Bernward Dörner

Die Deutschen und der Holocaust

Was niemand wissen wollte, aber jeder wissen konnte

Nach Einmarsch der Alliierten in Deutschland und der Befreiung der Konzentrationslager wurde die deutsche Bevölkerung mit den durch das NS-Regime verursachten Grausamkeiten in aller Deutlichkeit konfrontiert. Schlagartig machte sich unter dem Eindruck der schockierenden Bilder eine allgemeine Amnesie breit und Aussagen wie „Davon haben wir nichts gewusst“ oder „Unvorstellbar, dass unser Führer so etwas angeordnet hätte“ waren weitverbreitete Aussagen. Nachdem Peter Longerich in seinem in 2006 erschienen Buch Davon haben wir nichts gewusst! erstmalig diese weitverbreitete Meinung widerlegte, blieb die Frage, was das deutsche Volk nachweislich wirklich wissen musste weiter unbeantwortet. Nun legt Bernward Dörner mit seiner Habilitationsschrift Die Deutschen und der Holocaust eine breit angelegte Studie zu diesem interessanten Thema der Vergangenheitsbewältigung vor.

 

Bernward Dörner entmythologisiert den langen vorherrschenden Glauben, dass die Todesmaschinerie des nationalsozialistischen Deutschlands lediglich unter den Funktionseliten Hitlers, der SS, Teilen der Wehrmacht sowie in wenigen Teilen der Bevölkerung bekannt war. Hat Longerich schon dargelegt, dass dieses Wissen auf diese Kreise nicht eingeschränkt werden kann, untersucht Dörner nun explizit in welchem Umfang die Judenvernichtung bekannt gewesen sein muss und wie diese schaurigen Informationen auf die Menschen gewirkt haben.

 

Das Buch ist thematisch klar strukturiert. Nach einem kurzen Überblick über die Dimension des Genozids wird zunächst aufgezeigt, wie schwierig es war, den Genozid als solchen zu erkennen. Für einen Gesamtüberblick sei auf das Buch von Saul Friedländer Die Jahre der Vernichtung verwiesen. Zum einen das durch das Regime auferlegte Schweigetabu, welches laut Dörner zwar eine unmittelbare und zügige Informationsweitergabe erschwerte, jedoch nicht verhinderte. Der Kreis der Täter und Mitwisser war stark eingeschränkt, die Einsatzgruppen sowie die „Schreibtischtäter“ im Reichssicherheitshauptamt waren zum Schweigen verdammt und jeder wusste nur soviel, wie er für die Durchführung seines Auftrages wissen musste. Auch wurde nur das Notwendigste schriftlich fixiert und die Dokumente nach „Auftragsdurchführung“, meist vernichtet. Als weiteren Grund führt er die verwirrende Terminologievielfalt an, veränderten doch die verwendeten Begriffe im Laufe der Jahre mit der Radikalisierung der Judenverfolgung ihre Bedeutung.

 

Nutzte man seit Mitte 1941 Begriffe wie „Vernichtung, Ausrottung, Endlösung, Entfernung, Umsiedlung oder Evakuierung“ als Tarnbegriffe für Judenmord, so bediente man sich davor der gleichen Begriffe, ohne damit unbedingt ein Programm zum Massenmord zu implizieren. Außer auf Juden angewandt konnten die gleichen Begriffe wiederum eine höchst unterschiedliche Bedeutung haben. Nicht zuletzt lagen die Tatorte zumeist im fern gelegenen und informationstechnisch leicht abzuschneidenden Osten. Dies alles erleichterte gezielte propagandistisch gelenkte Falschinformationen. Und schließlich konnte sich auch keiner auch nur im Entferntesten die Tragweite der Grausamkeiten und das Tempo der Umsetzung vorstellen. Diese Umstände der Geheimhaltung erleichterten zunächst temporär „freischaffend“ den Genozid einzuleiten, durch das verzögernde Durchsickern von Informationen die Judenvernichtung weiter auszubauen, um dann die Menschen unter der permanenten Drohung von harten Sanktionen vor unverrückbaren und vollendete Tatsachen zu stellen.

 

Trotz dieser Aspekte zeigt Dörner auf, dass es genügend Belege für das Wahrnehmen des Unglaublichen gab. Für die Masse des in unmittelbarer Nähe der Tatorte eingesetzten Personenkreises, wie zum Beispiel Soldaten, Personal der Sicherheitsdienste sowie zivile Hilfsarbeiter, die in den besetzten Gebieten für Handlangertätigkeiten rekrutiert wurden, kann keine Ausrede gelten. Sie mussten Mitwisser gewesen sein. Aber auch für die Menschen im Kerngebiet des Reiches gaben die Briefe von Tätern und Augenzeugen, Hinweise in Reden der NS-Führung, Presseberichte, Rundfunkreportagen, Gerüchte, Flugblättern, Gesprächen mit in den besetzten Gebieten eingesetzten Menschen etc. wie einzelne Mosaiksteine nach und nach ein nicht zu leugnendes Bild der Geschehnisse ab. Dies wird unter Berufung auf Tagebuchaufzeichnungen sowie Gerichtsakten klar dargestellt. Jedoch sind beispielsweise insbesondere die aufgeführten Informationsoffensiven der Alliierten mittels Radio, Fernseher, Zeitungen und Flugblätter mit Vorsicht zu genießen, da viele keinen Zugang zu diesen Medien hatten und von der eigenen Propaganda als Lügen verkauft wurden.

 

Aus psychoanalytischer Sicht ist von besonderem Interesse das Kapitel über die verschiedenen Phasen der Wahrnehmung. Über erste nebulöse Indikationen bis Mitte 1941, ersten konkreten Hinweisen in der Anfangsphase der Operation „Barbarossa“, das persönliche Erleben der ersten größeren Deportationen, kommt der Autor zu dem Schluss, dass spätestens ab Mitte 1943 der Völkermord in weiten Teilen der Bevölkerung bekannt war, dort auch auf Zweifel stieß, aber aus Angst vor Repressalien des Regimes oder aufgrund der fehlenden unmittelbaren Betroffenheit zumindest billigend in Kauf genommen wurde. Die unter der Gewissheit, den Krieg nicht mehr gewinnen zu können immer größer werdende maschinelle Vernichtung konnte nicht mehr auf wenige Täter beschränkt werden, die „Endlösung der Judenfrage“ muss allgegenwärtig gewesen sein. Die Deportationen waren offensichtlich, dass niemand zurückkehrte, kann auch nicht unbemerkt geblieben sein. Aber auch dann, was hätten die Leute machen sollen. Die durchgängige Repressions- und Überwachungspolitik sowie die permanente „Berieselung“ der Propagandamaschinerie, einen ideologischen und gerechten Krieg zu führen, offenbaren die Machtlosigkeit. Der harte, oft mit dem Tode endende Umgang mit passiven und aktiven Widerständlern schreckte ab. Das Gesehene und Gehörte wurde aus dem eigenen Leben verdrängt.

 

Nach heutigem Forschungsstand war ein kollektiver Aufschrei angesichts der Lebensumstände und permanenter Bespitzelung nicht vorstellbar. Im Gegenteil, die Angst vor Repressalien der Alliierten ließ alle noch enger zusammenrücken und „motivierte“ auch noch in den letzten beiden Kriegsjahren den aussichtslosen Kampf fortzuführen und die offensichtlichen Verbrechen des Regimes wenn schon nicht aktiv zu unterstützen, dann zumindest stillschweigend zu tolerieren. Der Autor findet es in seinem Fazit zu Recht erschreckend, dass durch diese Loyalität zum Unrechtsregime der Krieg unnötig verlängert wurde, dem in den letzten Monaten des Krieges mehr Soldaten und Zivilisten zum Opfer fielen als in den fünf Jahren zuvor, und insbesondere auch durch diesen zähen Widerstandswillen der Völkermord bis zum bitteren Ende geführt werden konnte.

 

Dörner stützt seine Thesen auf ein umfassendes Quellenstudium, welches nicht nur auf offizielle, zum Teil damit natürlich zu Propaganda- und Vertuschungszwecken gefälschte Dokumente, sondern vor allem auf Tagebuchaufzeichnungen und Briefe beruht. Der Autor bezieht sich in seiner Argumentation fast ausschließlich auf Dokumente vor 1945, da die Berichte, Briefe und Erzählungen nach 1945 im Sinne einer subjektiven Verdrängung und um sich selbst von jeglicher Schuld rein zu waschen als verfälscht gelten. Die Vernehmungen, Aussagen und Berichte nach 1945 zeigen, dass sich die Auftraggeber und Täter in einen Mantel des Schweigens hüllten, um sich der strafrechtlichen Verfolgung zu entziehen, die "Wissenden" sich aus Ihrer inneren Abwehrhaltung und Verdrängungsmechanismen der allgemeinen Amnesie anschlossen.

 

Da der Holocaust aber ein europäisches Ereignis war, somit regional nicht einzuschränken ist, sich, wenn auch überwiegend, aber nicht nur auf die Juden beschränkte und zu jeder Zeit verschiedene Ausprägungsgrade hatte, ist anzuzweifeln, ob der „normale“ Bürger sich der gesamten Tragweite des Holocausts bewusst war. Ohne Zweifel kann Dörner jedoch durch zweckmäßiges Zusammenfügen der unterschiedlichsten Quellen belegen, dass ein nicht unerheblicher Teil der Bevölkerung das Thema der „Endlösung der Judenfrage“ gewusst haben muss, die konkrete Umsetzung der geheimgehaltenen Pläne jedoch nicht bekannt war. Ob es, so der Autor, fast alle wissen mussten, ist jedoch anzuzweifeln. Die von Dörner gewählte Methode, aus den unterschiedlichen Berichten, Briefen, Tagebuchaufzeichnungen das nachweisliche Wissen einzelner zu Pauschalisieren, quasi aus einer Stichprobe eine allgemeingültige These abzuleiten, wird aus Sicht wissenschaftlichen Arbeitens nicht ohne Kritik bleiben. Aber über 60 Jahre nach Kriegsende sind andere Methoden des Nachweises oder Plausibilitätsprüfungen nach hiesiger Bewertung einfach nicht mehr möglich.

 

In jedem Fall widerlegt auch er die These Goldhagens, dass das gesamte nationalsozialistische Deutschland „ohne wenn und aber“ willig nur das eine Ziel verfolgte, die jüdische Bevölkerung auszulöschen - aber andererseits soll paasives Verhalten nicht heißen, dass nicht die Mehrheit das Morden gutgeheißen hätten.

 

Das nationalsozialistische Regime wurde von mehreren Machtsäulen getragen, die miteinander verzahnt waren und sich nicht selten bekämpften. Als Bestandteile oder Leitinstanzen dieser Polykratie gehörten neben der NS-Führungsspitze, die Massenpartei, die SS sowie die Staatsbürokratie auch das Militär, die Wirtschaft, die Kirchen und die Wissenschaft. Dieses Bündnissystem zwischen Nationalsozialismus und alten sozialkonservativen Eliten, das dem System Funktionsfähigkeit, Effizienz und Dynamik sicherte, bewährte sich auch in der Rassen- und Vernichtungspolitik.

 

Wie der Autor in seinen abschließenden Bemerkungen verdeutlicht, veränderte sich mit der genauen Kenntnis dieses Systems auch das Bild vom Holocaust. Ursprünglich stellte man sich im Nachkriegsdeutschland die Ermordung der Juden als einen industriellen Tötungsprozess vor, die Entscheidungen als Verwaltungsakte, die Täter als Schreibtischmörder. Der Genozid erschien entweder vollkommen unerklärlich, oder aber es wurden Erklärungen angeboten, die heute als unzureichend erscheinen: der pathologisch antisemitische Wahn Hitlers oder die Eigendynamik des Antisemitismus, der zu eigenmächtigen Aktionen von untergeordneten Dienststellen geführt haben sollte. Tatsächlich bestand der Holocaust aus einer nahezu ganz Europa umfassenden, über Jahre anhaltenden Serie von Massakern, von unvorstellbaren Grausamkeiten und Leid, verübt von Hunderttausenden - teilweise hochmotivierten - Tätern und Helfern, beobachtet von einer noch weitaus größeren Anzahl von Augenzeugen und damit Mitwissern.

 

Zusammenfassend ein für eine Habilitationsschrift und seinem Umfang (alleine der Anhang umfasst mit seinen Anmerkungen und Quellenhinweisen über 250 Seiten!) berücksichtigend erstaunlich gut zu lesendes Buch, auch wenn aufgrund der Unmengen an Zitaten und Quellenausschnitten das Folgen der Argumentationslinie einiges an Konzentration erfordert.

 

Fazit: Mit dem vorliegenden Buch schließt der Autors eine der letzten Lücken in der Historienforschung über den Zweiten Weltkrieg und seiner Aufarbeitung. Ein Buch, welches in jeder gut sortierten Bibliothek nicht fehlen darf.

 

Andreas Pickel

4 Sterne
4 von 5

© 2008 Andreas Pickel, Harald Kloth