70 Jahre nach Beginn des Zweiten Weltkrieges wird der Buchmarkt nur so überhäuft von Büchern über den nationalsozialistischen Eroberungskrieg. Obwohl die Verlage meist damit werben, wird aber leider oftmals nicht von irgendetwas bahnbrechend Neuem berichtet, sondern lediglich bekannte Abläufe in neuem Gewand dargestellt. Eine Ausnahme bildet das neueste Werk des britischen Professors für Neuere Geschichte Richard Overy, der sich in einer spannenden Abhandlung den letzten zehn Tagen vor dem Beginn des Zweiten Weltkriegs widmet.
Der Zweite Weltkrieg hatte Nachwirkungen, die bis in unsere heutige Zeit spürbar sind. Umso spannender ist die Frage, ob sein Auslöser, Hitlers Einmarsch in Polen wirklich unausweichlich war. Der Krieg, der im September 1939 begann, wurde der offiziellen Rhetorik glaubend für die Unabhängigkeit Polens geführt, eigentlicher Grund für die Einhaltung der Bündnispflicht und der Kriegserklärung Großbritanniens und Frankreichs an das Deutsche Reich war jedoch, das bestehende Weltsystem mit dem französischen und vor allem britischen Imperium aufrechtzuerhalten und nicht einem "Größenwahnsinnigen" zu opfern.
Bereits im März 1939, als Polen allen deutschen Gebietsforderungen trotzte und einige Staaten, darunter zum Beispiel Großbritannien, eine Garantierklärung für Polen abgaben, begann das diplomatische Ringen um die Vermeidung einer kriegerischen Auseinandersetzung. Hitler reagierte mit dem Befehl, den "Fall Weiß", also den Überfall auf Polen, vorzubereiten. Doch erst in den letzten Tagen, vom 24. August bis zur britischen und französischen Kriegserklärung am 3. September kam es zum finalen Höhepunkt diplomatischen Ringens, die den Ausführungen Overy glaubend, ein Lehrstück in Punkto Ultimaten setzen, Unnachgiebigkeit sowie Fehlinterpretationen bildeten. Letztendlich war aber bei allem Ringen ein Krieg unausweichlich, nur über den Zeitpunkt, für das eine oder andere Land mangels abgeschlossener militärischer und wirtschaftlicher Vorbereitungen der entscheidende Faktor über Sieg und Niederlage, wurde "verhandelt". Für die Vermeidung eines Weltkrieges hätten laut Overy ein der folgenden Aspekte zutreffen müssen: Hitler hätte eine international abgestimmte Lösung akzeptieren müssen oder Polen den deutschen Gebietsforderungen zugestimmt oder Großbritannien und Frankreich dem Deutschen Reich freie Hand in Polen gewährt.
Auch in der Retrospektive betrachtet eher unwahrscheinlich, dass eine dieser Umstände eintreten sollte. Eigentlich hatte Hitler den Kriegsbeginn bereits auf 26. August festgelegt, jedoch spekulierte er darauf, dass Frankreich und England nach Bekanntwerden des laut Kershaw infamsten diplomatischen Coups der Geschichte, dem Hitler-Stalin-Pakt, ihre Beistandsverpflichtungen zurückzogen. Doch weit gefehlt, Hitler wurde von der Beharrlichkeit der beiden Länder überrascht und statt eines Rückziehers unterzeichneten Großbritannien und Polen am 25. August das "Agreement of Mutual Assistance" und untermauerten so ihre gegenseitige Unterstützung. Nur bei "negotiations on terms", bei Verhandlungen zu gleichen Bedingungen, war man bereit mit dem Despoten wieder an einen Verhandlungstisch zurückzukehren. Statt wie Hitler beabsichtigte, Chamberlain und Daladier (englischer bzw. französischer Premierminister) durch seine Forderungen in die Knie zwingen zu können, gingen sie aufgrund ihrer Beharrlichkeit auch innenpolitisch gestärkt aus dem Nervenkrieg mit Hitler hervor. Insbesondere Gerüchte über einen Putsch gegen Hitler bzw. andere Widerstandsaktionen schürten nochmals neue Hoffnungen in Frankreich und Großbritannien, einen Krieg zu vermeiden - vergeblich. Hitler arbeitete weiter daran, alle Schuld eines möglichen Waffengangs Polen in die Schuhe zu schieben, um damit Frankreich und Großbritannien die Einhaltung ihrer Beistandsverpflichtung zu erschweren - allerdings wie so oft diplomatisch ungeschickt und damit erfolglos.
Insbesondere "Hitlers Ultimatum" vom 29. August, in dem er innerhalb nur eines Tages die Zusage u.a. für die Rückgabe Danzigs und des gesamten Korridors forderte, war völlig überzogen und unannehmbar. Dies war für Overy das letzte Indiz, dass Hitler eine Verhandlungslösung nie wirklich ins Kalkül zog. Parallel ließ Hitler das, was er offensichtlich am besten konnte, den Krieg vorbereiten, dabei auch den "Rassenkrieg im Osten", unter anderem einem der wesentlichen Gründe für sein späteres Scheitern. Die fingierten Angriffe auf den Radiosender in Gleiwitz, einem Forsthaus und einer Zollstation bildeten den Auftakt für den grausamsten Krieg der Geschichte. Zunächst herrschte noch Unsicherheit, ob der Krieg auf Polen begrenzt blieb oder wirklich zum großen Krieg ausartete. Doch nachdem Hitler - erwartungsgemäß - ein nochmaliges Ultimatum verstreichen ließ und eine letzte italienische Initiative für eine Konferenz zur "Polenfrage" scheiterte, erklärten schließlich Frankreich und Großbritannien am 3. September Deutschland den Krieg. Overy unterstreicht, dass dabei weder Chamberlain, noch Daladier je daran dachten, sich ihrer Verpflichtung zu entziehen, Polen im Falle eines deutschen Angriffes im Stich zu lassen. Auch wenn Verzögerungen in der Mobilmachung zunächst einige größere britische und französische militärische Aktionen verhinderten, nahm so das Schicksal seinen Lauf.
Das vorliegende Buch rückt den Einmarsch Hitlers in Polen unter Berücksichtigung der außenpolitischen Konstellationen und Bündnisse auf dem neuesten Forschungsstand ins rechte Licht. Overys Untersuchungen stellen verständlich die Handlungstriebe der jeweiligen Protagonisten sowie ihre beeinflussenden Faktoren dar. Man fühlt sich fast mit im Geschehen. Eigentlich war bereits vor dem 23. August der Lauf der Geschichte nicht mehr aufzuhalten. Er verdeutlicht aber, dass es in den Tagen zwischen dem 24. August und 3. September 1939 auf beiden Seiten sehr wohl noch Handlungsspielräume gab, die aber durch divergierende Interessen und vor allem durch Sturheit und Beharrlichkeit zu keinem anderen Ergebnis als dem Krieg führen konnten. Der Autor warnt in seinem anekdotenreichen Buch nachhaltig davor zu behaupten, dass der Beginn des Zweiten Weltkrieges Anfang September 1939 aufgrund einer Kriegsbesessenheit Hitlers unabwendbar gewesen wäre. Auch andere blieben stur, ohne jedoch deshalb die deutsche Schuld in Frage zu stellen.
Ob man einen Weltkrieg an sich verhindern hätte können, darüber lässt sich heutzutage trefflich streiten. Eine konsequentere Politik vor allem Großbritanniens mit deutlicheren Worten an das nationalsozialistische Deutschland hätten aber so Overy vielleicht dazu geführt, Hitler "zunächst" von seinem Durst nach Lebensraum abzubringen. Aber auch die unnachgiebige Haltung Polens tat ein Übriges. Schließlich führten die irrationale Denkweisen der jeweiligen Staatsführer sowie nicht nachvollziehbare Rechtfertigungen für das jeweilige Handeln zum Waffengang. Hitler war überrascht, dass ihm der begrenzte Krieg gegen Polen verwehrt blieb. Er war das Risiko eines großen Krieges eingegangen und hatte ihn bekommen.
Fazit: Ein insgesamt faktenreiches und spannendes Buch - großartig!
Andreas Pickel
© 2010 Andreas Pickel, Harald Kloth