Benjamin Lahusen: Der Dienstbetrieb ist nicht gestört

Die Deutschen und ihre Justiz 1943 - 1948

München ; C.H. Beck ; 2022 ; 384 Seiten ; ISBN 978-3-406-79026-3

Auf dem Buchcover ist im Vordergrund eine Statue mit Schwert und Waage abgebildet, im Hintergrund ein Gebäude
Copyright © Verlag C.H. Beck

 

Am 24. Februar 2022 startete Russland seine als „Spezialoperation“ titulierte Invasion in die Ukraine. „Das Recht als System kann solche Vorgänge verdrängen ... Ein Mensch kann das nicht“, schreibt Lahusen dazu in seinem Vorwort. Als 1945 gegen Ende des proklamierten tausendjährigen Dritten Reiches die staatliche Ordnung nur noch rudimentär funktionierte, sollte man davon ausgehen, dass durch Bombenangriffe auch auf Justizgebäude sowie den massenhaften Abzug von dem in der Justiz eingesetztem Personal auf allen Ebenen (von den höchsten Richtern bis zur Schreibkraft) es selbstverständlich in großen Teilen des Reiches und in den eroberten und annektierten Gebieten zu einem Justitium, also einem Stillstand der Rechtspflege kam. Weit gefehlt, es gab einen Bereich, der unverändert weiterzuarbeiten schien: die Justiz!

 

Zu welchen abstrusen Regelungen, Entwicklungen und Verfahrensabläufen es deswegen zwischen 1943 und 1948 kam, erläutert teils humorvoll, aber absolut umfassend Benjamin Lahusen in seinem außergewöhnlichen Buch: »Der Dienstbetrieb ist nicht gestört. Die Deutschen und ihre Justiz 1943 – 1948«.

Benjamin Lahusen, Professor für Bürgerliches Recht und Neuere Rechtsgeschichte an der Viadrina in Frankfurt/Oder, ist seit 2020 auch Geschäftsführer der Beratenden Kommission im Zusammenhang mit der Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturguts, insbesondere aus jüdischem Besitz.

Nach einer Einleitung nähert sich Lahusen dem Thema in insgesamt sieben Kapiteln. Er hat dazu ca. 40 Archive in den verschiedensten Ländern durchforstet. Seine Erkenntnisse fußen somit auf einem reichen Literaturfundus. „Das Recht durfte
den Krieg nicht stören, aber umgekehrt durfte auch der Krieg das Recht nicht zu sehr stören“
, war die vorgegebene Leitlinie für die Justiz, so der Autor. De facto kam es auch nie zu einem Justitium, der juristische Dienstbetrieb wurde mehr oder weniger ununterbrochen am Laufen gehalten, so gesehen wurde stets und ständig ein gewisser Grad an Normalität erhalten. Dies ist das Thema des ersten Kapitels, in dem Lahusen aufzeigt, wie trotz Einbruch und Rückzug an allen Fronten der Gerichtsbetrieb aufrechterhalten wurde. Selbst als in den zahlreichen Bombennächten Justizgebäuden dem Erdboden gleichgemacht wurden,
verhandelte und urteilte man weiter. Es wurden die Standorte der Gerichte verlegt, tonnenweise Akten und Mobiliar inklusive des die Dokumente verwaltenden Personals umgezogen, um unerwünschte Unterbrechungen zu vermeiden. Der Autor
unterstreicht hier die jederzeitige Loyalität sowie das Pflichtbewusstsein des in der Justiz eingesetzten Personals auf allen Ebenen. Durch diesen somit weiterhin gesetzten rechtlichen Rahmen um alle Weisungen und Maßnahmen, konnte erst der von Goebbels proklamierte totale Kriege um- und vor allem durchgesetzt werden.

Im zweiten Kapitel zeigt Lahusen wie in einem Drehbuch für ein Theaterstück anhand der fiktiven Stadt „Neustadt“, wie man sich den juristischen Dienstbetrieb in einer deutschen Kleinstadt gegen Ende des Zweiten Weltkrieges vorzustellen hat. Anhand akribisch analysierter Aktenbestände beschreibt er eine Synthese verschiedenster Gerichte auf verschiedenen Ebenen, also anhand real so stattgefundener Fällen und rekonstruiert so ein prototypisches Amtsgericht. Der Überfall auf Polen stellte das Deutsche Reich grundbuchrechtlich vor immensen Herausforderungen. Der Kampf der Soldaten um Lebensraum im Osten galt es aktenmäßig nachzubereiten mit allem Sinn Deutscher Bürokratie und Improvisationskunst. „Das deutsche Grundbuch traf auf unbekannte Regionen“, so Lahusen. Deswegen beschreibt er im folgenden Kapitel, Parzellierung des Todes, die grundbuchmäßige Erfassung von Auschwitz als Beispiel einer Art „bürokratischen Faktenschaffung“ in den eroberten und besetzten Gebieten als eine Form der grundbuchrechtlichen Nachbereitung des Rassenkrieges. Dies erfolgte durch das zuständige Amtsgericht dort, was erst ein Jahr vor Kriegsende durch den notariellen Vertrag zwischen der IG Farben, die ihre dortigen Investitionen juristisch abgesichert haben wollten, und dem Deutschen Reich protokolliert wurde. Erst jetzt war somit das Konzentrationslager als Hort von Sklavenarbeitern und Massenmord ordnungsgemäß beurkundet.

Ein Paradebeispiel für einen Juristen im nationalsozialistischen Regime beschreibt Lahusen dann mit Hans Keutgen in Kapitel 4, bis zuletzt Richter am Sondergericht in Aachen. Pflichtbewusstsein, Treue und Gehorsam für das Regime vereinigten sich bei ihm exemplarisch, war er doch als treuer „Parteisoldat“ Rechtsreferent in der Hitler-Jugend, SA sowie NSDAP. Wie viele seiner Berufsgenossen, wurde er bereits am 15. August 1945, also unmittelbar nach Kriegsende, wieder als Richter zugelassen und am 29. Januar 1946 offiziell ernannt. Etwaigen Untersuchungen gegen ihn verliefen schnell im Sande, konnte er doch nachweisen, lediglich ein Mitläufer im mörderischen System gewesen zu sein. Dies obwohl er nachweislich Todesurteile fällte.

„Auf der Flucht“ heißt das fünfte Kapitel und thematisiert die aufgrund der zurückgedrängten Wehrmacht notwendige Verlegung von Gerichtsbehörden in der Endphase des Krieges. Dachte man zunächst, alles wäre nur „z.Zt.“, war spätestens mit Beginn der russischen Offensive in Ostpreußen am 12. Januar 1945 klar, dass der Verlust von Terrain für immer sein wird. Überrascht von der Schnelligkeit des Vorstoßes, wurde aus „geordneter Rückführung“ bald pure Flucht. Deutlich wird hier, so der Autor, dass die vollständige Sicherung von Akten und Dokumenten aufgrund seines Umfangs und damit schon allein schier aus Gewichtsgründen unmöglich schien. Trotzdem ging auch hier die Rettung von Papier vor der Rettung von Menschen. Um jedoch zu verhindern, dass es durch die ständigen Verlagerungen zu einem Stillstand kam, wurden Sondergerichte etabliert, die mühsam versuchten, die Arbeit von Hunderten von Gerichten aufzufangen. Fortsetzung der Rechtspflege somit bis zum bitteren Ende.

Im vorletzten Kapitel beschreibt Lahusen dann das Justitium als solches, was jedoch selbst in der Interimsphase zwischen der Kapitulation des deutschen Reiches und der Übernahme und Regelungen in den Besatzungszonen keiner war. In einem Art Wettlauf sei es den Besatzungsmächten darum gegangen, schnellstmöglch die Arbeitsfähigkeit der Gerichte wiederherzustellen, egal wie! Dabei unterstreicht er, dass in den französischen, britischen und amerikanischen Besatzungszone, ehemalige, NSDAP-treue Juristen als unverzichtbar für den Wiederaufbau einer demokratischen Legislative galten, während man in der sowjetischen Besatzungszone (SBZ) alle mit der NSDAP in Verbindung gebrachten Juristen ihrer Posten enthob und durch Volksjuristen ersetzte.

Im letzten Kapitel „Die Abwicklung“ beschreibt der Autor die juristische Abwicklung des Krieges, was aber mangels eines Friedensvertrages völkerrechtlich nicht möglich war. Letztendlich blieben zunächst nur ca. 50 Landgerichte und 550 Amtsgerichte übrig. Erst sieben Jahre nach dem Krieg einigten sich Bundestag und Bundesrat auf das „Zuständigkeitsergänzungsgesetz“ (Gesetz zur Ergänzung von Zuständigkeiten auf den Gebieten des Bürgerlichen Rechts, des Handelsrechts und des Strafrechts) indem man nun juristisch den Spagat zwischen Vorbehaltsrechte der Alliierten und Ende des Kriegszustandes schaffte. Hier schließt sich auch der Kreis, da dieses Gesetz in seiner geänderten Fassung aus dem April 2006, auch der Auslöser für dieses Buch war.

In Paragraf 245 der Zivilprozessordnung heißt es: „Hört infolge eines Krieges oder eines anderen Ereignisses die Tätigkeit des Gerichts auf, so wird für die Dauer dieses Zustandes das Verfahren unterbrochen.“ Der juristische Dienstbetrieb kam in keiner Phase so richtig zum Stillstand, weder gegen Ende des Krieges bis zur Kapitulation noch in der Phase nach der Kapitulation und der Etablierung der Besatzungszonen. Lahusen zitiert hier treffenderweise bereits aus einem Buch aus dem Jahre 1936, in dem es heißt: „Sind die Richter am Leben, geht das Recht seinen gewohnten Gang, sind sie erst einmal tot, dann auch.“ Es findet sich immer jemand, egal welcher Qualifikation, der dann einspringt und Recht spricht.  Allerdings kann von einer stabilen, geordneten Rechtsordnung nicht die Rede sein, mal mangels Gebäude oder besser Amtssitz, mal mangels Personals, mal mangels Akten, die irgendwie verschollen gingen. Trotzdem wurde, auf welcher Basis auch immer, Entscheidungen und Urteile gefällt, deren Vollstreckung durch die nicht vorhandene Exekutive erneut nur neue Fragen aufwarf. Selbst Aktenzeichen wurden fortgesetzt. Die Normalität des juristischen Dienstbetriebes, die zwischen, unter und neben den Trümmern hervorblitzte, überstrahlte die finstere Gegenwart … So lässt sich die Kernbotschaft dieser Zeit von Lahusen am besten zusammenfassen. Das Recht, so Lahusen, blendete den Krieg weitestgehend aus, es entfaltete sich stets weiter und verwandelte sich wie ein Chamäleon den äußeren Umständen geschuldet immer wieder der Situation an, um nicht zum Ruhen zu kommen. Dies selbst dann, als ab 1944 nur noch unter 40 Prozent der Richterstellen besetzt waren. Ohne Akten, Personal, Gebäude und Gerichtsorten wurde weiter Recht und Unrecht gesprochen. Es wurde weiter über Mörder, Verräter, Volkschädlinge „gerichtet“, um hinzurichten. Selbst einige Wochen nach der Kapitulation am 8. Mai 1945 um 23:01 Uhr, wurden noch Urteil „Im Namen des Deutschen Volkes“ gefällt. Dies bot dem Justizpersonal die stete Illusion einer ungestörten Normalität im kollektiven Ausnahmezustand und erzeugte beim Autor auch eine gewisse Heiterkeit.

Die Handhabung des Wiederaufbaus eines Justizwesens im besiegten Deutschland verlief gänzlich unterschiedlich im Westen, wo im Sinne eines stabilen Rechtsfriedens über 80 Prozent der Stellen mit ehemaligen NSDAP-Mitgliedern besetzt wurden („altgediente Volljuristen“), im Vergleich zur SBZ, wo diese Quote gegen Null ging („neue Volksjuristen“). Die Normalität im Justizwesen des Dritten Reiches wurde so in die Normalität der Nachkriegszeit im Westen transferiert.

In einem Regime, dass unterhalb von Hitler als Leitinstanz von mehreren Machtsäulen getragen wurde, die miteinander verzahnt waren und sich nicht selten bekämpften, die auch vielen Rivalitäten und inneren Konflikten ausgesetzt war, passten die verqueren Logiken der Fortsetzung des Justizbetriebes perfekt. Trotz eines vor sich hinsiechenden Regimes und Auflösungserscheinungen an allen Ecken und Enden wurde an Zuständigkeiten, Vorschriften, Abläufen festgehalten, so dass
das System so manches Unrechtbewusstsein verschluckte. So waren es vor allem neben Techniker, Ingenieure und Mediziner eben die Juristen, die einerseits vom Regime gebraucht wurden, aber im Wissen um ihre Wichtigkeit auch unheimlich
profitierten – so wie später auch beim Wiederaufbau des sich am Boden befindlichen Deutschlands. Man verwaltete mit dem im nationalsozialistischen Regime üblichem Perfektionismus den eigenen Untergang, sachlich, nüchtern, realitätsfern, so die auf den Punkt gebrachte Analyse Lahusens. Die Justiz war im System ein Vorbild an Dienstbeflissenheit, Hort der Ruhe sowie Garant der Ordnung und damit ein Kontinuum für das Volk.

Auch in anderen Ländern gab es nationalistische Strömungen, aber die Nachwehen des Ersten Weltkriegs und das Trauma von Versailles radikalisierten die auch ökonomisch befeuerten Strömungen in Deutschland im Besonderen und damit den
speziellen Charakter der NS-Diktatur. Gerade die im Justizwesen eingesetzten „Werkzeuge“ Hitlers waren Akademiker aus Familien höherer Schichten waren. Diese waren im Schatten der für jedermann sichtbaren Schlägertrupps die eigentlichen
(administrativ wie exekutorisch) Stützen der Verbrechen. Diejenigen Verwaltungseliten, die aktiv ein mörderisches Regime unterstützten, waren paradoxer Weise auch dieselben, welche dann mithalfen, eine Demokratie zu errichten. Die von den Alliierten und fast allen Parteien hingenommene Einbindung von Tätern in das nachkriegsgeschichtliche Bürgertum, neutralisiert deren Taten und die immerwährende Belastung der Gesellschaft mit den Verbrechen des Regimes.

 

Fazit: Lahusen präsentiert selbst für Geschichtsinteressierte grundsätzlich vieles Neues, das vorliegende Werk ist eine glänzende Analyse und zusammenfassende Darstellung seiner langjährigen Beschäftigung mit dem Justizwesen im nationalsozialistischen Regime. Dies alles in einem hervorragend zu lesenden, spannenden und damit fesselnden Schreibstil. Ohne durch inhaltliche Sprünge den Leser zu überfordern, überzeugt Lahusen mit einer Fülle an Informationen, seiner Analyse und Nachvollziehbarkeit seiner Argumentation und Thesen.

Andreas Pickel

5 Sterne
5 von 5

© 2023 Andreas Pickel, Harald Kloth, Cover: Copyright © Verlag C.H. Beck

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