Mathias Énard

Zone

Roman

In meinen vielen Rezensionen zu zeitgeschichtlichen Neuerscheinungen habe ich oft genug herausgestellt, dass sich Geschichte am besten durch Zeitzeugen erzählen lässt, da nur so dem Leser die Eindrücke plastisch beschrieben und der herrschende Zeitgeist wiedergeben werden kann. Andererseits muss man gerade bei Biografien sehr darauf achten, dass sich nicht jemand von möglicher Schuld reinwaschen möchte, objektiv festgestellte Tatsachen leugnet. Auch geht manchmal durch die auf eine bestimmte Zeit und Raum begrenzten eigenen Erfahrungen der Blick auf die Rahmenbedingungen und äußeren Umstände verloren, Geschichte wird durch die Überlagerung von lediglich aufgelisteten und nicht in den Zusammenhang gestellten Erlebnissen konterkariert. Nun hat der noch junge Autor Mathias Énard ein monumentales Kriegsepos herausgebracht, was Augenzeugenberichte, historische Zusammenhänge und Spannung einem Buch in einzigartiger Art und Weise vereinigt.

 

1.500 lange Zugkilometer legt der ehemalige Kriegssöldner und Agent Francis Servain Mirkovic, jetzt unter dem Decknamen Yvan Deroy reisend, zwischen Paris und Rom zurück, um einen Koffer voller Akten und Disketten, Unterlagen, die Beweise für unzählige Gräueltaten und Kriegsverbrechen liefern sollen, an den Vatikan zu übergeben - wie es sich für einen Söldner gehört, gegen großzügiges Entgelt natürlich. Rom soll für ihn, obwohl noch keine 40 Jahre alt, auch seine persönliche Endstation werden, eine Endstation, an der hoffentlich die Vergangenheit auch in seinem Kopfe ruhen möge. Ab Mailand, also auf den letzten 500 Kilometern werden wir sein Begleiter, Begleiter einer Odyssee durch grauenvolle Erinnerungen, Erinnerungen an Kriegserlebnisse, die ohne Punkt in Ich-Form in einzigartig plastischer Art und Weise Grausamkeiten und Todessehnsucht wiedergeben.

 

Noch gezeichnet von einer durchzechten Nacht, gezeichnet von jahrelangem Drogenkonsum und Aufputschmitteln, gezeichnet von posttraumatischen Erlebnissen, werden wir Mitfahrer in einer scheinbaren Phantasiewelt, so unglaublich klingen die Erlebnisse, dabei sind sie leider traurige Realität. Die „Zone“ ist sein Einsatzgebiet, das Gebiet zwischen Nordafrika und Südeuropa, hier im Schwerpunkt der Balkan, im Westen die Straße von Gibraltar, im Osten der Vordere Orient. Zunächst nimmt er als Freiwilliger auf kroatischer Seite, getrieben von seiner den Faschismus verehrenden kroatischen Mutter, an den Balkankriegen teil, danach als Agent für den französischen Geheimdienst an so manches „Scharmützel“ in Nordafrika und im Nahen Osten. Dabei ist er bei weitem nicht das, was man einen loyalen Staatsdiener nennen kann, wie ein Fähnchen im Wind dreht und wendet er sich, kooperiert mit vermeintlichen Feinden, verrät angebliche Freunde, stets den eigenen persönlichen Profit und das eigene Wohlbefinden, aber vor allem das nackte Überleben vor Augen.

 

Auf der unendlich erscheinenden Zugfahrt laufen die Landschaften und Ortschaften in einer Schnelligkeit an Mirkovic vorbei, wie seine Kriegserlebnisse. Ohne den Fluss des Erzählens und Berichtens zu unterbrechen, springt er von einem Schauplatz zum Nächsten. Dabei zieht er Parallelen des Erlebten von den Perserkriegen über Troja, den Napoleonischen Kriege bis hin zu den Morden, Gräueltaten und Deportationen der SS-Einsatzgruppen im Zweiten Weltkrieg. Nichts, aber auch gar nichts in einer Welt von Mördern und Schlächtern wird uns, dem Leser, vorenthalten. Durch diese Methodik gelingt es dem Autor, dem Leser alle Schauplätze präsent vor Augen zu halten und in seinen Bann zu ziehen, obwohl einen die Grausamkeiten eigentlich dazu veranlassen, das Buch bei Seite zu legen. Ohne durch diese Sprünge den Leser zu überfordern, überzeugt das Buch mit einer Fülle an Informationen, seiner, wenn auch versteckten, Analysen und Thesen.

 

Énard gelingt es, wie kaum ein Zweiter, in einer Art inneren Monolog bekannte Handlungsstränge und Prozessen sowie der Wahrnehmung und den Gefühlen der Beteiligten mit denen der Opfer, aber auch von Unbeteiligten zu verbinden. Gerade die immer wiederkehrenden Stimmen der Täter, aber vor allem der Opfer, der immer wieder wechselnde Blickwinkel der Betrachtung, heben das Buch ab von einer rein technischen und prozessorientierten Abhandlung, die nur Daten und Fakten aneinanderreiht und kurz bewertet. Das Böse im Menschen, in uns allen, der Wolf im Menschen ist allgegenwärtig.

 

Fazit: Énard hat ein Meisterwerk geschaffen, eine wahre Symphonie der großen und kleinen Kriege, wie es ein Richard Wagner musikalisch nicht monströser hätte komponieren können. Énard, der am Institut national des langues et civilisations orientales (INALCO) in Paris die arabische und persische Sprache studierte und sich danach länger im Mittleren Osten aufhielt, weiß wovon er spricht. Die Erzählungen seines „Helden“ über Gewalt und Gegengewalt, Rache und Folter in Verknüpfung mit realen Geschehnissen ist schlichtweg bemerkenswert. Am Ende ist der „Held“ zwar im übertragenen Sinne ausgestiegen, aber seine gesammelten Dokumente, sein Gewissen ist er nicht losgeworden – so wie wir, die Leser die Geschehnisse so schnell nicht loswerden. Ein wirklich großer Wurf.

 

Andreas Pickel

5 Sterne
5 von 5

© 2011 Andreas Pickel, Harald Kloth