Walter Moers

Wilde Reise durch die Nacht

Roman

Frankfurt am Main : Eichborn, 2001. - ISBN 3-8218-0890-X


Eine nächtliche Schifffahrt, verfolgt von einem tosenden "siamesischen Zwillingstornado", dessen zwei Wasserhosen durch hin- und herzuckende Blitze kommunizieren - schon die erste Seite von Walter Moers neuem Werk strotzt nur so von "Käpt'n Blaubärs Seemannsgarn". Und doch ist diese "Wilde Reise durch die Nacht" ganz anders als der Superknüller von 1999. Dieses Buch ist philosophisch, und das im großen Stil: Es stellt die ewigen Fragen der Menschheit. Was ist der Sinn des Lebens? Woher kommt die Erde? Wie funktioniert die Zeit? Ein kleiner Junge findet auf einer abenteuerlichen Reise quer durchs Weltall die Antworten - natürlich gespickt von typisch Moersschem Humor. Inspiriert und zusammengehalten wird diese klassisch gestrickte Abenteuergeschichte durch 21 phantastische Lithographien des Zeichners Gustave Doré, dem damals bekanntesten, heute nahezu vergessenen Illustrator des 19. Jahrhunderts.

 

Als einziger Überlebender des besagten siamesischen Zwillingstornados findet sich Gustave Doré, der 12-jährige Held der Geschichte, auf dem unaufhaltsam sinkenden Wrack seines Schiffes wieder. So scheint sein kurzes Leben zu Beginn dieses irrwitzigen Märchens bereits vorbei zu sein. Schon pokern der Tod und seine wahnsinnige Schwester Dementia um Gustaves Seele. Da bekommt der unerschrockene junge Zeichner eine zweite Chance: Bis zum Morgengrauen soll er sechs unlösbare Aufgaben erfüllen - dann ist sein Leben gerettet. Auf der wahrhaft wilden Reise, die nun beginnt, wimmelt es nur so von drachenverarbeitenden Jungfrauen, die gerettet, beschränkten Riesen, deren Namen erraten, und schrecklichsten aller Ungeheuern, deren Zähne gezogen werden müssen. Gustave muss einen galaktischen Gully, die Berge des brodelnden Brodems, das Tal der traurigen Triften und zahlreiche andere hübsche Alliterationen durchqueren um schließlich am Mare Tranquillitatis an seiner letzten Aufgabe grandios zu scheitern - zu seinem Glück.

 

Moers erzählt so dicht an Dorés Bildern entlang, dass der Text sich stellenweise wie eine Bildbeschreibung liest. Doch Walter Moers wäre nicht der unvergleichlich komische Comic- und Buchautor, der er ist, wenn seine Interpretation der Zeichnungen das Gezeigte nicht oft ins glatte Gegenteil verkehrten:

 

"Aber warum heißt die Insel dann die Insel der gepeinigten Jungfrauen? Sie machen keinen sehr gepeinigten Eindruck." "Na, den Namen haben sich natürlich die Jungfrauen selber ausgedacht! Stell dir vor, sie hätten sie die Insel der drachenfressenden Jungfrauen genannt. Oder die Insel der lindwurmverarbeitenden Amazonenindustrie!" Der Greif lachte heiser.

 

Hier, so scheint es, treffen zwei der ausschweifendsten Fabulierer aller Zeiten zusammen. So befruchtet Doré posthum Walter Moers sowieso schon überschäumende Phantasie mit neuen Monstrositäten, Absurdem und Gespenstischem. Gegen Dorés gelegentliches Pathos setzt Moers seinen unvergleichlich lakonischen Humor, gegen das Altmodische der Zeichnungen stellt er seine respektlosen und modernen Interpretationen. So tritt die Zeit höchstpersönlich in Gestalt eines geflügelten Schweins mit eiterndem Backenzahn auf. Und auch eine esoterisch anmutende Begegnung mit sich selbst lässt sich in diesem Universum ganz real bewerkstelligen. Dazu braucht es nichts als eine "raumzeitkontinuierliche Möglichkeitsprojektion in einer futuristischen Eventualitätswabe". Die Frage nach dem Sinn des Lebens wird dementsprechend pragmatisch gelöst:

 

"Ich will nicht direkt sagen, dass das Leben keinen Sinn macht..." erklärt das Zeitschwein. "Nur, es äh, es gibt nur... es gibt...äh, es gibt keine...äh..." "Es gibt keine Pointe?" Das Schwein war baff. "Genau!" Die Entstehung unserer Erde? Nicht weiter schwierig: "Man stellt kleine Jungs auf Gasblasen. Das größte Wunder des Weltalls! Kleine Ursache, große Wirkung."

 

Wilde Reise durch die Nacht ist - und das bleibt an keiner Stelle verborgen - vor allem eine Hommage an den meistverbreiteten und produktivsten Illustrator des 19. Jahrhunderts. Denn laut Moers hat es "keinen besseren Illustrator auf diesem Planeten gegeben. Und es wird wohl auch keiner mehr folgen."

 

Fazit: Eine humorvolle, klassisch gestrickte Abenteurreise mit dem begnadeten Illustrator Doré.

 

Julia Büttner

4 Sterne
4 von 5

© 2003 Julia Büttner, Harald Kloth