Ernst Piper

Alfred Rosenberg

Hitlers Chefideologe

Selten war einer der nationalsozialistischen Führungseliten mit so vielen Beinamen und Titeln (unter anderem ideologischer Überwachungsbeauftragter, Weltanschauungsbeauftragter, Parteiphilosoph, Chefideologe, vergessener Gefolgsmann Hitlers, Seelenkämpfer, Schreibtischmann, Journalist aus Leidenschaft) bedacht, hatte aber gleichzeitig während seiner gesamten politischen Laufbahn eine vergleichsweise schwache Position - Alfred Rosenberg, bisher in der Aufarbeitung des Dritten Reiches nur beiläufig erwähnt und in der öffentlichen Erinnerung eine eher unbedeutende Rolle spielend. Nun legt Ernst Piper mit dem Buch Alfred Rosenberg die erste umfassende Biografie über den Weltanschauungsbeauftragten der NSDAP vor.

 

Wie eine Reihe anderer führender Nationalsozialisten (zum Beispiel Hitler in Österreich, Darreé in Argentinien, Heß in Ägypten) wurde Rosenberg nicht in Deutschland, sondern 1893 als Sohn einer wohlhabenden Bürgerfamilie in Reval, Estland, geboren. Seine Kindheits- und Jugenderlebnisse dort sind wohl ein Hauptgrund für seine scharfe Antipathie gegen den Bolschewismus.

 

Schon früh wurde Rosenberg ein enger Weggefährte Hitlers, blieb aber zunächst der Mann im Hintergrund. Nach dem gescheiterten Hitler Putsch in München schien seine Stunde zu schlagen. Kurz vor Hitlers Verhaftung am 11. November 1923 beauftragte Hitler Rosenberg mit der Führung der Partei. Weniger weil Hitler in ihm einen würdigen Vertreter sah, mehr wohl aber, weil der stets loyale Rosenberg von allen in Fragen kommenden Personen die geringsten Machtansprüche stellte. Bald wurde jedoch offensichtlich, dass es Rosenberg nicht gelang, die Partei auf seine Person auszurichten und stattdessen die blanke Anarchie herrschte. Als er am 1. Januar 1924 die „Großdeutsche Volksgemeinschaft“ (GVG) als Ersatz der verbotenen NSDAP gründete, sollte er diese nicht lange führen, sondern wurde bereits im Sommer von Herman Esser und Julius Streicher verdrängt. Nicht das erste und das letzte Mal wurde der spätere „Beauftrage des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP“ („Führerauftrag“ vom 24.01.1934) bei der Besetzung von Schlüsselpositionen übergangen. Als Politiker sollte er erst wieder 1941 die Bühne betreten.

 

So stand zunächst seine publizistische Tätigkeit im Vordergrund. Keiner der nationalsozialistischen Eliten schrieb und veröffentlichte soviel wie er. Das bekannteste Werk ist das 1930 erschienene Buch Der Mythos des 20. Jahrhunderts, in dem er unter anderem die Theorie des organisatorisch-zerstörerischen Chaos der finsteren Welt der Mütter aufstellte. Er legte damit die ideologische Basis für die Ausgrenzung der Frau aus der Politik und er stand ihr nur eine Rolle bei der Fortpflanzung, also als „Hüterin der Rasse“, zu. Seine pseudoreligiösen Ausführungen zum angeblich nordischen und germanischen Ursprungs entstammenden „Neuheidentum“, führten dazu, dass die katholische Kirche das Buch prompt auf den Index der verbotenen Bücher setzte. Sein Weltanschauungsstaat sollte jenseits jeglicher Religion stehen.

 

Unbestritten und hochgeachtet wirkte Rosenberg in der Partei als der Programmatiker und Chefideologe. Seinem Gedankengut folgend, war sein Ziel die Schaffung einer homogenen Gesellschaft aus rassisch Gleichen und propagierte zur Realisierung die Heimholung ins Reich aller als Arier geltenden Auslandsdeutschen. In der propagandistischen Selbstdarstellung präsentierte sich zwar das NS-Regime als ein homogener, monolithischer Block, der getreu der Parole „Ein Volk - Ein Reich - Ein Führer“ hierarchisch strukturiert und einzig und allein durch die Omnipotenz Adolf Hitlers zusammengehalten wurde.

 

Die Wirklichkeit sah anders aus. Das Regime wurde von mehreren Machtsäulen getragen, die miteinander verzahnt waren und sich nicht selten bekämpften. Ebenso war das Regime auch vielen Rivalitäten und inneren Konflikten ausgesetzt. Aber diese Rivalitäten und Konflikte wurden von Hitler geschürt, zumindest duldete er sie. Er setzte auf Teilen, um besser zu herrschen. Als Chef eines Regimes, das er bis zum Schluss fest in der Hand hatte, stand er mit seiner Persönlichkeit und seinen Anschauungen unmittelbar am Ursprung der begangenen Gräuel. Als Bestandteile oder Leitinstanzen dieser Polykratie erschienen die NS-Führungsspitze, die Massenpartei, die SS sowie die Staatsbürokratie und das Militär, die Wirtschaft, die Kirchen und die Wissenschaft. Dieses Bündnissystem zwischen Nationalsozialismus und alten sozialkonservativen Eliten, das dem System Funktionsfähigkeit, Effizienz und Dynamik sicherte, bewährte sich auch in der Rassen- und Vernichtungspolitik.

 

Diese scheinbare Homogenität ergab sich über den in allen Gesellschaftsschichten vorherrschenden Antisemitismus. Dazu sollten in einer ersten Phase solche Inlanddeutsche, die diesem Bild nicht entsprachen, allen voran die Juden, die rechtliche und wirtschaftliche Situation unterminiert und aus der Gesellschaft ausgegrenzt werden. In einer zweiten Phase (ab 1939) zog man zunächst die Möglichkeit einer territorialen Lösung der „Judenfrage“ in Erwägung, in der man durch die Errichtung großer "Judenreservate" in Osteuropa, auf Madagaskar und an anderen entfernten Orten den Juden so schlechte Lebensbedingungen bieten wollte, dass sie zum Aussterben verurteilt geworden wären. Auch begannen die NS-Rassenfanatiker hier, die Methoden für den organisierten Massenmord zu erproben. "Umsiedlung", „Evakuierung“ und „Endlösung“ wurden zwar oftmals noch im Sinne einer räumlichen Massendeportation genutzt, beinhalteten aber zusehend die Perspektive eines physischen Endes der Juden in Europa.

 

Vor dem Hintergrund des Überfalls auf die Sowjetunion bildete sich 1941 ein allumfassendes Programm der Endlösung heraus, das in der dritten und letzten Phase der NS-Rassenpolitik unter versuchter Geheimhaltung in die Praxis umgesetzt wurde. Die Bedeutung der Begriffe „Vernichtung“ und „Ausrottung“ konnten nun ausschließlich als Synonym für Völkermord genutzt werden. Zuletzt endete diese menschenverachtende Weltanschauung in der grausamen Liquidierung von Millionen von Juden. Rosenberg ging es also um den Aufbau einer Volksgemeinschaft, in der für das Judentum, als „raffendes Kapital“, kein Platz war. Diese über Jahre anhaltenden Serie von Massakern, von unvorstellbaren Leid und Grausamkeiten war aber nur mithilfe von Hunderttausenden - teilweise hoch motivierten - Tätern und Helfern, beobachtet von einer noch weitaus größeren Zahl von Augenzeugen, möglich. Um das zu erreichen, proklamierte Rosenberg den Charakter und Art des in Deutschland einzigartigern Nationalsozialismus im Gegensatz zum „Nationalen Sozialismus“, der auch anderswo in Europa beobachtet werden konnte.

 

Rosenbergs Ziel war die Macht über die Seelen der Menschen, durch Erziehung, über die Kulturpolitik und dem entschlossenen Kampf gegen die Kirche. Laut Rosenberg begründete sich der Antisemitismus in der Vereinigung von Marxismus und Kapitalismus innerhalb der jüdischen Gesellschaft - und das Bollwerk des Weltjudentums war die Sowjetunion, welches durch ein willenloses Volk gliechen Gedankenguts bekämpft werden musste.

 

Da sich die wirre Utopie einer rassisch homogenen „Volksgemeinschaft“, die als &bdqo;Herrenvolk“ den europäischen Kontinent dominieren sollte, nicht verwirklichen ließ, versuchten die Nationalsozialisten ihre Ziele auf negative Weise zu erreichen: durch Ausgrenzung, Vertreibung und schließlich durch Massenmord.

 

Durch seine programmatischen Arbeiten, etablierte sich Rosenberg schon früh als außenpolitischer Berater der Partei und als Experte für den Osten war der „engstirnige Balte“ Alfred Rosenberg ohne Zweifel der Hauptverantwortliche für Hitlers Russlandbild. Nur durch die Vernichtung der Sowjetunion war Deutschland zu retten - in den weiten Russlands sollte der Lebensraum für das arische Deutschland liegen.

 

Am 2. April 1941 wurde Rosenberg als Leiter des außenpolitischen Amtes der NSDAP damit beauftragt, ein Konzept für die Verwaltung der Reichkommissariate zu erarbeiten. Kurze Zeit später wurde er zum „Beauftragten für die zentrale Bearbeitung der Fragen des osteuropäischen Raumes“ bestellt und Übernahm damit die Leitung über die vier Reichskommissariate (die sich wiederum in Generalkommissariate untergliederte), das RK Moskau (zu deren Besetzung es wegen des entschiedenen Widerstandes der Sowjets nie kam), RK Ostland, RK Ukraine und des wegen des Erdöls wichtigen RK Kaukasus (hier konnte nur der nördliche Teil für einige Monate besetzt werden). In der Umsetzung zeigte sich aber erneut seine schwache Position, stattete Hitler doch Göring und Himmler mit weit reichenden Vollmachten aus, während Rosenbergs ohnehin nicht klar definierten Verantwortungsbereich ständig beschnitten wurde.

 

Im Allgemeinen war er für alles, aber konkret für nichts zuständig. Dies betraf ebenso die Personalbesetzung innerhalb seiner Behörde, die ihm oftmals vorgegeben wurde, mit dem Einsatz der SS und von Polizeieinheiten im Rücken der angreifenden Wehrmacht wurde er vor vollendete Tatsachen gestellt. Hitler zur Folge, sollte die eigentliche Macht und Machtausübung bei den Reichs-, General- und Gebietskommissaren liegen, die in den besetzten Gebieten operierenden Polizei- und SS-Truppen sowie die Polizeiverwaltung wurden dem Reichsführer SS unterstellt. Die eigentliche Zentralgewalt, dem Reichsministeriums Rosenbergs, hatte nur Koordinationsaufgaben wahrzunehmen hatte. Seine Ideen und Vorschläge, zum Beispiel die Schaffung von Deutschland abhängiger Vasallenstaaten und den Gewinn der ukrainischen Bevölkerung im Kampf gegen die Sowjetunion, wurden kritisiert und verworfen. So wurde seine Behörde und er selbst erst am 17. Juli 1941, also einen Monat nach Angriffsbeginn, in den Rang eines Ministeriums, des Reichsministeriums für die besetzten Ostgebiete (RMfdbO) beziehungsweise Ministers erhoben. Das RMfdbO war übrigens das einzige Territorialministerium des Dritten Reiches. Auch wenn Rosenbergs Ministeriums ziviladministrativ die Planung der Vernichtungspolitik unterstützte, war ihre Rolle in der Durchführung ehe unbedeutend.

 

Trotz seiner fehlenden Führungsqualitäten und seiner geringen charismatischen Ausstrahlung, die ihm wohl den - unrühmlichen - Eintrag als einer der führenden NS-Köpfe verwehrten, ein Mann, der im Hintergrund die Fäden für Hitler zog und dessen Ideologie die Basis für den grausamen Vernichtungskrieg legte. Rosenberg war also beileibe nicht der Urheber der Vernichtungslager, als ideologischer Vorkämpfer trug er aber einen nicht unerheblichen Anteil. Am 1. Oktober 1946 wurde Rosenberg vom Nürnberger Kriegsgericht in alle vier Anklagepunkten schuldig gesprochen und zum Tode verurteilt. 15 Tage später wurde er hingerichtet.

 

Der introvertierte, selbsternannte Partei-Philosoph war ein kalter und arroganter Charakter, der selbst in den eigenen Kreisen intensive Abneigung gegen sich einte. Vielleicht ist eben wegen dieser Ambivalenz seine Persönlichkeit so spannend. Rosenberg, der bereits in der Anfangsphase von Hitlers politischen Ambitionen einer seiner engsten Werggefährten war, blieb bis zum Untergang des einst als „tausendjährig“ geltenden Dritten Reichs immer in bedeutenden Positionen tätig. In den ganz engen Beraterzirkel Hitlers gelangte er nach 1923 nicht mehr. Obwohl Hitler auf Rosenbergs ideologischer Einschwörung der Bevölkerung angewiesen war, also quasi den Sockel der Macht legte, erkannte er früh, dass Rosenberg nicht der Mann war mit dem man Macht etablieren und durchsetzen konnte. Erfolg und Durchsetzungsvermögen standen für Hitler vor formaler Zuständigkeit - ein Umstand, mit der Rosenberg nie so richtig zu Recht kam. Als Herr des „Dritten Reiches“ verfolgte Hitler die Verwirklichung einer Absicht, die er seit langem festgelegt hatte und dessen zwei wesentliche Punkte die Eroberung von „Lebensraum“ im Osten und die Vernichtung der Juden waren. Diese Idee unterfütterte Rosenberg mit seinem Gedankengut. Als Weltanschauungsphilosoph war er für Hitler unabdingbar, als Politiker wurde er in seinem Aufgabebereich stets limitiert. Er hat ihn nicht fallengelassen, aber auch nie besonders gefördert. Ein Ideologe macht noch keinen Politiker. Somit war Rosenberg nach der Machtübernahme nicht an vorderster Front gefordert und auch nicht 1939. Erst mit der Ideologisierung des Krieges in der Operation Barbarossa 1941 rückte Rosenberg in den Rank eines Ministers.

 

Fazit: Ernst Piper gelingt es in herausragender Art und Weise die Ambivalenz Rosenbergs aufzuzeigen. Ein Buch, das mehr ist als nur eine Biografie, sondern auch tiefe Einblicke in die verwobenen, undurchsichtigen und korrumpierten Strukturen des nationalsozialistischen Deutschlands und des Parteiapparates der NSDAP mit seinen parasitären Lokalfürsten gewährt. Nicht nur aufgrund seiner fast 900 Seiten wahrlich ein monumentales Werk über den Nationalsozialismus.

 

Andreas Pickel

4/5 Sterne
4/5 von 5

© 2005 Andreas Pickel, Harald Kloth