Marie-Janine Calic

Geschichte Jugoslawiens im 20. Jahrhundert

Europäische Geschichte im 20. Jahrhundert

Für einen Offizier, der zweimal selbst im Rahmen eines Auslandseinsatzes der Bundeswehr am Balkan eingesetzt war, einmal in Bosnien-Herzegowina und einmal im Kosovo, sind die Länder Ex-Jugoslawiens von besonderem Interesse. Als Soldat vertritt man sein Vaterland in einem fremden Land, genaue Kenntnisse über Geschichte, Kultur und Religion sind unabdingbare Voraussetzung für die gebotene Neutralität und für die Auftragsdurchführung, sprich für ein stabiles und sicheres Umfeld für einen wirtschaftlichen sowie ordnungspolitischen Wiederaufbau zu sorgen. Gerade der Balkan ist eine der, wenn nicht die meistgebeutelsten Region in der europäischen Geschichte überhaupt. Gräuel und Grausamkeiten, Not und Elend für die Bevölkerung standen auf der Tagesordnung. Umso mehr gibt es auch kaum eine Region, über die sich mehr Mythen und Halbwahrheiten ranken als sonst wo. Die Bedeutung der Schlacht auf dem Amselfeld auf alle Kriege und Bürgerkriege im 20. Jahrhundert ist nur ein Beispiel. Ein Buch, was absolut aus der Literatur über den Balkan hervorsticht, ist jetzt im C.H. Beck Verlag erschienen.

 

Marie-Janine Calic räumt in Ihrem Buch Geschichte Jugoslawiens im 20. Jahrhundert nachdrücklich mit der allseits verbreiteten Meinung auf, alle Konflikte und Kriege auf dem Balkan sind einzig und allein in dem tief sitzenden Völkerhass begründet. Stattdessen stellt sie treffend dar, warum die unterschiedlichen Ethnien zum Gegenstand von Krieg, Mord und Folter wurde. Sie thematisiert nicht nur, warum es zur Erosion Jugoslawien kam, sondern berechtigterweise auch, warum der Staat bei allen Unterschiedlichkeiten in Kultur, Sprache und Religion doch jahrzehntelang Bestand hatte. Hervorzuheben ist auch, dass sich die Autorin in Ihren Darstellungen nicht auf den Balkan beschränkt, auf, wie sie es ausdrückt, historischen Sonderwegen fragt, sondern die historischen Linien, die zur heutigen Situation führten, immer in den europäischen Kontext einbettet.

 

Laut Calic ist es wie so oft eine Mischung aus verschiedenen Motiven, die zunächst zur Polarisierung der unterschiedlichsten Völkergruppierungen und schließlich zur Erosion Jugoslawiens führten. Einerseits die Wirtschaft, nach der Staatengründung nach dem Zweiten Weltkrieg boomend, schwächelte immer mehr ab, wurde lange durch Tito durch immense Schulden kaschiert. Nach dessen Tod trat die desolate Wirtschaftslage schließlich vollends zu Tage und traf die Masse der Bevölkerung. Diese Krise, der Kampf um Ressourcen, wirkte sich dann nachhaltig auf die Konflikte zwischen den nun unabhängigen Staaten aus, die reichen Kroaten und Slowenen, die auf ihren vergleichsweise hohen Lebensstandard nicht verzichten wollten, sollten für die ärmeren Republiken, wie beispielsweise den Kosovo mitbezahlen. Gleichzeitig stieg das Bildungsniveau in fast allen Staaten bei gleichzeitig nur wenigen Chancen, einen adäquaten Beruf bei angemessener Bezahlung zu finden.

 

Wirtschaftliche Sorgen, die Angst um die persönliche Zukunft führten zu einer Rückbesinnung auf Sprache, Nation und Religion. Verschärft wurde die Situation durch ein immer deutlicher werdendes Machtvakuum, das staatliche Gewaltmonopol war gebrochen. Diesem brodelnden Kessel entstiegen dann zwei charismatische Persönlichkeiten, einerseits Milosevic in Serbien und der Nationalist Tudjman in Kroatien. Sie instrumentalisierten die sozio-ökonomische Krise für ihre Zwecke, für die Ausweitung der angeblich ausschließlich ethnisch motivierten Konflikte zu einem Flächenbrand, der den ganzen Balkan erfasste und die europäischen Staaten lange Zeit in Hilflosigkeit erstarren ließ. Emotionen überwogen nun gegenüber den realen Problemen. Dies zeigte sich auch im Krieg, so die Autorin. Es ging nicht nur um „gewinnen“ oder „verlieren“, sondern es ging darum, den anderen aus der Geschichte zu verbannen, erstmals seit dem grausamen Morden der Nationalsozialisten kam es mitten in Europa zu gezielten ethnischen Säuberungen – und alle schauten lange Zeit hilflos zu. Auch heute noch sind die Trümmer des Krieges in allen Bereichen sichtbar. Der Wohlstand steigt zwar, aber nur sehr sehr langsam, der Weg zu den anderen europäischen Staaten ist noch weit und steinig. Alle versprechen sich in einem Beitritt zur EU eine bessere Zukunft.

 

Als jemand, der den Balkan aus persönlichen Erfahrungen kennt, der viel über die Region gelesen hat, ist das Buch von Marie-Janine Calic absolut empfehlenswert. Auf dem neuesten Forschungsstand, werden chronologisch geschichtliche Fakten dargestellt, klar analysiert, beurteilt und ihre Auswirkungen auf spätere Folgeereignisse sowie aktuellen Vorgängen bewertet. Der Autorin gelingt es so hervorragend, eine stringente Linie zu ziehen von den ersten Staatsgründungen gegen Ende des 19. Jahrhundert, über die Zeit des kommunistischen Jugoslawiens, dessen Zerfall bis zu den Nachfolgekriegen und aktuell zu den immer noch nicht endgültig stabilisierten Ländern Bosnien-Herzegowina und Kosovo. Die nationale Problematik, wirtschaftliche Rückständigkeit, Benachteiligungsgefühle und Spielball der europäischen Großmächte zu sein, prägten nachhaltig die Entwicklung der Region.

 

Statt dem einstigen Balkanreich Jugoslawien existieren heute sieben Staaten: Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Kroatien, Makedonien, Montenegro, Slowenien und Serbien. In vielen Staaten ist die nationale und vor allem territoriale Frage noch nicht abschließend geklärt. Dies birgt weiter Konfliktpotential. Zwar ist vordergründig in allen Staaten Ruhe eingekehrt, doch durch die instabile wirtschaftliche Situation und einer ungewissen Zukunft wünschen sich viele die gute alte Tito-Zeit zurück. Die Hoffnung der Region sind jedoch die jungen Menschen, nicht gezeichnet durch die Gräuel der Kriege. Diesen muss man eine Zukunft geben.

 

Ich selbst war im Kosovo. Nach nun gut 10 Jahren nach dem Krieg hat sich die Situation dort deutlich verbessert. Die Menschen dort haben aber auch weiterhin noch eine gute Strecke vor sich, wenn wir von unseren Maßstäben ausgehen und von einer funktionierenden Gesellschaft sowie einer belastbaren Wirtschaft sprechen. Aber wir sollten hier auch nicht vergessen, dass auch unser Land nicht innerhalb von 10 Jahren nach Ende des Krieges schon in allen Bereichen stabil und florierend war. Auf meinen zahlreichen Fahrten durch das Land sah ich ausschließlich winkende Kinder und strahlende Kinderaugen. 50% der kosovarischen Bevölkerung sind unter 25 Jahren. Diese brauchen eine Perspektive, die wir Ihnen bereits jetzt schon geben - auch wenn es heute noch ein sehr starkes Gefälle zwischen reich und arm gibt.

 

Viele verknüpfen ihre Hoffnungen an die EU. Slowenien hat es geschafft, Kroatien steht an der Schwelle eines Beitritts. Für die anderen Staaten ist die Hürde aber weiterhin sehr sehr hoch.

 

Fazit: Trotz des historischen Anspruchs des Buches, welcher voll erfüllt wird, ist das Buch jederzeit auch spannend zu lesen, nicht, wie so oft mit Daten und Fakten überfrachtet und so eine Pflichtlektüre für alle, die dort politisch, sicherheits- oder auch wirtschaftspolitisch aktiv sind, aktiv werden wollen oder müssen.

 

Andreas Pickel

4 Sterne
4 von 5

© 2011 Andreas Pickel, Harald Kloth