Robert Gerwarth

Reinhard Heydrich

Biographie

Der gerade auch mit den heutigen moralischen Maßstäben absolut unverständliche grausame Völkermord an sechs Millionen Juden gehört zu den meist untersuchten Themengebiete der deutschen Geschichtsschreibung. Nach teils stark divergierenden Interpretationen über die grundlegenden Ursachen der „Endlösung der Judenfrage“ (intentionalistisch versus funktionalistisch), verdichtete sich nach grundlegender Auswertung der Ostarchive in den letzten Jahren zunehmend ein eher einheitliches Bild über die Judenpolitik des nationalsozialistischen Regimes. Nach einhelliger Meinung liegen die Ursachen des Holocausts in einem geradlinigen, im Wesentlichen von politisch-ideologischen Triebkräften bestimmten Weg in den organisierten Massenmord und nicht in einem sich selbst verselbständigenden Prozess. Trotz der Unmengen an Publikationen ist es verwunderlich, dass bis dato über Reinhard Heydrich, über DAS Gesicht des Bösen und DEN Architekten des Terrorregimes, keine auf verlässliche Quellen beruhende, sachlich darstellende Biographie existierte. Diese meines Erachtens nicht unerhebliche Lücke in der Aufarbeitung der schwärzesten Zeit deutscher Geschichte schließt nun der renommierte, in England lehrende Historiker Robert Gerwarth mit einem beeindruckenden Buch.

 

Reinhard Heydrich wurde eigentlich mehr oder weniger zufällig zu dem Organisator des Genozids an den Juden, eine Verkettung von Ereignissen führte ihn in die Schutzstaffel der NSDAP (SS). Finanzielle Probleme im Zuge der Weltwirtschaftskrise des ursprünglich gut situierten Elternhauses (sein Vater war ein bekannter Komponist, Opernsänger und Besitzer des Halleschen Konservatoriums) ließen ihn 1922 zunächst in die Reichsmarine eintreten und die Ausbildung zum Offizier durchlaufen. Bereits in festen Händen, wurde er jedoch am 30. April 1931 aufgrund amouröser Abenteuer und mangelnder Aufrichtigkeit vor dem Ehrenrat der Marine wegen „ehrwidrigen Verhaltens“ aus der Marine entlassen. Ein Gnadengesuch wurde abgelehnt, Heydrich stand im wahrsten Sinne des Wortes auf der Straße. Karl Ebenstein, der Sohn einer Patentante, ebnete ihm schließlich den Weg zu Himmler, dem Chef der SS. Bei einem Vorstellungsgespräch am 14. Juni 1931 überzeugte Heydrich nicht nur mit den SS-Gardemaßen wie blond, blauäugig und einer Größe von 1,85 Meter, sondern auch durch seine Organisationsfähigkeiten. Eine der verhängnisvollsten Symbiosen in der deutschen Geschichte nahm seinen Lauf.

 

War Heydrich in seiner Marinezeit noch politisch eher uninteressiert, gerade an der neuen aufstrebenden nationalsozialistischen Strömung, überzeugten ihn seine fanatisch nationalsozialistisch gesinnte Verlobte und der Wunsch nach einer „Karriere in Uniform“ von einer Karriere innerhalb der SS. Erst in den folgenden Jahren wurde er zu DEM, von der Weltanschauung der Nationalsozialisten getriebenen Täter. Nach und nach arbeitete er sich im Kielwasser von Himmler die Karriereleiter nach oben, erst Chef der bayerischen Politischen Polizei, stand er bereits 1934 an der Spitze des Geheimen Staatspolizeiamtes und blieb parallel Chef des Sicherheitsdienstes. Am 30. Juni ermordete die von Heydrich geführte Gestapo die Führungsspitzen der Sturmabteilung (SA), u. a. ihren Führer Röhm, der noch einzigen Konkurrenzorganisation der SS. Die SS erreichte ihre völlige Unabhängigkeit und Heydrich wurde zum SS-Gruppenführer (vergleichbar Generalleutnant) ernannt. Finanziell nun hervorragend ausgestattet und in den besten Kreisen verkehrend, war Heydrich zwar nicht in der absoluten Führungsriege der Nationalsozialisten, wurde aber zu einem ihrer wesentlichen Protagonisten – und seine Stellung sollte noch weiter ansteigen. Außer beim Polenfeldzug, als SS-Einsatzgruppen im Rücken der Wehrmacht einen bis dato noch nie dagewesenen Terror ausübten, war die Rolle der SS zu Beginn des Zweiten Weltkrieges noch eher unbedeutend, die Stunde Heydrichs kam mit dem Einmarsch in die Sowjetunion am 22. Juni 1941.

 

Waren die im Westen und in Skandinavien geführten Feldzüge der deutschen Wehrmacht noch durch die klassische Vernichtung gegnerischer Armeen gekennzeichnet, ergab sich für den Eroberungs-, Versklavungs- und Vernichtungskrieg der „Operation Barbarossa“ ein ganz anderes Bild. So stellte neben der industriellen Vernichtung der Juden in Konzentrationslager der ideologische Feld-(Kreuz-?!?)zug der Einsatzgruppen eines der düstersten Kapiteln im Dritten Reich dar. Etwa 500.000 ermordete Menschen hinterließ ihr mörderischer Weg – und Reinhard Heydrich war der Planer, Organisator, Kontrolleur. Mit nimmermüdem Einsatz, ob vom Schreibtisch aus oder auch direkt an den Tatorten der Exekutionen, war er DIE treibende Kraft, die NS-Todesmaschinerie stetig zu optimieren, ja zu perfektionieren.

 

Seine „Leistungen“ verhalfen ihm zu einem weiteren Aufstieg. Aufgrund unterschiedlicher Vorstellungen über die Vorgehensweise in den besetzten Gebieten, beurlaubte Hitler persönlich am 23. September 1941 Neurath, der Reichsprotektor von Böhmen und Mähren, auf unbestimmte Zeit und ernannte Heydrich zum Stellvertreter und damit faktischen Führer des Protektorats. Unter seiner Führung wurde die Judenvernichtung sukzessive ausgeweitet und das Reichsprotektorat wirtschaftlich aufs Brutalste ausgebeutet. Auf der durch Heydrich am 20. Januar 1944 geführten Wannsee-Konferenz beschlossen schließlich alle Entscheidungsträger der führenden nationalsozialistischen Organisationen die industrielle Vernichtung der Juden – und der SS wurde dafür die alleinige Führungsrolle übertragen.

 

Am 27. Mai 1942, an einem wunderschönen Frühlingstag, wurde Heydrich bei einem Attentat tschechischer Terroristen schwer verletzt, nachdem er zuvor noch wie ein normaler Familienvater mit seinen Kindern spielte. Am 4. Juni starb er in Folge seiner schweren Verletzungen an einer Blutvergiftung. Wer glaubte, nun würde nach dem Verlust des „mörderischen Superhirns“ das Töten abnehmen, wurde bald eines Besseren belehrt. Durch die nach Reinhard Heydrich benannten „Aktion Reinhard“ fanden nach 1942 alleine in Polen noch 1,8 Millionen Juden den Tod – auf unglaublich grausame Weise durch SS-Gruppen, die Heydrich zu Mördern ausbildete und organisierte, ohne dass sich die meisten der Täter ihre mörderischen Taten bewusst waren.

 

Wie der Autor hierzu nachweist, bewegten sich die Mitglieder der SS und auch Heydrich selbst innerhalb eines „normativen Referenzrahmen“ – es wird etwas getan, was getan werden muss („Die Endlösung ist gewollt und sinnvoll, auch wenn sie unangenehm ist!?!“) –, um den sich das grausame Spiel wiederholte. Die Ausgrenzung und ab 1942 die Vernichtung konnte gar nicht als solche erlebt werden, da es dem Nationalsozialismus ab 1933 in einer unvergleichlichen Geschwindigkeit gelang, die Ausgegrenzten als nicht zugehörig, als nicht mehr präsent darzustellen und es so niemanden näher berührte. Die Einteilung zu einer Gesellschaft in Zugehörigen, die Arier, und Nichtzugehörigen, die Juden, und damit der Mord an den Juden als nutzbringenden und Zweck erfüllenden Vorgang zu betrachten, brachte einen Prozess ins Rollen, der schließlich sechs Millionen Juden denn Tod brachte.

 

In einem System, dass unterhalb von Hitler von mehreren Machtsäulen getragen wurde, die miteinander verzahnt waren und sich nicht selten bekämpften, wurde so manches Unrechtbewusstsein verschluckt. Gerade die SS und die Mitarbeiter im von Heydrich geführten Reichssicherheitshauptamt (RSHA) wurden so ohne weiter darüber nachzudenken zu Mördern, ohne nach eigenem Empfinden etwas moralisch Verwerfliches zu tun.

 

Die von Heydrich aufgestellten Mördergruppen waren alles andere als ein sozial geschlossener Verband, entfalteten dennoch eine erschreckend "homogene", mörderische Wirkung. Oftmals feierten sie ihre „Heldentaten“ in alkoholischen Exzessen – einerseits um zu vergessen, aber andererseits auch, um sich für neue Gräueltaten aufzuputschen. Die Folge oftmaliger nervlicher Entgleisungen führte jedoch makabrer Weise nicht zu einer anderen Politik. Im Gegenteil, stattdessen vervollkommnete die SS unter Heydrich ihre Mordmethoden z. B. durch die Ausstattung der Einsatzgruppen mit den sogenannten Gaswagen.

 

Als bahnbrechend gilt hierzu die 1981 erschienene Studie Die Truppe des Weltanschauungskriegs von Helmut Krausnick und Hans-Heinrich Wilhelm. Während sich jedoch diese Untersuchung auf die im Norden Russlands und im Baltikum operierende Einsatzgruppe A konzentrierte, kann ich für weiterführende Studien das von Andrey Angrick in 2003 publizierte monumentale Werk Besatzungspolitik und Massenmord empfehlen, der den mörderischen Weg der in Transnistrien, auf der Krim und im Kaukasus operierenden Einsatzgruppe D beschreibt. Ein Buch, was unter die Haut geht und nicht für jedermann geeignet ist.

 

Obwohl es sicherlich gerade psychisch schwer fiel, sich so intensiv mit der Person und der Gedankenwelt Heydrichs und seinen tödlichen Konsequenzen zu beschäftigen, sich so intensiv in den Menschen Heydrich zu versetzen, gelingt es Gerwarth in beeindruckender Art und Weise, den Weg vom Karrieristen und perfekten Organisator zum fanatischen Nationalsozialisten und gefühlskaltem Massenmörder darzustellen. Wie so viele Protagonisten des Holocausts, verfügte auch Heydrich über weit überdurchschnittliche geistige Anlagen und war aus gutem Hause der bürgerlichen Mittelschicht. Getrieben von dem Gedanken, dem System das Beste seiner Fähigkeiten zu geben, wurde er verantwortlich für den Tod von zunächst Tausenden, dann Hunderttausenden, schließlich von Millionen.

 

Gerwarths Buch ist nicht nur eine simple Biografie. Fast wie einem Marionettenspieler, gelingt es ihm hervorragend, die unterschiedlichen Fäden, Erklärungen der teils komplexen Strukturen Hitler´s Regime, der Analyse der Machtverhältnisse sowie von Beschreibungen zeitgeschichtliche Ereignisse mit Persönlichem Heydrichs zu entwirren und doch in einen Handlungsstrang zu verbinden. Hier spürt man besonders seine angelsächsische Bindung. Gerade aber mit dem Einmarsch in Polen, der ersten mörderischen Aktionen der Einsatzgruppen, tritt die Biografie mit ihren teils obskuren Beschreibungen in den Hintergrund, ja muss in den Hintergrund treten.

 

Detailliert zeigt er am Beispiel Heydrich auf, wie die Nationalsozialisten und gerade die SS nach und nach radikalisierten, die Juden erst vom öffentlichen Leben ausgrenzten, dann deportierten und in Ghettos zusammenpferchten, bis sie schließlich nur noch ein Ziel vor Augen hatten, die Vernichtung. Gerwarth berichtet uns hier nicht unbedingt Neues, aber er bringt alles in eine Systematik, bringt eine gewisse Logik in diesen Prozess.

 

Fazit: Zusammenfassend liefert das Buch für all diejenigen, die sich erstmalig näher mit dem nationalsozialistischem Sicherheitsdienst beschäftigen wollen mittels der Person Heydrichs einen umfassenden Einblick in Organisation und Durchführung des Genozids bei gleichzeitig noch nie dagewesenen Erkenntnissen über die Person Heydrichs.

 

Andreas Pickel

5 Sterne
5 von 5

© 2012 Andreas Pickel, Harald Kloth