Waren die im Westen geführten Feldzüge der deutschen Wehrmacht noch durch die klassische Vernichtung gegnerischer Armeen gekennzeichnet, ergab sich für den Eroberungs-, Versklavungs- und Vernichtungskrieg der "Operation Barbarossa" ein ganz anderes Bild. Der ideologische Feld-(Kreuz-?!)zug der sogenannten "Einsatzgruppen" war dabei neben der industriellen Vernichtung der Juden in Konzentrationslager eines der dunkelsten Kapitel deutscher Geschichte. Als bahnbrechend gilt hierzu die 1981 erschienene Studie Die Truppe des Weltanschauungskriegs von Helmut Krausnick und Hans-Heinrich Wilhelm. Etwa 500.000 ermordete Menschen hinterließ ihr mörderischer Weg. 1,6 Millionen Juden fanden insgesamt in der Ukraine den Tod. Doch was bewegt einen Mathematiklehrer Pfarrer zu werden und sich in zahlreichen Reisen in die Ukraine auf der Suche nach dem "vergessenen Holocaust" zu machen?
Desbois Großvater wird 1942 in das galizische Lager Rawa Ruska deportiert und dort Augenzeuge des Mordes an Tausenden von Juden. Lange Zeit schweigt der Großvater zu seinen Erinnerungen an die Kriegszeit, auch wenn das Wort "Rawa Ruska" sporadisch in der Familie fällt. Das penetrante Nachfragen seines wissbegierigen siebenjährigen Enkels ringt dem Großvater schließlich die Worte „Für uns im Lager war es schwer. Aber für die anderen war es noch schwerer“ ab. Erst Jahre später begreift Desbois wer die "Anderen" sind. Das Verlangen nach Wahrheit lässt ihm keine Ruhe mehr, bis er beschließt, dem Unglaublichen und Vergessenen auf die Spur zu kommen.
Desbois, strenger Katholik, ist zunächst als Mathematikstudent und später als Lehrer in Indien, wo er unter anderem Mutter Teresa begegnet. Beeindruckt von seinen Erfahrungen mit Gott beschließt er schließlich Priester zu werden. Schon bald beschäftigt er sich intensiv mit dem Judentum und vor allem dem Holocaust. Besuche an den Schauplätzen des grausamen Weltanschauungskrieges führen ihn auch in die Ukraine. Schnell erkennt er, dass dort der Massenmord anders ablief als in den Konzentrationslagern. Belgeitet von einer Dolmetscherin, Ballistiker, Protokollanten, Archivforscher, Spurensicherer sowie einem Fotografen macht er sich alsbald für sein Kurzzeitprojekt ("Wir habe nur noch ein paar Jahre, dann sind die Zeugen tot") auf die Suche nach den Tatorten und den verschollenen Massengräbern. Dabei hilft ihm sein Beruf des Priesters, öffnen ihm doch die ukrainischen Kollegen den Zugang zur Bevölkerung, den Augenzeugen. Obwohl die Erinnerungen über 60 Jahre zurückliegen erinnern sich die oft weit über Achtzigjährigen teilweise an jedes Detail. Die Tatorte werden ohne langes Suchen direkt angesteuert. Auf die Frage, warum man sich erst jetzt öffnet, folgt unisono die Antwort: „Man hat uns nie gefragt!“
Desbois trifft in seinen Untersuchungen auf drei Arten von Zeugen: die indirekten Zeugen, die die Massenmorde nicht unmittelbar gesehen, aber davon gehört haben und den Abtransport beobachten konnten. Die direkten Zeugen, die die Aktionen selbst beobachteten. Und schließlich diejenigen, die gezwungen wurden, das Morden aktiv zu unterstützen.
Desbois konfrontiert den Leser mit schaudernden Originalinterviews, schockiert mit Augenzeugenberichten, wenn Sie erläutern, dass tagelang Blut aus den Gruben lief, die Erde sich noch drei Tage bewegte, da viele Schüsse nicht tödlich waren und die Grube so einige Zeit brauchte "um zu sterben" oder man barfuß die Leichen platt trampeln musste, um noch mehr unterbringen zu können.
Damit jedem klar wird, dass er nicht nur irgendwelche Hirngespinste hinterherjagte, lässt er schließlich in Busk ein vermeintliches Massengrab öffnen. Leiche um Leiche kommt zum Vorschein. Tausende weitere werden im "Gräberland" Ukraine auf ewig verborgen bleiben.
Die Täter gingen relativ offen ihrer mörderischen Profession nach. Ihnen war bewusst, dass Zeugen ihre mörderischen Aktionen zwar sehen und hören konnten, aber aufgrund der Unglaublichkeit der Taten ihnen niemand glauben würde. Auch war es vielen gleichgültig was da passierte, solange man die Gewissheit hatte, dass man selbst nicht der Nächste sein könnte. Desbois deckt auf, mit welch hoher Professionalität und logistisch perfekt die Massenmorde vorbereitet und arbeitsteilig durchgeführt wurden. Über das Ausheben der Gruben, Zusammentreiben, Entkleiden, Einsammeln der Schmuckstücke, der Tötungsakt, das Entfernen von Goldzähnen, das Vergraben, Verwischen von Spuren, alles war bis zur Perfektion durchgeplant. Die Einsatzgruppen hatten die Anweisung die Juden zu töten, die Art der Tötung blieb ihnen überlassen. Da man von Skeletten leicht auf Massenmord schließen konnte, wurden erst gegen Ende des Krieges in der "Aktion 1005" Gräber geöffnet, die Leichname exhumiert und verbrannt, um den Holocaust zu leugnen. Der schnelle Vorstoß der Roten Armee verhinderte aber ein großangelegtes Tilgen der Spuren.
Die logistische Unterstützung für die Massenmorde wurde entweder bereitwillig durch ukrainische Sicherheitskräfte oder musste unter Zwang durch die Einheimischen Leute selbst gestellt werden. Menschen, die Gruben aushoben, Transportmittel bereitstellten, Wertgegenstände sammelten oder Prostituierte, die zur Belustigung der Deutschen tätig waren, umgaben die Mörder.
Desbois Untersuchung und seine detailgenauen Berichte über die menschenverachtenden Einsätze der Mordkommandos fesseln und schrecken gleichermaßen ab. Da es laut Desbois nur eine Art Menschheit gibt, wurden für ihn einfache Menschen zu Tätern, weil es mittels einer Ideologie gelang das Gewissen so zu korrumpieren, dass Täter, also "Menschen", die Opfer nicht als Menschen und damit als Ihresgleichen erkannten. Oftmals feierten sie ihre "Heldentaten" in alkoholischen Exzessen - einerseits um zu vergessen, aber andererseits auch, um sich für neue Gräueltaten aufzuputschen. Die Folge oftmaliger nervlicher Entgleisungen führte jedoch makabrer Weise nicht zu einer anderen Politik. Im Gegenteil, stattdessen vervollkommnete das NS-Regime seine Mordmethoden beispielsweise durch die Ausstattung der Einsatzgruppen mit den sogenannten Gaswägen.
Desbois ist stark verbittert, verbittert darüber, dass zwar die deutschen Nachkriegsregierungen und der Volksbund Deutscher Kriegsgräber akribisch die Leichname aller verstorbenen Soldaten und auch die der Mörder der SS suchten, um ihnen ein würdevolles Begräbnis zu ermöglichen. Die ermordeten Juden, die die meisten Qualen zu erleiden hatten, lagen weiterhin würdelos in Ihren dahinsiechenden Massengräbern, ohne dass irgendjemand sich darum scherte. Als Deutscher verfällt man dafür in Scham. Desbois geht es auch darum, den Toten Gerechtigkeit und Würde widerfahren zu lassen.
Auch wenn Desbois für sich reklamiert, sich auf die Suche nach dem "vergessenen Holocaust" zu begegnen, gibt es bereits vergleichbare Untersuchungen. Hervorzuheben ist das 2004 herausgegebene monumentale Werk von Andrey Angrick Besatzungspolitik und Massenmord, der den mörderischen Weg der in Transnistrien, auf der Krim und im Kaukasus, also im Bereich der 11. Armee und später der Heeresgruppe A operierenden Einsatzgruppe D beschreibt und damit u. a. den ukrainischen Holocaust publik gemacht.
Nichtsdestotrotz ein gutes Buch über eine akribisch bis an die persönlichen psychischen und physischen Grenzen durchgeführte Recherche über eine der radikalsten Formen der Umsetzung des Rassenwahnsinns. Desbois gibt nicht den wütenden Tätern ein Forum, sondern den Augenzeugen, die jahrelang schwiegen oder schweigen mussten (in der Sowjetunion war es nicht statthaft, über jüdische Opfer zu sprechen). Durch deren detailgenaue Beschreibung des persönlichen Handanlegens erfährt der Genozid an den Juden eine neue Dimension der Perversion. Der Mord an den ukrainischen Juden verlief anders als die im Rahmen der Wannseekonferenz beschlossene Industrialisierung des Genozids an den Juden.
Krieg war und ist seit jeher grausam. Die Untersuchungen und die niedergeschriebenen Interviews mit Zeitzeugen über die begangenen Grausamkeiten sind mit einer normalen menschlichen Vorstellungskraft nicht begreifbar. Desbois, den der Holocaust Forscher Lustiger treffend als den "Archäologen des Bösen" bezeichnet, durchbricht das jahrzehntelange Schweigen über den Verbleib von zehntausenden von Juden.
Fazit: Ein wahrlich persönliches Buch, ohne jegliche geschichtswissenschaftliche Verklausulierungen und Fachsprache. Ein Buch, welches unter die Haut geht.
Andreas Pickel
© 2009 Andreas Pickel, Harald Kloth