Giuliano da Empoli: Der Magier im Kreml

Roman

München ; C.H. Beck ; 2023 ; 265 Seiten ; ISBN 978-3-406-79993-8

Buchcover Der Magier im Kreml von Giuliano da Empoli
Copyright © Verlag C.H. Beck

 

Seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine am 24. Februar 2022, ist dieser Krieg auch medial nachhaltig beeinflusst durch seine beiden Protagonisten, den beiden Präsidenten Selenskyj und Putin. Während über den ukrainischen Präsidenten mittlerweile einige bemerkenswerte Biografien erschienen sind, hält sich die Literatur bei Putin (bewusst) bedeckt, um seine diktatorische Machtausübung nicht weiter zu verherrlichen.

 

„Russland wurde noch nie von Händlern regiert. Und weißt du warum? Weil sie nicht in der Lage sind, die beiden Dinge zu gewährleisten, die die Russen vom Staat fordern: Ordnung im Inneren und Macht nach außen“. Diese Sätze Putins aus dem Mittelteil (Seite 149) des bereits 2023 erschienenen Buches von Guiliano da Empoli fassen exzellent zusammen, warum Putin der unumstrittene Herrscher Russlands ist. Da Empoli zeichnet in dem eigentlich fiktiven Roman die „Machtergreifung“ Putins nach und beschreibt gleichzeitig ein erschreckend realistisches Bild über die Kräfteverhältnisse im Kreml und damit in Russland insgesamt.  

Der Autor Guiliano da Empoli ist Professor für Vergleichende Wissenschaften an der Hochschule „Sciences Po“ in Paris und hat bereits mehrere Bücher zu politischen Themen verfasst. Ebenso ist er Gründer von „Volta“ einem Think Tank mit Sitz in Mailand und war unter anderem Berater des italienischen Ministerpräsidenten Renzi. Er weiß also aus nächster Nähe, was Regieren und politische Machtintrigen bedeuten.   

Der Hauptdarsteller in dem Buch ist ein gewisser Wadim Baranow, in Realita soll es sich um den Regierungsberater und „Kreml-Chefideologen“ Wladislaw Surkow handeln, den die Neue Zürcher Zeitung im Juni letzten Jahres als Putins grauen Kardinal bezeichnete. Der Rahmen des Romans ist einfach: ein Literaturwissenschaftler kommt nach Moskau, um über den russischen Schriftsteller Jewgeni Samjatin zu recherchieren. Dabei wird er eben von diesem Baranow, der sich auf einem luxuriösen Landsitz lebend aus der aktiven Politik zurückgezogen hatte, zu einem Gespräch geladen und wir werden Teil einer atemberaubenden Geschichte. Der Roman handelt im Folgenden von den Erzählungen Baranows über seine 15 Jahre als Berater Putins, eingerahmt von realen historischen Ereignissen wie dem Fall der Berliner Mauer.  

In dem Gespräch, was mehr einem Monolog ähnelt, öffnet Baranow dem Historiker wie in einer Art letzten Beichte sein Leben und man nähert sich nach und nach dem Aufstieg und Machtstreben des eigentlich grauen und wenig charismatisch wirkenden Putin (Baranow beschreibt ihn als blass, blond, farblos mit Angestelltenmiene). Alle unterschätzten den ursprünglich so unscheinbar und manipulierbar wirkenden Putin. Dies selbst die Oligarchen im engsten Machtzirkel, die ihn eigentlich als ihre eigene Marionette installieren wollten, um so die Politik zu ihren Gunsten zu beeinflussen, um selbst noch reicher und mächtiger zu werden. Doch weit gefehlt: Putin zeigte alsbald „spitze Zähne“ und sein wahres Gesicht. Die Unterhaltung geht fast die ganze Nacht in der Baranow das Wesen und den Charakter Putins eineindeutig offengelegt. Für Putin gibt es nur ein Mittel für seinen eigenen Machterhalt und die Rückkehr zum ehemaligen russischen Imperium: die Gewalt!     

Die Abschirmung der westlichen Welt von den wahren Zuständen im Machtzirkel Putins und die damit einhergehenden Unsicherheiten, da hilft nur noch der „reale Roman“ so könnte man meinen. Die Erzählungen Baranows füllen fast den kompletten Roman, aber die Monologe sind alles andere als langweilig. Im Gegenteil, Baranow, übrigens die einzige fiktive Gestalt in dem Roman, kennt alle Intrigen, Machtgeplänkel, Gesten und Mimik aus nächster Nähe und eigener Erfahrung. Schlüsselerlebnis für Putin war, als 1995 der damalige Präsident Jelzin sichtlich angetrunken zusammen mit dem amerikanischen Präsidenten eine Pressekonferenz in Washington gab und Bill Clinton nur über ihn lachen konnte - es war symbolisch ein Auslachen des dahinsiechenden Russlands. Die ehemalige Weltmacht Russland schien nur noch ein Spielball des westlichen Kapitalismus zu sein. Putin reaktiviert nun alle Sehnsüchte sowie Gelüste nach alter Stärke und etabliert sich quasi als Heilsbringer des so gebeutelten Volkes, mit Baranow als seinen Berater.

Da Empolis Roman mag zwar fiktiv sein, aber niemand würde in Kenntnis der heutigen Situation bezweifeln, dass es sich genauso abgespielt hat, als Putin sich an die Macht im Kreml hievte. Der Aufstieg Putins aus einem scheinbar unwichtigen Büro des KGB, des russischen Geheimdienstes, in den Kreml als die Macht- und Schaltzentrale, um nach „Glasnost und Perestroika“ die Mächteverhältnisse des Kalten Krieges wiederherzustellen, werden nachvollziehbar wiedergeben. Den Menschen in einem Gefühl von Angst und Verunsicherung neues (zaristisches) Selbstbewusstsein zurückzugeben, erhöhte umgehend die Popularität Putins und stärkte früh seine auch heute noch unverrückbare Position. Wer annahm, mit Putin eine Marionette der Oligarchen an die Macht gebracht zu haben, wurde schnell selbst eine Marionette des Despoten. Putin scharte gerade in der Anfangsphase gezielt Personen um sich, die ihm nutzen konnten, als auch umgekehrt, von ihm später zu profitieren – aber zu welchem Zeitpunkt auch immer, uneingeschränkte Loyalität war die Grundvorrausetzung. Putin entwickelte ein System, dass unterhalb von ihm von mehreren Machtsäulen getragen wird, die miteinander verzahnt sind, aber sich auch nicht selten bekämpfen. So manches Unrechtbewusstsein wird so verschluckt, denn die Gesellschaft unmittelbar um Putin partizipiert offensichtlich so ohne weiter darüber nachzudenken an der Ausgrenzung, Gefangennahme oder gar Tötung von Staatsfeinden, ohne nach eigenem Empfinden etwas moralisch Verwerfliches zu tun.

Der Roman ist gespickt von sehr interessanten Retrospektiven auf die neuere Geschichte. So zum Beispiel, als Baranow die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts als einen Wettstreit zwischen den „Künstlern“ Hitler, Stalin und Churchill sah, danach folgten die Bürokraten, um in einer Phase von Frieden Wiederaufbau und Konsolidierung sicherzustellen. Doch nun sind es wieder die Künstler welche die Fäden ziehen. Am Rande sei erwähnt, auch der jetzige ukrainische Präsident Selenskyj war ja Komiker sowie Schauspieler und damit Künstler, bevor er sich um das Präsidentenamt bewarb, und eine Anspielung auch auf Trump liegt nahe. An einer Stelle des Buches wird das auf Putin bezogen sehr treffend beschrieben: ein Typus Schauspieler, der sich selbst inszeniert, der gar nicht zu spielen braucht, weil er von seiner Rolle durchdrungen ist, dass die Handlung des Stücks zur eigenen Geschichte geworden ist, ihm durch die Adern fließt.

Putin baute um sich herum einen elitären Kreis an machthungrigen, dynamischen, handlungswilligen und -fähigen Männern auf, den Adel des Imperiums, die er aber jederzeit von sich abhängig und damit kontrollierbar machte. Die patriotische Elite tut alles dafür, Russlands Unabhängigkeit gemäß den Befehlen Putins zu verteidigen. Alle personellen und materiellen Ressourcen sind zentral zu mobilisieren und einzusetzen. Das System verselbständigte sich so in Richtung einer einzelnen Person an den Machthebeln. Bevor Russland immer periodisch jeweils auf ein neues Machtzentrum zusteuert, kann man die Komposition des „Zentrums“ noch beeinflussen. Danach aber greift ein Rädchen in das andere, der Zarenhof ganz alleine bestimmt das Schicksal des Staates, jegliche Einflussnahme oder gar Widerspruch, Auflehnung ist zwecklos. Ab da wird alles und jeder akribisch kontrolliert, Macht, Machtausübung und -erhalt sind bis ins kleinste Detail ausgeplant und organisiert.

Dabei wechselt der Autor in den Erzählungen Baranows gekonnt zwischen Dialogen, Ereignisbeschreibungen, Meinungen sowie Gedanken. Das alles mal humorvoll mal ironisch, aber stets erschreckend real. Macht in Russland bedeutet auch vage, unbestimmt, unklar zu bleiben. Freunde und Sympathisanten von heute können schnell als die zukünftigen Feinde des Regimes gelten und abserviert werden. Diese Unsicherheit stärkt wiederum Loyalität und Stärkung der Macht der Zentrale. Das russische Volk kann mit Diversität nichts anfangen, es hat eine ganzheitliche Auffassung von Macht. Putin hat die einzigartige Gabe, wie eigentlich nur Zaren, nicht nur vorzugeben, die Geschicke des Staates zu lenken, sondern Macht mit fester Hand zu ergreifen. Der Russe an sich, so Baranow, gewöhnt sich und assimiliert sich an alles, frei nach dem Motto: Alles, was einen nicht umbringt, macht einen stärker.       

Wie real der Roman in dieser Hinsicht ist, zeigt die Beschreibung der Begegnung von Baranow mit Prigoschin, der am 23./24. Juni 2023 mit seiner Wagner Gruppe den Marsch auf Moskau und damit den Aufstand wagte. Zwei Monate später kann er bei einem ungeklärten Flugzeugabsturz um Leben. Es sei dabei darauf hingewiesen, dass der Roman vor diesen Ereignissen publiziert wurde. So, als hätte Da Empoli das vorhergesehen!

Die unterschiedlichsten Situationsbeschreibungen, Einblicke in die Gedankenwelt der Protagonisten und die Gespräche verdeutlichen, wie wenig vorhersehbar dann letztendlich auch der Einmarsch in die Ukraine war. Aber vor allem auch, dass ein Sturz Putins von innen heraus mehr als unwahrscheinlich ist. Die russische Elite vergisst die Opfer der Vergangenheit nicht, die Demütigungen, die Armut. Deswegen folgen sie uneingeschränkt dem, der ihnen und dem russischen Volk, Weltmachtstreben, vermeintlichen Wohlstand und Perspektive zurückgibt. Aber auch eine gewisse Disziplin und Ordnung sei nun zurück, zu ausschweifend und zügellos war manchen das simple Nacheifern westlichen Freiheitsdrangs.       

Da Empoli erläutert auf zwei Erzählebenen, einerseits auf der des Literaturwissenschaftlers, andererseits auf der von Baranow, nachhaltig einem breiteren Publikum das Mysterium Putin, seinen Aufstieg und seine Sicht auf die Welt. Da Empoli bildet durch eine Art „Schlüssellochblick“ einen teils neuen Blick auf die unmittelbare Umgebung von Putin und entmythologisiert das lange vorherrschende Bild des „Lonely Cowboys“, der sich quasi selbst an die Spitze des ehemaligen Zarenreiches Reiches gehievt hat. Hierin liegt die wesentliche Leistung des Buches. Das Reich des Zaren wurde aus dem Krieg geboren, und es war nun folgerichtig, dass es am Ende wieder zum Krieg zurückkehrte. Quasi nebenbei gibt er einen interessanten Einblick in die verborgene Privatsphäre der Entourage des russischen Präsidenten und lieferte eine Beschreibung des russischen Systems aus Macht und Politik gleich mit. Putins Größe resultiert darin, die Fäden der russischen Geschichte wieder aufgenommen, sie verknüpft und ihr Zusammenhalt gegeben zu haben.

 

Fazit: Das Mysterium Putin, sein Aufstieg und seine Sicht auf die Welt als fiktiver Roman.

 

Andreas Pickel

4/5 Sterne
4/5 von 5

© 2024 Andreas Pickel, Harald Kloth, Cover: Copyright © Verlag C.H. Beck

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