungsmöglichkeiten des totalitären Regimes bis auch in die letzten Winkel der Gesellschaft auszuweiten. Er orientierte sich dabei an dem 1935 erschienenen Buch „Der totale Krieg“ von Erich Ludendorff, dem Stellvertreter von Paul von Hindenburg in der Obersten Heeresleitung und Ersten Generalquartiermeister im Ersten Weltkrieg. Ganz im Sinne des Mythos der Dolchstoßlegende über die Schmach des Ersten Weltkrieges und des Versailler Vertrages, sei die Geschlossenheit des Volkes, so Ludendorff, der entscheidende Faktor über Sieg oder Niederlage und daran ist alles einschließlich der Wirtschaft auszurichten.

Longerich seziert die Rede bis ins Detail, selbst die Reaktionen des Publikums werden wie „live“ wiedergegeben. Das Buch teilt sich in drei größere Kapitel, gibt die Rede vollständig wieder und jeder Abschnitt der Rede (jeweils linke Seite) ist mit einem teils sehr ausführlichen Kommentar (jeweils rechte Seite) versehen. Im einleitenden ersten Teil des Buches schildert Longerich die Ereignisse von Sommer 1942, als noch niemand an dem Endsieg zweifelte, bis zu den Einbrüchen im Frontverlauf Anfang 1943. Nach dem Mittelteil über die Rede an sich, beschäftigt sich dann der abschließende dritte Teil mit den Auswirkungen und Reaktionen der Rede, hauptsächlich mittels einer Auswertung der in- und ausländischen Presse.    

Der sorgsam ausgewählte Schauplatz der Veranstaltung war der symbolträchtige Sportpalast in Berlin-Schöneberg, da Goebbels hier im Gegenzug zu Außenveranstaltungen das gesamte Umfeld und alle Umstände auf sich und seine Rede zuschneiden konnte. War der Sportpalast in den beginnenden 30er Jahren noch der Hort der Massenveranstaltungen der NSDAP, vereinnahmte Goebbels ihn später als Schauplatz für seine eigenen Auftritte. Der Sportpalast war mittlerweile die größte nutzbare Halle in Berlin, da die noch größere Deutschlandhalle (errichtet für die Olympischen Spiele 1936) nach Bombardierung nicht mehr nutzbar war.  

Die Rede begann kurz nach 17:00 Uhr, dauerte insgesamt 109 Minuten und wurde zeitversetzt um 20:00 Uhr im Reichsrundfunk, in Ausschnitten auch im Ausland und mit Bildern unterlegt in der Wochenschau übertragen. Durch diese Zeitversetzung konnte Goebbels, so Longerich, bei Bedarf noch Änderungen an dem Auftritt vornehmen, vor allem, was die Reaktion des Publikums betraf. Da Goebbels das Live-Publikum teils handverlesen auswählte, waren wie in einem Theaterstück die Sprechchöre und Zwischenrufe drehbuchartig vorgeschrieben und inszeniert. Es war wie eine Art Zwiegespräch zwischen den Live-Zuhörern und Goebbels, z.B. bei Erwähnung des Bündnispartners Japan wurde es lauter als bei dem zusehend in Kritik geratenen Kriegspartner Italien. Longerich nennt das sehr treffend ein kongeniales Einverständnis zwischen Rednern und Publikum. Dies alle kumulierte dann in „10 Fragen“ mit dem Höhepunkt der 100%-igen lauthalsen Zustimmung zu „Wollt ihr den totalen Krieg“, gleichzusetzen mit 100% Ja-Stimmen bei einer Wahl.

Goebbels, so der Autor, setzt in seiner Rede oft in „pathetisch-feierlicher Tonlage“ auf die bewährten Themen der Nationalsozialisten wie Rassismus, den Gefahren des Bolschewismus und des Judentums. Diese verbindet er dramaturgisch gekonnt mit Angst schürenden Meldungen, Gefahren für das Deutsche Reich seien imminent und nur ein totaler Krieg verkürze den Krieg. „Friss“ (… den totalen Krieg) oder „Stirb“, also Untergang mit allen Racheakten der Alliierten, so der Appell Goebbels. Auch ganz im Sinne der Eliten des NS-Regimes spielt er auf den „notwendigen“, gerade auf den traurigen Höhepunkt zulaufenden Genozid an den Juden an, ohne diesen explizit zu erwähnen (er spricht von „Ausschaltung“!). Goebbels, so Longerich, wollte damit die Bevölkerung bewusst nicht nur zu Mitwissern sondern zu Komplizen der unvorstellbaren Verbrechen machen.     

In seinem gesonderten langen Appell an die Frauen, sich stärker in der Kriegsindustrie zugunsten von somit freigesetzter Männerkraft als Soldaten zu engagieren konterkariert Goebbels sogar sein eigenes Verhalten, unterhielt er doch drei große Haushalte und einige weitere kleinere Unterkünfte mit entsprechend großer Entourage an Bediensteten, die ja ebenso der Kriegswirtschaft entzogen waren. Der Spruch „Wasser predigen und Wein trinken“ passt nirgends besser.

Aber, so das Resümee des Historikers, Goebbels war nur bedingt erfolgreich, seine Ziele zu erreichen. Die Absichten Aufbruch zu erzeugen, den „totalen Krieg“ allgegenwärtig zu machen, die Gefahren des Bolschewismus im In- und Ausland sowie die Gefahr dessen Vereinigung mit dem „terroristischen Judentum“ noch stärker ins Bewusstsein zu rücken und sich selbst neben Hitler als DIE Instanz des Dritten Reiches zu inthronisieren missglückten größtenteils. Ihm gelingt es eben nicht, das Volk komplett zu verführen, von nun an die Stimme des Volkes in allem zu kontrollieren, für seine Absichten zu instrumentalisieren und ihm und damit auch dem Führer ohne „wenn und aber“ bedingungslos zu folgen.

Die ganzen Umstände um die Rede und der Auftritt an sich unterstreichen den Narzissmus und den Größenwahn Goebbels, der sich selbst eine fantastische und exzellente Rede attestierte und das noch Tage und Wochen danach. Er war also sein eigener größter Fan! Dabei unterschätzte er insbesondere die negative internationale Reaktion auf seine Rede. Erst im weiteren Verlauf des Frühjahrs 1943 wurde Goebbels zunehmend bewusst, dass seine Absichten für die Umsetzung eines „totalen Krieges“ auf allen Ebenen bezweifelt wurden. So kam es eben nicht zu einer Frauenarbeitsdienstpflicht, Spielbanken wurden wiedereröffnet und auch Beschränkungen im Reiseverkehr erneut aufgehoben.  

Am Beispiel dieser Rede und seinen Auswirkungen zeigt sich auch, wie in einem Regime, dass unterhalb von Hitler als Leitinstanz wie in einer Polykratie von mehreren Machtsäulen getragen wurde, die miteinander verzahnt waren, aber sich nicht selten bekämpften, die auch vielen Rivalitäten und inneren Konflikten ausgesetzt waren. Für Goebbels sollte die Rede das entscheidende Vehikel nicht nur für die Gunst des Volkes, sondern auch und insbesondere um die von Hitler werden. Das Vorhaben scheiterte!   

Historikern wie Longerich ist es zu verdanken, dass wir mittlerweile eine Erinnerungskultur an die dunkelste Zeit Deutscher Geschichte haben, die frei von Klischees ist. Er schafft es die außen- und innenpolitischen Rahmenbedingungen auf aktueller Forschungslage auf den Punkt gebracht zusammenzufassen. Und am Ende die kurz- und mittelfristigen Folgen der Rede aufzeigend, auch die egoistischen Profilierungsabsichten Goebbels zu verdeutlichen. Das etwas unübersichtliche Nebeneinander von originalem Redetext und den Kommentaren sowohl in deren Länge wie auch Tiefe ist dabei vernachlässigbar.

 

Fazit: Auch wenn Longerich nichts grundsätzlich Neues präsentiert, ist das vorliegende Werk eine glänzende Hintergrundanalyse und zusammenfassende Darstellung eines der größten Propagandaevents der Historie.

Andreas Pickel

4 Sterne
4 von 5

© 2024 Andreas Pickel, Harald Kloth, Cover: Copyright © Siedler Verlag

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