Urs Widmer

Ein Leben als Zwerg

Sie tragen Namen wie Grünsepp, Neu Lochnas, Dunkelblöe oder Bös Alt. Sie sind aus bunt bemaltem Gummi, und das Ventil im Reifen pfeift, wenn man drauf drückt. Sie sind Spielzeugzwerge, und bei Urs Widmer sind sie äußerst lebendig! Einer von ihnen, Vigolette Alt, kommt in seinem neuesten Werk Ein Leben als Zwerg ausführlich zu Wort.

 

Es ist ein äußerlich bemitleidenswertes Etwas, das da zu uns spricht ein knubbeliger Klumpen bröselnden Gummis, bei dem man die einstige Farbe und Form nur noch mit einiger Phantasie erahnen kann. Innen drin jedoch steckt der gewandte Geist eines Philosophen, der dem Leser seine Welt erklärt. Es geht ums Ganze, um das Existentielle: woher komme ich, wohin gehe ich? Was ist mit dem Universum, in dem ich mich bewege und wo sind seine Grenzen?

 

Vigolette Alt gibt sich in seinem kritischem Monolog als Kritiker der Auffassung, alle Zwerge seien aus sieben Ur-Zwergen hervor gegangen, nur beweisen kann er es nicht und zum Leben wird seine Spezies durch den Blick eines Kindes erweckt für immer! Seiner Unsterblichkeit ist sich der Zwerg sicher, denn schließlich braucht er nie zu Essen oder Trinken und zu atmen brauchen sie ja ohnehin nicht; Emotionen kennt und fühlt er, aber Triebe sind ihm völlig fremd.

 

Eine ideale Gesellschaft, das kleine Zwergenvolk, möchte man meinen. Ein Leben ohne Ende, ohne Hunger, ohne Sex oder Gewalt. Jeder hat seinen festen Platz in der Kolonne, und das tägliche ge- und bespielt werden ist hinnehmbar, da Zwerge bekanntlich nie müde werden. Getrübt wird die Idylle dennoch: nicht nur durch äußere Gefahren wie Hund oder Wüstenfuchs, die das Zerbröseln fördern. Auch unter den Zwergen selbst gibt es Konkurrenz, Lügen, Verlassenheit und Verletzungen.

 

In drei Teilen widmet sich das Buch den Erinnerungen des Zwergs an die Abenteuer seines im Laufe der Jahre versprengten und an die Kindheit seines Besitzers, dessen Beschreibung stark an den Autor und dessen Umfeld sowie an das Setting voriger Bücher wie Das Buch des Vaters und Der Geliebte der Mutter erinnert. Jede Ausführung führt zur Gegenwart zurück, in der Zwerg und Mensch alt und grau nebeneinander her leben so vertraut, dass auch ein plötzliches Wiedersehen mit früheren Zwergengefährten Vigolette Alt nicht dazu bewegen kann das Regal seines Uti zu verlassen.

 

Das Muster ein Ding erzählt seine Sicht der Dinge ist alt und birgt Gefahren: so weist auch Widmers Erzählung nach den ersten spannenden Fakten aus ungewöhnlicher Perspektive einige Längen auf. Die Masse der Erklärungen und zuweilen auch die betont schwülstige, bilderreiche zwergenhafte Sprache verführen immer wieder zum Überspringen einzelner Passagen. Dennoch hat das Buch genügend Charme und Witz um den Anspruch stellen zu können, es habe uns noch gefehlt!

 

Fazit: Eine charmante, witzige und zu lang geratene Novelle über Eltern aus der Perspektive eines Kindes.

 

Wolfgang Gonsch

3 Sterne
3 von 5

Nach Widmers Romanen Der Geliebte der Mutter und Das Buch des Vaters war ein "Buch des Kindes" fast zwingend, doch wer hätte die genial-komische Sichtweise eines Gummizwerges jenes Kindes erwartet!

 

Widmer erzählt von den Gummizwergen, die das Kind Uti und seine Schwester Nana jahrelang hingebungsvoll besitzen und bespielen, Zwerge, die, sobald sich das menschliche Auge abwendet, zum Leben erwachen und ein eigenes solches führen. Vorzugsweise und aus Gründen der Sicherheit nachts, wo sie als Kolonne durchs Haus marschieren, um die Wette dumpfen und zeheln und sich die herrlichsten Räuberpistolen erzählen. Vigolette alt, der Lieblingszwerg Utis, erzählt die Geschichte seines langen Zwergenlebens.

 

In den ersten Jahren vor allem in Kinderhänden, später auf Reisen, wobei er Uti in dessen Hosentasche scheinbar als Talisman begleitet, danach in verschiedenen Häusern, doch immer in der Nähe Utis, dem Kind, dem er beim Erwachsenwerden zusieht und sodann vor allen Dingen beim Schreiben auf der Schreibmaschine. Eine Frau, die ins Haus kommt, dann ein Mädchen. Vigolette alt erzählt von Uti jedoch nur nebenbei, vielmehr geht es ihm um die Schilderung seiner Gefühle und Erlebnisse als Zwerg. Er schildert die Trennung von seinen Freunden Dunkelblöe, Lochnas, Grausepp und all den anderen (welche, ohne, dass er es weiß, ihr Dasein im Keller des Hauses fristen), das jahrelange Dahinvegetieren auf einem Regal in Utis Arbeitszimmer, die Rückkehr zu seinen Freunden, nach einer gnadenlosen Säuberungsaktion Utis.

 

Widmer, der in seinen Büchern über seine Mutter und seinen Vater bewusst biografische Elemente mit der Fiktion verwoben hat, geizt hier leider sehr mit Details über seine Person, da er sich primär auf die Zwergenwelt konzentriert. Doch tut er dies derart hingebungsvoll, dass ihm verziehen sei. Wie köstlich: Sex der Eltern aus Sicht einer Handvoll Zwerge, die sich nachts ins Schlafzimmer geschlichen haben. Welch Tragik, als Zwerg Grünsepp abhanden kommt, während des legendären Bach-Wettschwimmens Vigolette alt gegen Grünsepp. Welch Freude, als Grünsepp nach Jahrzehnten die Freunde im Keller wiedertrifft.

 

Die Zwerge besaßen Widmer und seine Schwester tatsächlich, das Cover des Buches zeigt seinen Lieblingszwerg heute; Gummi hat leider die Eigenschaft, mit den Jahren zu zerbröseln. "Vor meinen Augen und dennoch hinter meinem Rücken hat er dieses Buch geschrieben, und ich werde den Teufel tun, auch nur ein einziges Komma zu ändern", sagt Widmer.

 

Fazit: Ein einzigartiger Zwergenerzähler und ein witzig-liebevolles Buch, das dem Leser ordentlich Respekt vor der ungeahnt belebten Welt der Spielzeugwesen verschafft.

 

Christa Rossmann

5 Sterne
5 von 5

© 2006 Wolfgang Gonsch, Christa Rossmann, Harald Kloth