David Stevenson

Der Erste Weltkrieg

1914 bis 1918

Die Völker erzählen ihre eigene Geschichte am allerliebsten mit den eigenen Vorurteilen, sie wiederholen ihre Mythen bis hin zu angeblichen historischen Wahrheiten. Oft sieht die Erzählung eines anderen Volkes über dasselbe Ereignis völlig anders aus. In der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung gilt trotz der Kenntnisnahme der Forschungsergebnisse der Anderen weitgehend dasselbe. Deshalb liest man mit großem Gewinn die Darstellung eines Historikers eines anderen Landes über ein geschichtliches und/oder politisches Ereignis, das zwei Länder oder Parteien verbindet.

 

Dies gilt in ganz besonderem Maße für David Stevensons Geschichte des Ersten Weltkriegs; er ist Professor für internationale Geschichte an der London School of Economics. Nun liegt sein monumentales Werk erstmalig in deutscher Übersetzung vor und es hat durchaus das Zeug dazu, zu dem Standardwerk nicht nur der englischen, sondern der europäischen Historiographie über das Schlüsselereignis zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu werden.

 

Im Mittelpunkt des Buches stehen die militärischen Ereignisse zu Lande und zur See. Sie sind im Zusammenhang mit den politischen, wirtschaftlichen und technischen Entwicklungen dargestellt. Schon die interdisziplinäre Vernetzung ist in dieser Intensität neu und führt zu teilweise anderen Bewertungen des Geschehens auf den einzelnen Kriegsschauplätzen, in den Hauptquartieren und bei den politischen Entscheidungsträgern. Die Gedanken Stevensons über materielle, taktische und psychologische Ressourcen der Kriegsführung gehen deshalb auch weit über den Ersten Weltkrieg hinaus. Die Erfahrungen der unmittelbar Beteiligten führten bei wenigen zu pazifistischen Überlegungen, bei vielen, nicht nur an den Stammtischen, sondern auch in den Generalstäben zu Planspielen, wie sie es beim nächsten Mal besser zu machen wäre. Vor allem hier lässt die genaue Kenntnis der von Stevenson vermittelten Fakten eine bessere Einordnung des Nachkriegsverhaltens der Akteure in den einzelnen europäischen Ländern zu.

 

Die Darstellung des Elends und der Schrecken, die der Erste Weltkrieg sowohl für die Kämpfenden als auch für weite Teile der Zivilbevölkerung heraufbeschwor, ist eine Warnung vor jedem Krieg, denn alle Kriege oder militärischen Unternehmungen bergen das Risiko, das Prinzip der Verhältnismäßigkeit zu verletzen. Jeder Krieg ist schlecht und führt zu einem schlechten Frieden! Eine solche Warnung hatte es vor dem Ersten Weltkrieg kaum und wenn, nicht wirksam genug gegeben. Man hielt in fast allen europäischen Regierungen den Krieg noch für ein denkbares Mittel, politische ziele durchzusetzen, denn die meisten Politiker kannten nur noch den relativ „sauberen“ deutsch-französischen Krieg 1870/71 oder Kriege, die zu weit entfernt statt fanden, um daraus Lehren zu ziehen. Zudem gab es zu dieser Zeit kaum Massenmedien um viele Schichten der Bevölkerung den Grauen des Krieges vor Augen zu führen.

 

Das erste Kapitel des Buches „Der zerstörte Friede“, ist ein gelungenes Beispiel für eine ausgewogene Bewertung der Anteile, die den einzelnen Akteuren auf der europäischen Bühne am vermeidbaren Ausbruch des Ersten Weltkrieges zuzumessen sind. Die vor allem in den 20er Jahren auf allen Seiten erfolgten Beschönigungen der Fehler der jeweils eigenen Regierung, die Schuldzuweisungen an die anderen, waren eigentlich schon länger überwunden. Trotzdem fehlte eine von solchen nationalpsychologisch geprägten Verfälschungen freie Darstellung der Ursachen. Stevenson will dieses Defizit beseitigen und legt seine von nationalen Scheuklappen befreite Darstellung voller Urteilskraft vor! Nco mehr gilt das für die Beurteilung der Kriegsfolgen, die Bewertung der Friedensverträge, vor allem des Vertrages von Versailles, dessen undiplomatischen Formulierungen mehr noch als die harten materiellen Bedingungen, die in Deutschland zum wichtigsten Kampfargument der extremen Rechten wurden und damit den Nationalsozialisten den Boden bereiteten. Die Versuche, nach dem Krieg zu einer europäischen Friedensordnung zu gelangen, scheiterten auch, weil die militärischen Lektionen nicht richtig gelernt worden waren.

 

Stevenson beschreibt ebenso die Spätfolgen, die die territorialen Entscheidungen der Friedensverträge haben sollten: die Neuordnung der zerfallenen österreichisch-ungarischen Donaumonarchie wird noch bis in die jüngste Zeit in Frage gestellt und revidiert. Die Zerfalllsprodukte des Osmanischen Reiches im Nahen Osten waren von kolonialen Aufteilungsvereinbarungen zwischen England und Frankreich bestimmt und konnten nicht stabil bleiben. Der gesamte ostmitteleuropäische Raum ist bis heute in Neuordnung begriffen.

 

Solche Ausblicke betten den Ersten Weltkrieg in die Geschichte des vergangenen Jahrhunderts als das Schlüsselereignis. Wer darüber hinaus beispielsweise den Verlauf der Schlacht von Skagerrak nachvollziehen will, kann den Verlauf sowie die taktischen und materiellen Bedingungen für den Ausgang dieser für beide Seiten verlustreichen aber keineswegs entscheidenden größten Seeschlacht des Ersten Weltkriegs nachlesen.

 

Ergänzend zu Lesen auch Volker R. Berghahn Der Erste Weltkrieg (2004).

 

Fazit: Eine international gut ausgewählte Bibliographie, übersichtliches Kartenmaterial von den Kriegsschauplätzen und ein übersichtliches Register erschließen den Band, der auf absehbare Zeit die beste Gesamtdarstellung des Ersten Weltkrieges und seiner Folgen bleiben dürfte.

 

Wolfgang Gonsch

4 Sterne
4 von 5

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© 2007 Wolfgang Gonsch, Harald Kloth