Stefan Weinfurter

Das Reich im Mittelalter

Kleine deutsche Geschichte von 500 bis 1500

Für manche Autoren von Büchern zu zeitgeschichtlichen Themen ist es eine große Herausforderung, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen ihrem Mitteilungsbedürfnis einerseits und dem Informationsbedürfnis des potentiellen Leserkreises andererseits herzustellen. In der Konsequenz wird oftmals ein historisches Ereignis von kurzer zeitlicher Dauer auf bis zu 1.000 Seiten, Forschungsergebnisse zu ganzen Epochen in mehrbändigen Ausgaben in schwer lesbarer wissenschaftlich verklausulierter Sprache abgehandelt. Das es auch anders geht, ohne für die Einordnung des Gesamtzusammenhangs wesentliche Aspekte auszuklammern, zeigt das kürzlich erschienene Buch von Stefan Weinfurter über das Mittelalter in dem er auf knapp 250 Seiten 1.000 Jahre Deutsche Geschichte anschaulich beschreibt.


Weinfurtner setzt ein mit der Auflösung des weströmischen und der Erneuerung des oströmischen Reiches, später auch Byzantinisches Reich genannt. Durch diesen Antagonismus, einerseits ein Machtvakuum im Westen, auf der anderen Seiten bis zum Einfall der Osmanen eine lange Zeit einer unumschränkten Herrschermacht im Osten, entfernten sich, verstärkt durch gewaltige Völkerwanderungen sowie ersten Staatenbildungen, für viele Jahrhunderte der westliche und östliche Teil Europas sowohl im politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und soziologischen Bereich. Eine Trennung, die auch heute noch spürbar ist (Stichwort: Aufnahme der Türkei in die Europäische Union).


Erste Herrschaftsmacht die das Vakuum im westlichen Teil Europas füllten waren die Franken, denen es in kürzester Zeit gelang, ein Gebiet vom heutigen Südwestfrankreich bis zur heutigen deutschen Ostgrenze zu beherrschen. Durch den Übertritt seines Königs Chlodwig vom Heidentum zur katholischen Kirche wurde das Episkopat zur wesentlichen Stütze seines Reiches und seiner Nachfolgedynastien. In der Nachfolge Chlodwigs zerbrach allerdings der starke Zentralstaat durch Aufteilung der Herrschaft in drei selbständige Reichsteile, unter Pippin II. erfolgte im 7. und 8. Jahrhundert zunehmend auch eine Verschiebung der Reichsgrenzen nach Osten. Kurzzeitig bedroht durch die Araber, gelang erst wieder dem Karolinger Karl (später auch Martell, der "Hammer" genannt), ein Sohn Pippins, eine Erneuerung einer einheitlichen fränkischen Oberhoheit. Unter der Regentschaft Karl des Großen erreichte der Aufbau des fränkischen Reiches seinen Abschluss schließlich auch nach Süden hin. Dessen Erfolge hoben ihn in eine Stellung als Imperator, schließlich wurde er 800 durch Papst Leo III. zum Kaiser gekrönt und in der Folge anstelle des Kaisers des oströmischen Reiches als neuer "Herr" auch der Kirche anerkannt.


In der Folge gelang es keinem seiner Nachfolger, das Reich auch nur annähernd zusammenzuhalten. Durch den Einfall der Normannen (Wikinger) aus dem Norden sowie der Magyaren und Araber aus dem südosteuropäischen Raum war das Reich mehrmals stark bedroht. Diese äußere Gefahr hatte auch Einflüsse auf die innenpolitische Konstellation, die Position des Herrschers wurde zugunsten des aufstrebenden Adelsstandes, auf deren Unterstützung er in den Kriegen angewiesen war, zunehmend geschwächt. Charakteristisch für das Ende des 11. Jahrhundert war laut Weinfurtner auch die Herausbildung einer Art neuen soziologischen Ordnungsmusters indem sich die Gesellschaft, ohne dies natürlich offiziell zu formalisieren, in Bauern, die die Ernährung zu sichern hatten, in Ritter, die das äußere Gefüge sicherten sowie in den Klerus, der sich um das Seelenheil kümmerte, aufteilte.


Auch das Zeitalter des Übergangs ins späte Mittelalter war zunächst geprägt durch eine fehlende handlungsfähige weltliche Macht. Heinrich IV. wurde zum berühmten "Gang nach Canossa" genötigt, später behielt sich der Papst auf dem Höhepunkt der klerikalen Herrschaftsmacht sogar das Alleinbestimmungsrecht über den König und Kaiser vor. Auch durch die politische Neuordnung des Reiches - es entstanden Herzogtümer, Grafschaften, die Städte wurden das neue Zentrum des gesellschaftlichen Lebens, eine Art Gerichtsbarkeit wurde aufgebaut - waren nun die Fürsten, die zunehmend auch eine eigene Territorialpolitik betrieben, die eigentlichen Taktgeber des Reiches. Trotz aller dieser Querelen und Ränkespiele um die Macht im Reiche, bezeichnet Weinfurtner diese Ära als das Zeitalter der Selbstfindung. Auch wenn sich das Reich immer noch in Rückgriff auf das römische Kaisertum definierte, so waren doch Ansätze einer ersten deutschen (Staats-)Identität erkennbar. Durch die Aufteilung der Einflusssphären in einen weltlichen und geistlichen Bereich wurde in der Folge die Basis für die Herausbildung eines politischen Staates geschaffen. Aber auch durch die zunehmende territorialübergreifende Zusammenarbeit auf Seite der Fürsten spricht der Autor zu Recht auch von ersten Ansätzen einer Art europäischen Vernetzung.


Nichtsdestotrotz waren immer wiederkehrende weltlich-geistliche Konflikte mit unterschiedlichen Akteuren die Ursache von gewaltigen Rückschritten für die Herausbildung eines innenpolitischen Gefüges, zum Beispiel als Friedrich I., bekannt als Kaiser Barbarossa, Mitte des 12. Jahrhunderts versuchte, dem Papst gegenüber seinen alleinigen Herrscheranspruch durchzusetzen. Stattdessen musste er nach 20 Jahren Kampf und Krieg kapitulieren und erlebte sein eigenes Canossa, indem er sich Papst Alexander III. in einer mehrtägigen demütigenden Zeremonie unterwerfen musste. Auch einer seiner Nachfolger, Friedrich II., suchte Mitte des 13. Jahrhunderts erneut den "Kampf um Leben und Tod" mit dem Papsttum, unterlag schließlich und war so der Totengräber des Hauses Staufer.


Übrigens, unabhängig von diesen Entwicklungen hatten im frühen 13. Jahrhundert im geistlichen Bereich zwei Entwicklungen ihren Ursprung, deren Auswirkungen über Jahrhunderte anhielten. Zum einen entstanden aus der Armutsbewegung heraus die auch heute noch tätigen Ordensbewegungen, beispielsweise die Franziskaner, Dominikaner und Augustiner Mönche. Zum anderen, so der Autor, bildete der Aufschwung der Wissenschaften, also das "Forschen" dann auch das Fundament für das "Nachforschen", also für die Entstehung der Inquisition, mit der Folge von meist willkürlichen Ketzerprozesse. Der Höhepunkt der Inquisition folgte allerdings erst viel später im 16. und 17. Jahrhundert mit den so genannten Hexenverfolgungen und Hexenverbrennungen.


Doch zurück zu den politischen Geschehnissen. Mit dem Ende der Herrschaft der Staufer und dem Beginn der Habsburgerdynastie unter König Rudolf Ende des 13. Jahrhunderts folgte eine Renaissance der Zentralmacht, der Herrscher konnte nun seinen Willen gegenüber den Adel besser durchzusetzen und sich auch zunehmend aus der Unklammerung des Papstes lösen (König Ludwig ließ sich dabei sogar ohne jegliche Papst- oder Kardinalsweihe zum Kaiser krönen!). Vorläufiger Höhepunkt dieser Entwicklungen war die Ende 1356 unter Karl IV. beschlossene neue Rechtsordnung, die sogenannte "Goldene Bulle", deren Etablierung allerdings noch eine geraume Zeit dauerte. Nichtsdestoweniger, das "Heilige Römische Reich" wurde nun zunehmend "Deutscher", verdeutlicht zunächst in der Sprache, in der Folge aber auch in einem ersten Ansatz von Nationalgefühl. Das "Heilige Römische Reich deutscher Nation" wurde immer stärker Sinnbegriff dieser Entfaltung.


Während sich nun das politische Gebilde stabilisierte, hatte andererseits die katholische Kirche ihre Krise zu überwinden, das "Große Abendländische Schisma", als sich gleichzeitig zwei Päpste in der Nachfolge Jesus Christi und als Herrscher über die geistliche Welt legitimiert sahen. Erst die Einberufung einer Versammlung von Kardinälen und Bischöfen 1409 in Pisa, unter dem auch heute noch verwandten Namen "Konzil", beendete die über 100 Jahre dauernde duale "Vertretung Gottes". Fast 10 Jahre später wurde schließlich während des Konstanzer Konzils der Gehorsamsanspruch der Entscheidungen der Konzile für den Klerus festgeschrieben.


Als wesentlich sei noch erwähnt, dass Mitte des 15. Jahrhunderts an anderer Stelle in Europa eine kriegerische Auseinandersetzung tobte, deren Auswirkungen die bisherige europäische Ordnung vollständig auf den Kopf stellten und deren Nachwirkungen bis heute die europäische Staatenordnung prägte. Sultan Mehmed II. gelang es in weniger als 10 Jahren das byzantinische Reich als politische und geistig-kulturelle Bezugsgröße eines rieseigen Raumes auszulöschen und stattdessen die osmanische Kultur zu etablieren.


Im Westen ging man dagegen weiter in kleinen Schritten in die Neuzeit über, durch weitere Reformbewegungen sollte das Verhältnis Herrscher zu Fürsten, Stände und Städte neu geregelt werden. Diese Bewegungen gipfelten schließlich 1495 im Reichstag von Worms, der den Dualismus zwischen Kaiser und Reich institutionalisierte. Das Mittelalter als Epoche geprägt von Angst, Seuchen, Hunger, unterdrückter Freiheit sowie vor allem der ständigen Auseinandersetzung Papst und Kaiser sowie Kaiser und Adel war zu Ende.


Das "Heilige Römische Reich deutscher Nation" definierte sich, so die Schlussgedanken Weinfurtners, auch chronologisch aus seinen Begriffen, zunächst als "römisch", spätestens mit dem Kaisertum als "heilig" ehe Mitte des 14. Jahrhunderts zunehmend der "deutsche" Aspekt überwog. Die humanistisch-nationale Begeisterung führte die Deutschen schließlich in die Neuzeit.


Besonders lesenswert sind die Abschweifungen des Autors über die rein politisch-klerikalen Zusammenhängen hinaus zu kulturellen, soziologischen und ökonomischen Aspekten des Mittelalters - so zum Beispiel über die Ende des 14. Jahrhunderts wütenden Heuschreckenschwärme und Überschwemmungen, aber vor allem die Darstellungen der Auswirkungen der Pest, die in manchen Regionen bis zu 50 Prozent der Bevölkerung auslöschten. Weniger bekannt sind auch die Mitte des 14. Jahrhunderts vollzogenen Judenpogrome, die schon zur damaligen Zeit zu ersten Massenmordaktionen führte. Darüber hinaus beschreibt er sehr plakativ die Entwicklung der Städte zum neuen Lebensmittelpunkt und der Herausbildung erster global wirkender Handlungszentren als ein wesentliches Kennzeichen des späteren Mittelalters.


Einzig die Beschreibung des gesamteuropäischen Kontextes sowie deren Einflüsse und Auswirkungen auf das Kerngebiet des späteren Deutschen Reiches kommt zu kurz - ein Aspekt, auf den der Autor aber schon in seiner Einleitung präventiv selbst hinweist. Deutsche Geschichte kann nun einmal nicht nur auf das mittelalterliche Reich konzentriert werden. Dieser Aspekt stört aber mitnichten den hervorragenden Gesamteindruck des handlichen Werkes.


Fazit: Weinfurtner bietet eine hervorragende Gesamtschau über das sehr komplexe Thema und stellt trotz des Parforceritts durch 1.000 Jahre deutsche Geschichte die wesentlichen Zusammenhänge, die für die spätere Gründung eines Deutschen Reiches ausschlaggebend waren, anschaulich dar. Auf neuestem Forschungsstand wird so dank Weinfurtner der eine oder andere Herrscher, bzw. dessen Verhalten ins rechte Licht gerückt. Hilfreiches Kartenmaterial sowie übersichtliche Ahnentafeln im Anhang runden das Buch sinnvoll ab.


Andreas Pickel

4/5 Sterne
4/5 von 5

© 2008 Andreas Pickel, Harald Kloth