David G. Marwell: Mengele

Biographie eines Massenmörders

 

Darmstadt ; Wissenschaftliche Buchgesellschaft Theiss ; 2021 ; 440 Seiten ; ISBN 978-3-8062-4277-5

 

Buchcover: David G. Marwell: Mengele
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Die Herrschaft des proklamierten tausendjährigen Dritten Reiches war ja 

bekanntermaßen bereits 1945 nach 12 Jahren beendet, seine Auswirkungen in der Strafverfolgung sind dagegen bis heute spürbar und aktueller denn je. Ein Grund dafür ist, dass man die Expertise der Nazi-Verbrecher schlichtweg beim 

verwaltungstechnischen Aufbau der neuen Bundesrepublik benötigte und so bei vielen Tätern manches Auge zugedrückt wurde. Aber auch die Strafverfolgung begann nur sehr schleppend und erfolgte erst auf Druck der Presse und ehemaliger Gefangener aus Konzentrations- und Arbeitslager, aber dann doch mit einer gewissen Vehemenz. 1958 wurde dazu u.a. die "Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung von NS-Verbrechen" in Ludwigsburg gegründet.

 

Unmittelbarer Anlass war damals der sogenannte Ulmer Einsatzgruppenprozess. Es war der erste Prozess vor einem deutschen 

Schwurgericht, in dem nationalsozialistische Massenmorde verhandelt wurden. Trotz des hohen Alters der damals Beteiligten hat die Justiz in den vergangenen zehn Jahren weitere große Anstrengungen unternommen, noch letzte überlebende NS-Täter ausfindig zu machen - nachdem sie zuvor jahrzehntelang ihre Bemühungen weitgehend eingestellt hatte. Nach den Auschwitz-Prozessen 1965/67 herrschte hierbei die Auffassung vor, man müsse NS-Tätern konkrete Einzeltaten nachweisen, um sie für Mord oder Beihilfe zum Mord verurteilen zu können. Das änderte sich erst mit dem Fall John Demjanuk, den das Landgericht München 2011 zu fünf Jahren Haft wegen Beihilfe zum Mord im Vernichtungslager Sobibor verurteilte - ohne konkreten Beweis für sein Wirken; allein durch seine Anwesenheit als Wachmann habe er aber einen Beitrag zum Holocaust geleistet, als Rädchen in der Mordmaschine, so die Urteilsbegründung.

 

Absolut unzweifelhaft ist dabei die aktive Beteiligung von Josef Mengele am Massenmord im Konzentrationslager Ausschwitz. Dessen Leben war quasi zweigeteilt: Im NS-Regime ein Profiteur des Systems, der skrupellos wehrlose Menschen für seine medizinischen Versuche missbrauchte, nach dem Krieg ein Flüchtiger, zunächst mehr oder weniger unbehelligt in Südamerika, dann nur noch in Verstecken lebend. Das Leben Mengeles, vergleichbar mit einem spannenden Kriminalthriller, hat nun David G. Marwell in einer aktualisierten Biographie Mengele. Biographie eines Mörders (aus dem Amerikanischen von Martin Richter) herausragend aufbereitet.

 

David G. Marwell war Teil des 1979 eingerichteten und dem US Justizministerium unterstellten Office of Special Investigations (OSI), deren Hauptaufgabe es war, nach NS-Verbrecher zu fahnden und deren Anklage vorzubereiten. Er war somit selbst aktiv an der langjährigen Suche nach Josef Mengele beteiligt und hat nun die erste wirklich umfassende Biografie über den „Mann an der Rampe“ geschrieben. Marwell`s aktive Beteiligung in den gründlichen Recherchen und detailgenauen Dokumentationen kommt damit in einem immensen Detailwissen gerade im zweiten Teil über die Suche nach Mengele und den Nachweis seines Todes zum Tragen - beeindruckend! Neben Briefe, Tagebücher sowie den erst 2017 einsehbaren 

Mossad-Akten nutzte er Mengeles selbst geschriebenes Buch als Grundlage und befragte zur Vervollständigung seiner Quellenlage intensiv Verwandte in Mengeles Heimatstadt sowie Überlebende von Auschwitz.

 

Mengele wuchs in einem finanziell gut situierten Elternhaus in Günzburg auf. Als er wegen gesundheitlicher Einschränkungen die väterliche Fabrik für Agrartechnik nicht übernehmen konnte und auch wollte, schlug er stattdessen eine akademische 

Karriere ein. Er studierte mit Humangenetik und Anthropologie Disziplinen, die mit ihm an entscheidender Stelle das Schicksal von Millionen von Menschen bestimmen sollten. Mit Unterstützung von Otmar von Verschuer (war zunächst Leiter des Universitäts-Instituts für Erbbiologie und Rassenhygiene Frankfurt am Main und dann von Oktober 1942 bis 1948 Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts - KWI für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik in Berlin) wurde Mengele schnell ein anerkanntes Mitglied in der nationalsozialistischen Rassenkundecommunity im Sinne, so Marwell, der „Gesundheit des Volkskörpers“. Nach seiner Promotion folgte zunächst ein Fronteinsatz bei der SS-Panzer-Division „Wiking“, die nachweislich an der Ermordung von Tausenden von Juden in Polen, später im Kaukasus beteiligt war (Belege über die Beteiligung 

Mengeles existieren allerdings nicht). Während dieser Zeit wurde Mengele auch das Eiserne Kreuz Erster Klasse (EK I) verliehen. Im Mai 1943 meldete er sich schließlich für ein Engagement als Lagerarzt in Auschwitz.

 

An seiner Habilitationsschrift arbeitend, baute er sich dort ein ansehnliches Labor mit den jüdischen Häftlingen in einer traurigen Doppelrolle auf: Einerseits mussten jüdische Mediziner ihm in seinen Forschungen beistehen und unterstützen, andererseits mussten sie, tot oder lebendig, als Forschungsobjekte herhalten. Mengele selektierte an der Entladerampe in Auschwitz mit der Bewegung seines Daumes Tausende von Juden in „Forschungsobjekte“ bzw. Arbeitssklaven oder verfügte ihren sofortigen Tod in der Gaskammer. Marwell beschreibt, wie Mengele diese Tätigkeit, ja Machtausübung, innerlich befriedigte. Er ließ Menschen, die er makabrer Weise „meine Meerscheinchen“ nannte, töten, um sie zu obduzieren und versorgte so auch insbesondere das oben genannte KWI mit jeglichen menschlichen Präparaten. Mengele hatte seine Profession und Passion gefunden, seine Begabungen deckten sich nun fast komplett mit den Anwendungsmöglichkeiten in Auschwitz. Mit nur 33 Jahren, so Marwell, stand Mengele „auf dem Gipfel des Erfolgs“.

 

Die zweite Lebenshälfte war dann, wie bei so vielen Nazi-Größen sofern sie nicht Suizid begingen, eine Demontage des Erreichten. Mit Kriegsende geriet Mengele zunächst in Kriegsgefangenschaft, wurde aber wegen der fehlenden 

Blutgruppentätowierung nicht als Angehöriger der Waffen-SS erkannt und fälschlicherweise wieder entlassen. Mengele stand zwar auf Liste Nr. 8 der von der UN-Kommission für Kriegsverbrechen gesuchten Personen, profitierte aber von 

nur schleppend in den diversen Internierungslagern verteilten Listen. Der US-Hauptankläger bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen erklärte ihn 1948 für Tod. Stattdessen gelang es Mengele 1949 mehr oder weniger unbehelligt über Südtirol nach Südamerika auszuwandern, erst nach Argentinien, später dann nach Paraguay und Brasilien. Vor Abreise verzichtete er gegenüber seinen beiden Brüdern gegen regelmäßige finanzielle Zuwendungen auf seinen Erbanteil an der 

väterlichen Fabrik. In Südamerika konnte Mengele durch Protegieren von gut situierten Nazi-Sympathisanten 30 Jahre lang [sic!] ein mehr oder weniger sorgenfreies Leben  führen. Er konnte sogar unter falschem Namen wieder als Mediziner beruflich tätig werden und war nachweislich 1956 zu Besuch in Deutschland, ohne, dass er dafür habhaft gemacht wurde.

 

Erst 1959, also 10 Jahre nach seiner Flucht, erließ die Staatsanwaltschaft Freiburg aufgrund eines anonymen Hinweises auf seine Existenz in Südamerika einen Haftbefehl gegen Mengele. Diese Unbekannte hatte per Zufall in einem Buch über Anne Frank gelesen, dass keiner wisse, ob Mengele Tod sei oder noch lebe und sie hätte da gegenteilige Beweise. Mengele wurde in Südamerika von seiner Familie über die geänderte Situation informiert. Er musste nun zwangsweise seine Komfortzone verlassen, nun begann ein Leben auf der Flucht. Spannend wie in einem Krimi schlüsselt in diesem Teil des Buches Marwell fast minutiös auf, wie man in einer Art konzertierten Aktion zwischen Deutschland, Israel und den USA versuchte, ihn ausfindig zu machen, festzunehmen und vor Gericht zu stellen. Aber Marwell zeigt in den Ausführungen zu Mengele’s „zweiten Leben“, der sich mittlerweile Wolfgang Gerhard nannte, auch das gesamte Versagen der Justiz und Geheimdienste auf. So stellte zum Beispiel auch der israelische Geheimdienst 1968 auf Weisung des damaligen Premierministers die Suche nach Kriegsverbrecher 10 Jahre lang fast vollständig ein und intensivierte diese Suche erst mit der Bildung einer Sondereinheit innerhalb des Mossads unter der Regierung von Menachem Begin Anfang 1979 wieder. Aber trotz aller verstärkter Bemühungen von vielerlei Stellen konnte man seiner nicht habhaft werden, bis Mengele dann bei einem Unfall zu Tode kam. Schließlich blieb nur noch in einem aufwendigen Prozedere den Tod Mengeles eineindeutig festzustellen. Am 6. Juni 1985 wurde sein potentieller Leichnam exhumiert und im Anschluss von zwei Teams der „ersten Reihe der amerikanischen Pathologen“ intensiv untersucht. Marwell inspizierte zwei Wochen später den Leichnam, zweifelte daran, dass es sich hundertprozentig um Mengele handeln könnte und initiierte weitere Untersuchungen. Das bisherige Resultat, es sei „mit hoher Wahrscheinlichkeit“ der Leichnam Mengeles, war in einem derart wichtigen Fall zu vage. Schließlich verglich man die gesamte „Krankenakte“ von Mengele mit dem Zustand des Leichnams, beginnend bei Hüftfraktur, Darmverschluss, Gebiss, operierter Leistenbruch etc. Dieser Teil des Buches ist leider etwas zu langatmig. Erst 1992 wurde dann unter der Nutzung 

der relativ neuen DNA-Analyse eindeutig festgestellt, dass der 1979 nach einem Badeunfall (Mengele erlitt einen Schlaganfall) an der brasilianischen Küste gefundene Leichnam auch wirklich Josef Mengele war. Die Vereinigten Staaten schlossen daraufhin die achtjährige akribische Untersuchung offiziell ab.

 

Mengele wurde in einem Regime groß, dass unterhalb von Hitler als Leitinstanz von mehreren Machtsäulen getragen wurde, die miteinander verzahnt waren und sich nicht selten bekämpften, die auch vielen Rivalitäten und inneren Konflikten 

ausgesetzt waren, aber eine von allen akzeptierte NS-Ideologie mit seinem Antisemitismus im Zentrum hatte. So fielen gerade die wissenschaftlichen Versuche im Sinne der Rassenkunde auf einen fruchtbaren Boden, der so manches  Unrechtbewusstsein verschluckte. Die damaligen Motive der Menschen sind vielleicht aus heutiger Sicht nicht verständlich, aber zumindest nachvollziehbar. Selbst die gebildetsten Leute wie auch Mengele konnten den Verlockungen des Nationalsozialismus nicht wiederstehen, Verlockungen wirtschaftlicher Art, Karriere, machtpolitische Erfolge. So waren es vor allem auch Naturwissenschaftler, Techniker, Ingenieure und Mediziner, die einerseits vom Regime gebraucht wurden, aber im Wissen um ihre Wichtigkeit auch unheimlich profitierten – so wie später auch beim Wiederaufbau des sich am Boden 

befindlichen Deutschlands. Die Wissenschaft gerade im Bereich Rassenkunde agierte ohne jegliche Moral und Skrupel.

 

Nach dem Krieg schob man dann die Verantwortung einigen wenigen, meist bereits verstorbenen Protagonisten in die Schuhe und entlastete somit gleichzeitig unzählige Helfer und Helfershelfer in exponierter und führender Stellung. Diese passten sich bereitwillig der neuen Situation an und wurden mehr oder weniger überzeugte Demokraten, auch als eine Art persönlichen Ankers, nachdem der Führer abhandengekommen war. Die ehemals bedingungslosen Nazis waren nun als 

Verwaltungsexperten und Wissenschaftler unabdingbar für den Aufbau und die Etablierung des neuen demokratischen Staates. Diese „win-win-Situation“ deckte den Mantel des Schweigens über viele und vieles z.B. über die anfängliche sehr 

sehr schleppende Verfolgung der Verbrecher und Massenmörder im In-, aber die hohe Zahl der Geflüchteten betrachtend, auch im Ausland.

 

Die Geschichte und Verfolgung Mengeles nach dem Krieg, im Zuge dessen immer noch mehr über das grausame Wirken des „Doktors“ in den Kriegsjahren zu Tage trat, wurde zum traurigen Sinnbild für die Verbrechen der Medizinergilde im NS-Regime, gerade in den Vernichtungslagern. Als Synonym für all die grausamen Menschenversuche steht Mengele, der selbst später alles andere als reumütig gewesen ist, an ersten Stelle. Im Gegensatz aber zu den anderen Verbrechern und 

Massenmördern zB in den berüchtigten Einsatzgruppen, sah er sich nicht nur auf Befehl gehandelt zu haben, sondern alles im Dienst der Medizin und Rassenkunde und damit zum Wohle der Menschheit getan zu haben. Marwell widerlegt deutlich den Mythos, Mengele wäre ein bizarrer, komplett Verrückter Mediziner gewesen, sondern weist nach, dass Mengele vielmehr „das Produkt eines viel größeren Systems des Denkens und Handelns“ war. Mengele’s Verhalten und Forschungen waren nicht anomal, nein! Er genoss das Vertrauen und höchste Förderung des NS-Establishments und konnte in diesem unregulierten Raum über jegliche auch ethischen Grenzen hinaus agieren. Mengele, dem selbst Häftlinge einen eigentlich angenehmen und ruhigen Charakter attestierten, wurde für seine aktive Verantwortung für Tausende von Toten in den Gaskammern und seinen menschenunwürdigen grausamen Experimenten nie belangt. Und, wie Marwell auch anhand eines vorliegenden Schriftverkehr zwischen Mengele und seinem Sohn belegt, zeigte Mengele in seiner gesamten zweiten Lebenshälfte in Südamerika ebenso keinerlei Reue- und Schuldgefühle über sein Tun und dachte unverändert als der Mengele von 1944 an der Rampe in Auschwitz.

 

Obwohl Mengele nachweislich Tod ist, sind seine mangelnde Reue sowie die ganzen Umstände seiner Flucht und die unkoordinierten Maßnahmen, ihn zu finden eher nicht dazu geeignet, den Hunderttausenden Opfern Gerechtigkeit wiederfahren lassen zu können.

 

Maxwell entmythologisiert oder besser entdämonisiert Mengele vor allem hinsichtlich aller Spekulationen um ihn in Auschwitz ohne seine aktive Rolle am Massenmord zu negieren. Historikern wie Marwell ist es zu verdanken, dass wir, trotz auch unmittelbarer Betroffenheit bei den langjährigen Untersuchungen, durch eine sachliche und distanzierte Schreibweise mittlerweile eine Erinnerungskultur an die dunkelste Zeit Deutscher Geschichte und seiner Protagonisten haben, die frei von Klischees ist.

 

Fazit: Spannend wie ein Krimi. Herausragend sachlich aufbereitete Erinnerungskultur einer dunklen Epoche.

 

Andreas Pickel

4 Sterne
4 von 5

 © 2021 Andreas Pickel, Harald Kloth, Cover: Copyright © Wissenschaftliche Buchgesellschaft Theiss

 

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