Paul Kennedy

Parlament der Menschheit

Die Vereinten Nationen und der Weg zur Weltregierung

Die Vereinten Nationen (United Nations - UN) oftmals ketzerisch als „Organisation der guten Absichten“ bezeichnet, sind in der Medienwelt immer wieder Thema meist kritisch-negativer Darstellungen. Die Rufe nach schnellstmöglicher Auflösung des „zahnlosen Tigers“ beherrschen die meist einseitige Diskussion. Aber ist die UN wirklich eine perspektivlose Organisation. Ein eindeutiges „Nein“ gibt dazu Paul Kennedy, Autor des vielbeachteten Buches Aufstieg und Fall der großen Mächte, in seinem neuen Werk Das Parlament der Menschheit - Die Vereinten Nationen und der Weg zur Weltregierung.

 

Die Absicht, die der Autor mit seinem Buch verfolgt, beschreibt er im Vorort. Im Kern geht es ihm um eine Beschreibung der Funktionsweise der Vereinten Nationen, deren Veränderungen im Zuge der Übernahme neuer Aufgabenfelder sowie die Suche nach Antworten, warum diese neuen Aufgabenfelder übernommen wurden oder besser übernommen werden mussten, obwohl in vielen Fällen eigentlich die verfassungsmäßige Legitimität fehlte. Ihm geht es quasi um eine Studie über die Effektivität des universalen Subsidiaritätsprinzips, das heißt Probleme und Herausforderungen, die durch einzelne Staaten nicht gelöst werden können, werden an internationale Strukturen übertragen, die diese in einer konzertierten Aktion gemeinschaftlich durchsetzen sollen.

 

Das Buch ist nach Themen und nicht chronologisch gegliedert. Der erste Teil behandelt sehr ausführlich die Geschichte über die Motivation und das Rational von bilateralen und multilaterale Zusammenschlüssen von Staaten zur besseren Durchsetzung von nationalen Interessen und beschreibt den Weg über den Völkerbund, dessen Gründung aus den grausamen Erfahrungen des Ersten Weltkrieges heraus als unabdingbar schien, bis hin zur Gründung der Vereinten Nationen. Diese sollte die im Zweiten Weltkrieg geschlossenen Allianzen zur Niederschlagung des Deutschen und Japanischen Angriffskrieges institutionalisieren - ein wesentlicher Grund für die auch noch heute unveränderte Zusammensetzung und Macht des Sicherheitsrates. Mit einer eine detaillierte Abhandlung über die Charta der UN rundet Kennedy die Darstellung der Rahmenbedingungen der UN zweckmäßig ab.

 

Der zweite Teil mit dem fingerzeigenden Titel „Die Entwicklung der vielen Vereinten Nationen“ behandelt die wesentlichen Handlungsfelder der UN mittels Ihrer Subabteilungen / -institutionen. Zunächst steht die Funktionsweise und Macht des Entscheidungsträgers der UN, der Sicherheitsrat, im Mittelpunkt. Als beunruhigend empfindet es Kennedy, dass immer noch nur fünf Vetomächte über das Schicksal der Welt entscheiden können oder mit Ihrem Veto die gesamte Staatenwelt handlungsunfähig machen können. Nachdem im Kalten Krieg fast ausschließlich die damalige UDSSR von Ihrem Veto „Missbrauch“ machte, sind es in jüngster Zeit eher die USA oder auch China. Auch wenn Mitte der 90er Jahre mit der stärkeren Hinwendung zum „Problemkontinent Afrika“ die Aktionen des Sicherheitsrates in ruhigeres Fahrwasser gelangten, sind spätestens seit „9/11“ und der Frage, mit welchen Mitteln dieser neuen Gefahr des globalen Terrorismus begegnet werden soll, alte Wunden aufgebrochen.

 

Im Folgenden gibt der Autor auch Erklärungen für die Krisen der UN seit dem Zusammenbruch der bipolaren Welt Anfang der 90er Jahre. Zum einen sah die Charta Handlungsoptionen gegen die Gefahren von zerfallenden Staaten nicht vor, des weiteren nahm die Quantität der Hilferufe um ein Vielfaches zu und nicht zuletzt fehlten dem Sicherheitsrat die personellen, materiellen und finanziellen Ressourcen, also die notwendige Logistik für militärische Einsätze, um einer Gefährdung des Friedens adäquat begegnen zu können. Gerade in finanzieller Hinsicht stand die UN oftmals vor dem Bankrott, auch weil insbesondere die USA ihren Beitrag an Bedingungen knüpften. Als vierten Aspekt nennt Kennedy die oftmals zu „weichen“ Mandate, die es den aufgestellten leichtbewaffneten Friedenstruppen erschwerten gegen schwer bewaffnete reguläre und marodierende irreguläre militärische Kräfte vorzugehen. Zusätzlich, so Kennedy, erstickten fast sämtliche Reformbemühungen am schlichten Interesse der Vetomächte am Erhalt des „Staus Quo“ und somit Ihrer Exklusivmacht.

 

Im aus meiner Sicht spannendsten Kapitel werden die Bemühungen der UN um Friedenserhaltung und vor allem der Friedenserzwingung beschrieben. Kritisch beschreibt Kennedy, dass gerade auf diesem Gebiet die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit immens ist. Die Machtlosigkeit in Somalia, Ex-Jugoslawien sowie in Ruanda, alles innerstaatliche Konflikte, zeigt beispielgebend, dass die UN eigentlich für solche Art Konflikte nicht ausgelegt war und ist und sich gerade deshalb dort schnellstmöglicher Handlungsbedarf hinsichtlich der Anpassung der Charta ergibt. Allerdings rechtfertigt er mangelnde Taten, wie auch an anderer Stelle des Buches, gebetsmühlenartig und nicht zu unrecht mit der allgemeinen weltpolitischen Lage bei Gründung der UN: Innerstaatliche Konflikte, Bürgerkriege und globaler Terrorismus waren nicht vorhersehbar und spiegeln sich in den Verfahren der UN nicht wider. Nicht desto Trotz blockierten oftmals zu „weiche“ Resolutionen ein effektives Handeln der UN-Soldaten (beispielsweise beim Massaker in Srebrenica). Die UN wirkt da am effektivsten, wo beide Konfliktparteien einem Einsatz von UN-Kräften zum Beispiel in einer „Separation Zone“ zustimmen. Jedoch findet man in den jüngsten Konflikten derartige Konstellation kaum vor.

 

Aber auch im Bereich der Wirtschaft und Sozialem zeigt Kennedy im folgenden Kapitel nur Fehlschläge auf. Die Weltbank und der Internationale Währungsfond wurden ursprünglich gegründet, um die durch den Zusammenschluss zu erreichenden politischen Ziele durch wirtschaftliche Stabilität zu unterstützen und über Prosperität Frieden zu erreichen. Jedoch behinderten, ja bekämpften sich nach dem Motto „Viele Köche verderben den Brei“ die unzähligen Unterorganisationen und -abteilungen oftmals gegenseitig, so dass aus der Vielzahl der finanziellen Projekte und Maßnahmen keine Synergien entstehen konnten. Erst in jüngster Zeit sind durch schlankere Strukturen und einer besseren Koordination Fortschritte zu verzeichnen.

 

Das fünfte Kapitel widmet er den sogenannten „weichen“ UN-Missionen, also den Umwelt, Gesellschafts- und Gesundheitsfragen, sowie kulturellen und sozialen Fragen. Gerade bei Förderung von Bildung, Entwicklungshilfe- oder Umweltschutzprogrammen zeigt sich die Stärke der UN und die ansonsten weniger im Mittelpunkt stehende Aspekte werden hier zu Recht ausführlich behandelt. Während der geographische Schwerpunkt dieser Handlungsfelder zunächst im zerstörten Europa lag und dort die UN zielgerichtet wirkungsvolle Arbeit leistete, verlagerte sich der Schwerpunkt der Probleme in den Bereichen Hungersnöte, Flüchtlingsbewegungen und Migration spätestens ab den 60er Jahren zusehends nach Afrika und dem Mittleren Osten.

 

Gerade für den Bereich Umwelt ist es in diesen Tagen auch schwierig, den richtigen Zeitpunkt für ein Buch dieses Anspruchs zu finden. So fehlen hier die letzten Entwicklungen im Bereich des Klimarats der Vereinten Nationen (Intergovernmental Panel on Climate Change - IPCC) und seine verheerenden Prognosen über die Zukunft der Menschheit. Aber es scheint, dass zumindest in diesem Bereich die Nationen enger zusammenzurücken, auch wenn noch immer die „Welthauptverpester“ USA und China zum Schutz der eigenen Industrie und des wirtschaftlichen Wachstums den wissenschaftlich fundierten Aussagen widersprechen und deutliche Formulierungen in Abschlussprotokollen verhindern.

 

Breiten Raum räumt Kennedy im vorletzten Kapitel des Teils II auch den Menschrechten ein. Gerade hier zeigt sich das Dilemma zwischen der Garantie der Souveränität der Staaten einerseits und andererseits dem „Eingreifen müssen“, aufgrund von gravierenden Menschenrechtsverletzungen in einem Staat. Die UN Menschrechtskonvention kann zwar Ratschläge geben, durchsetzen kann sie aber ihre Forderungen nicht. Seit der Menschenrechtskonferenz in Wien 1993 sind aber unzweifelhaft große Fortschritte zu verzeichnen. So ist die Achtung vor Menschenrechten mittlerweile in allen Institutionen mit ganz oben auf der Agenda, Kredite der Weltbank werden zum Beispiel an die Achtung von Menschenrechten geknüpft. Auch wurden handlungsfähige Strukturen geschaffen, die Menschenrechtsverletzungen verfolgen können und letztendlich hat man mit der Schaffung des Hohen Kommissars für Menschenrechte (Office of the High Commissioner for Human Rights - OHCHR) ein politisches Amt auch auf höchster Ebene kreiert.

 

Der letzte Teil beschäftigt sich schließlich mit aktuellen Entwicklungen bis Mitte 2005 sowie einer Prognose über die Zukunft der „Weltregierung“. Kennedy sieht vier große Herausforderungen. Zunächst müsse sich aufgrund der veränderten Wirtschaftsbalance (beispielsweise Indien, ASEAN-Staaten = Verband Südostasiatischer Nationen) nun auch die Machtbalance verschieben. Die Machtverhältnisse innerhalb der UN müssen diese Veränderungen reflektieren, ansonsten wird sie irrelevant. Als zweite große Herausforderung gilt das Definieren eines gemeinsamen Nenners für die globalen Umweltprobleme. Drittens gilt es endlich gemeinsam abgestimmte Strategien gegen den Internationalen Terrorismus zu finden und vierten muss die UN handlungsfähige Instrumentarien gegenüber dem zunehmenden Problem der gescheiterten Staaten entwickeln.

 

Dies alles ist nach Kennedy nur mit einer Reform der UN zu erreichen. An erster Stelle steht eine nachhaltige Entbürokratisierung sowie eine den Erfahrungen und den Veränderungen der letzten 50 Jahren angepasste Charta. Da dies nicht durchsetzbar scheint, schlägt der Autor vor, zunächst die Effektivität der UN zu erhöhen und durch die dann positive Darstellung einer handlungsfähigen Staatengemeinschaft in langsamen Schritten die Charta und Strukturen zu verändern. Die alles sollte jedoch verbunden sein mit der Aufstellung einer stehenden UN-Armee und der Aktivierung der gem. Charta vorgesehenen Generalstabsabteilung für Planung, Vorbereitung und Durchführung von friedenserhaltenden und friedenserzwingenden Einsätzen. Dies so der Autor würde die Reaktionsfähigkeit und die Legitimität der UN erheblich erhöhen. Kennedy räumt der Realisierung nur wenig Chancen ein, da wohl viele Staaten ihre Soldaten nicht bedingungslos dem Wohl und Wehe des Sicherheitsrates aussetzen würden, in vielen Ländern die Armeen unter nationalem Kommandovorbehalt verbleiben müssen (zum Beispiel USA) oder wie in Deutschland der Einsatz von Streitkräften eines Bundestagsbeschlusses bedarf.

 

Man kann wie bei so vielem über die UN geteilter Meinung sein. Die positive Ausrichtung des Buches ist aus meiner ganz persönlichen Sichtweise nicht ganz nachzuvollziehen, sind doch gerade in letzter Zeit (Bildung von „Coalitions of the Willing“ ohne UN-Mandat, keine Fortschritte bei den Reformbemühungen, weiterhin mangelnder Wille der Nationen, die benötigten materiellen und personellen Ressourcen zur Verfügung zu stellen, Vorrang individueller Interessen vor gemeinschaftlichen Interessen) eher Rückschritte festzustellen. In einem hat Kennedy unzweifelhaft Recht. Trotz seiner ambivalenten Bilanz gibt es keine echte Alternative zur UN - die globalen Probleme sind nur durch eine global wirkende Organisation zu lösen. Deshalb ist sie lebendiger denn je. Die Relevanz der UN zeigt sich auch immer wieder an den Bemühungen Deutschlands für einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat, um die seit dem Mauerfall gewonnene neue weltpolitische Rolle Deutschlands auch zu fundamentalisieren. Und selbst die USA kehren, wenn auch erst bei Überdehnung ihrer eigenen Kräfte, immer wieder auf die „Other-Than-Warfighting“ - Fähigkeiten der UN zurück.

 

Fazit: Insgesamt ein sehr empfehlenswertes Buch, welches durch den in der Analyse treffenden Erzählstil und teils nicht zu verhehlenden kritischen Untertöne besticht. Man muss genau zwischen den Zeilen lesen, um Kennedy zu verstehen. Hervorzuheben ist, dass Kennedy gerade auch die ansonsten stiefmütterlich untersuchten Themenfelder der UN (Bildung, Entwicklung, Kultur) fast gleichermaßen zu sicherheits- und militärpolitischen Aspekten behandelt, zeigen sich doch gerade hier die Erfolge der Weltorganisation. Auf der anderen Seite hätte eine ausführlichere Beschreibung der Rolle und der unterschiedlichen Charaktere der Generalsekretäre, die zu ihren jeweiligen Amtsperioden ständig der Gefahr unterlagen, als Spielball zwischen den Vetomächten hin und her geschoben zu werden, dem Buch noch mehr Würze verschafft.

 

Andreas Pickel

4 Sterne
4 von 5

© 2007 Andreas Pickel, Harald Kloth