Lüder Meyer-Arndt

Die Julikrise 1914

Wie Deutschland in den Ersten Weltkrieg stolperte

Als am 4. August 1914 deutsche Truppen die Neutralität Belgiens verletzten um gegen den französischen Erzfeind erneut die Klingen zu wetzen, war überall in Deutschland ein unvergleichlicher Nationalstolz und ein Gefühl der Befreiung zu spüren. Es kam zu klassen- und parteiübergeifenden Solidaritätsbekundungen suggerierte doch die Regierung den Angriff als eine notwendige Präventivmassnahme gegen die russische französische Einkreisungspolitik. Doch was genau geschah in den knapp 6 Wochen zwischen dem Attentat auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand am 28. Juni in Sarajewo und dem 4. August? Wäre durch eine mehr durchdachte Diplomatie und Strategie das Unvermeidliche doch vermeidbar gewesen?

 

Antworten darauf sucht Lüder Meyer-Arndt in seinem Buch Die Julikrise 1914 - Wie Deutschland in den Ersten Weltkrieg stolperte. Ein Buch, welches auf über 300 Seiten den Zeitraum vom 28. Juni bis 4. August aus Sicht der preußisch-deutschen Regierungseliten chronologisch nachzuvollziehen versucht. Die gesamteuropäische Mächtekonstellation weitestgehend ausgrenzend, konzentriert sich der Autor in seiner Darstellung ausschließlich auf das Deutsche Reich und sucht auch nur dort den casus belli (Kriegsauslöser) für Hunderttausende von Toten in den folgenden vier Kriegsjahren.

 

Die Ermordung des österreichischen Thronfolgers war für die Donaumonarchie endlich der Anlass, die gegen die kaiserliche und königliche Monarchie gerichteten großserbischen Bestrebungen militärisch niederzuschlagen. Am 5. Juli überreichte der Kabinettschef im österreichisch-ungarischen Außenministerium, Graf Alexander Hoyos, ein Beistandsersuchen seines Kaisers Franz Joseph an den deutschen Kaiser Wilhelm II. für eine Militäraktion gegen Serbien. Die Antwort Wilhelm II. war schließlich der berühmte Blankoscheck, erteilt in einer Augenblickseingebung, als er zusammen mit seinem Reichkanzler Bethmann Hollweg dem österreichischen Botschafter in Berlin, Graf Szögyény-Marich, Bündnistreue und damit die uneingeschränkte Unterstützung des Deutschen Reiches für einen Waffengang gegen die Balkanrepublik zusagte.

 

Der Autor wirft dem Kaiser hier eine entscheidende Politik der Schwäche vor, als dieser den dreisten Forderungen des Ballhausplatzes ohne wenn und aber nachgab. Obwohl Wilhelm II. den Blankoscheck unvorbereitet und ohne jegliche tiefere Diskussion und Konsultation mit seinen außenpolitischen und militärischen Beratern tätigte, kann dieser jedoch nicht dem Kaiser allein angelastet werden, spiegelte er doch das breite Meinungsbild seiner politischen, diplomatischen und militärischen Eliten wieder jeder rechnete schließlich damit, dass die russische Dampfwalze nicht in das österreichisch serbische Scharmützel würde eingreifen werden und somit der Krieg auf den Balkan begrenzt werden könnte. Einzig der deutsche Botschafter in London, Karl Max Fürst Lichnowsky, sah das drohende Unheil und kämpfte vergebens - gegen die unsägliche Diplomatie Berlins.

 

Ein bemerkenswerter Aspekt am Rande war, dass weder das Kriegsministerium noch der Generalstab über einen exakten Kräftevergleich zwischen den Mittelmächten und der Entente in einer möglichen militärischen Konfrontation verfügte. Stattdessen vertraute man auf die bessere Kriegskunst ja und das Glück.

 

Guillaume le timide“, wie der Kaiser genannt wurde, machte sich stattdessen (auch um die Öffentlichkeit über den Ernst der Lage zu täuschen) auf eine dreiwöchige Nordlandreise. Als er am 27. Juli zurückkehrte war er sichtlich überrascht über die Antwort Serbiens, die fast alle Forderungen des österreichischen ungarischen Ultimatums vom 23. Juli erfüllte. Ein moralischer Sieg für Österreich, so der Kaiser, ein Krieg schien wieder vermeidbar und er beabsichtigte nun, Österreich vor dem Waffengang zu bewahren. Jedoch unterschätzte er das in seiner Abwesenheit gestrickte Netz von Arrangements, insbesondere durch den deutschen Botschafter in Wien Heinrich Leopold von Tschirschky und Bögendorff. Auch gestand er Österreich zu kleine und begrenzte militärische Aktionen durchzuführen, damit Österreich einerseits nach Außen das Gesicht wahren konnte und andererseits dem bereits heißgelaufenen österreichischen Militär ein völliger Verzicht auf eine Militäraktion nicht zu zumuten war. Doch Österreich war schon zu sehr auf Krieg eingestellt, um sich noch umstimmen zu lassen.

 

Am 28. Juli um 11:00 Uhr vormittags erklärte Österreich Serbien den Krieg, tags darauf um 05:00 Uhr morgens wurde die Zitadelle von Belgrad beschossen. Russland antwortete am 30. Juli mit der Generalmobilmachung. Der Versuch, Russland von einem Eingreifen in den österreichisch-serbischen Krieg abzuhalten, war gescheitert. Nun bekamen auch die deutschen Militärs freie Hand und am 1. August unterzeichnete der Kaiser die Mobilmachungsorder. Eine letzte Seifenblase auf Frieden zerplatzte, als sich die vage Hoffnung auf englische Neutralität endgültig in Luft auflöste. Die Öffentlichkeit in dem Glauben lassend, hinterrücks überfallen worden zu sein, folgte begeistert ihrem Monarchen. Das Unglück nahm seinen Lauf.

 

Lüder Meyer-Arndt konzentriert sich ausschließlich auf die Julikrise 1914 aus Sicht der Verantwortung der deutschen Politik und Diplomatie gegenüber der Nation, diesen Vorkriegsmonat in seiner Gänze verstehen zu können, setzt jedoch Kenntnisse zumindest der Geschehnisse ab der Regierungsära von Bülows 1900 1909 voraus. Nicht zu vernachlässigen bei jeglicher Abhandlung über das Hineinschlittern in den Ersten Weltkrieg ist natürlich die Rolle des Kaisers, der unter anderem durch seinen Schlachtflottenbau und dem damit beginnenden ungehemmten Wettrüsten mit England und unglücklichen Personalentscheidungen (Max Weber spricht von einer negativen Führerauslese) seinen Teil zum Dilemma beitrug. Insgesamt so der Autor, wäre bei einer Umkehr der Politik der Krieg zu vermeiden gewesen. Vorsätzlich wurde jedoch die Chance vertan.

 

Gut gelingt es dem Autor, die einzelnen Charaktere treffend zu beschreiben. Einen besonders schwachen Part spielt hierbei der Reichkanzler, der in der Julikrise die diplomatischen Geschicke fast völlig dem Auswärtigen Amt überließ. Trotz der nicht unerheblichen Anzahl an Protagonisten verliert man bei Meyer-Arndt nie den Überblick, insbesondere da in einem Bildteil gegen Ende des Buches jeder nochmals mit Foto und Funktion vorgestellt wird. Zu Hinterfragen bleibt jedoch ob die zweite Regierungsreihe um Jagow, Zimmermann oder den Botschafter in Österreich Tschirschky wirklich eine so entscheidende Rolle gespielt haben und dem lediglich als Marionette dargestellte Reichskanzler Bethmann Hollweg, aber vor allem der mächtigen Generalität und Admiralität jegliche größere Einflussnahme abgesprochen wird.

 

Im Gegensatz zur Aufsehen erregenden Darstellung von Fritz Fischer, war es dem Autor folgend weniger der Griff nach der Weltmacht, der Deutschland in den „Vaterländischen Krieg“ trieb, sondern eher (grob) fahrlässiges oder gar vorsätzliches Verhalten, indem die Ursache-Wirkungs-Relationen der Großmächte durch diejenigen, die den Kaiser und den schwachen Reichskanzler steuerten, fatal falsch eingeschätzt wurden.

 

Fazit: Insgesamt ein spannend zu lesendes Buch, welches jedoch nur dem zur Lektüre empfohlen ist, der bereits über die notwendigen Hintergrundinformationen zu diesem sehr komplexen Thema verfügt.

 

Andreas Pickel

3/4 Sterne
3/4 von 5

© 2006 Andreas Pickel, Harald Kloth