Jacques Semelin: Ohne Waffen gegen Hitler

Eine Studio zum zivilen Widerstand in Europa

Göttingen ; Wallstein ; 2021 ; 285 Seiten ; ISBN 978-3-8353-3908-8

 

Buchcover Jacques Semelin: Ohne Waffen gegen Hitler
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Eigentlich ist es paradox: Die bekannten militärischen Widerständler um Graf Schenk von Stauffenberg und dem Kreisauer Kreis oder aber Widerstandsgruppen wie die Weiße Rose um die Geschwister Scholl (gerade jetzt zu dem 100. Geburtstag von Sophie Scholl) füllen mittlerweile ganze Bibliotheken und sind vielen auch heute noch bekannt. Jedoch haben diese durch ihre Aktionen für den Bürger 

unmittelbar und ihrem Umfeld kaum was bewirkt (deren Bedeutung für die Nachwelt und dem Ansehen Deutschlands will ich dabei natürlich nicht im Geringsten 

schmälern), im Gegenteil, sogar schlimme Repressalien und noch stärkeren Terror ausgelöst. Dagegen blieben diejenigen, die im Stillen, quasi unaufgeregt, erfolgreich Widerstand geleistet und Hunderttausenden von Menschen das Leben gerettet haben, gerade in der deutschen Literatur fast gänzlich unerwähnt. An diese unzähligen, vielfach eher unbekannten mutigen Taten erinnert Jacques Semelin in seinem bereits 1989 erschienen Buch: "Sans Armes faces à Hitler. La résistance civile en Europe 1939 – 1943" (Éditions Payot), das nun in seiner 2. Auflage übersetzt von Ralf Vandamme unter dem Titel „Ohne Waffen gegen Hitler. Eine Studie zum zivilen Widerstand in Europa“ (Wallstein Verlag, Göttingen 2021) im deutschsprachigen Raum erhältlich ist.

 

Semelin lehrt als Historiker und Politologe am Centre de Recherches Internationales/ (CERI), war u.a. auch schon als Berater der Vereinten Nationen für Genozid-Prävention, und ist ein ausgewiesener Experte für das dunkle Kapitel „Völkermord“. Um es vorwegzunehmen, Semelin hat ein unvergleichliches Standardwerk über den zivilen Widerstand gegen das nationalsozialistische Terrorregime geschrieben.

 

Während allerorten Partisanen mit Waffengewalt gegen die Besatzungstruppen aufbegehrten, war der Widerstand der normalen Bevölkerung in den besetzten Gebieten meist waffenlos. Jedoch hält Semelin den Term „gewaltfreie Aktion“ in  diesem Zusammenhang für wenig zweckmäßig sowie zielführend und wählt stattdessen eben den Begriff „ziviler Widerstand“. Er versteht zivilen Widerstand als „spontanen und unbewaffneten Kampf einer zivilen Gesellschaft gegen einen äußeren Aggressor“. Widerstehen heißt zunächst einmal, nicht zu resignieren sondern zu verweigern. Aus dem puren Trieb der Selbsterhaltung soll das weitestgehend bewahrt werden, was der Besatzer zerstören möchte, mit dem Ziel, die alte Ordnung und die Werte der Vorkriegszeit zu rekonstruieren. Wie der Autor gegen Ende seines Buches unterstreicht, geht es ebenso darum, sich einer destruktiven Welt zu entziehen und stattdessen selbst treu zu bleiben. Am Wirkungsvollsten ist Widerstand dann, wenn ein Minimum an Verlusten ein Maximum an Erfolg erlaubt, also möglichst wenig aufs Spiel zu setzen und trotzdem seine Ziele zu erreichen.

 

Bereits in „Mein Kampf“, so Semelin, hat Adolf Hitler seinen gleichermaßen innen- wie außenpolitischen Aktionsrahmen definiert, den er dann spätestens ab 1939 auf teils brutalste Art und Weise in die Realität umsetzte. Gerade wegen den, dem militärischen Sieg folgenden diversen Besatzungsmethoden, kam es örtlich wie zeitlich ebenso zu unterschiedlichsten Ausprägungen von zivilem Widerstand. Anhand wenig bekannter Beispiele verdeutlicht Semelin, wie erfolgreich diese Art des Widerstands sein kann, wenn dafür gewisse Voraussetzungen gegeben sind. Während es in Nord- und Westeuropa gleichermaßen eine Balance zwischen „milder“ Unterdrückung und Kollaboration gab, ging es Hitler in Ost- und Südosteuropa von Anfang an nur um Völkermord an den von ihm so titulierten „Untermenschen“ sowie um wirtschaftliche Ausbeutung. Gerade in Frankreich, den Skandinavischen Ländern, den Niederlanden, Belgien und Frankreich, also in den „klassisch besetzen“ Gebiete, war gemäß den Studien und Analysen von Semelin der waffenlose Widerstand unter gewissen Bedingungen hinreichend erfolgreich, in den besetzen Ostgebieten, wo es eher um einen ideologischen Krieg ging, war dies schon vielmehr schwieriger oder fast unmöglich. Dort agierte die wütende SS unerbittlich und erstickte jeglichen Widerstand bereits im Keim bzw. machte wie im Warschauer Ghetto mordend alles dem Erdboden gleich.

 

Da sich einerseits die Ideologie, die Besatzungsziele sowie die Art und Weise der Besatzungsexekution und andererseits auf Seiten der besetzten Ländern die Handlungsmöglichkeiten der staatlichen Institutionen unterschieden, hatte dies auch wesentlichen Einfluss auf die jeweiligen Handlungsspielräume der Zivilgesellschaft. Aufgrund der ideologischen Ausrichtung und den zentralen Richtlinien der Reichsführung sollte eigentlich die Besatzungspolitik nach gleichen Grundsätzen praktiziert werden. Trotzdem wechselten die Formen und die Intensität der Besatzung dabei im Laufe des Krieges, was sich auch in einem jeweils unterschiedlichen Lebensalltag der Menschen und in einer Adaption des Widerstands widerspiegelte. So unterscheidet Semelin zwischen fünf Formen der Besatzung nach Kapitulation eines Staates gegen das NS-Reich: Annexion (z.B. westliches Polen, Luxemburg), nationalsozialistische zivile oder militärische Direktverwaltung (z.B. Norwegen, Niederlande, große Teile Frankreichs), Schutzherrschaft (z.B. Protektorat Böhmen und Mähren, Dänemark, Süden Frankreichs) oder Auftragsverwaltung über verbündete Staaten (z.B. Rumänien, Ungarn, Bulgarien). Dementsprechend gab es dann entweder zivile oder militärische „Reichskommissare“ oder wie z.B. in Dänemark „nur“ einen „Reichsbevollmächtigten. Von Bedeutung für jegliche Art des Widerstandes, so der Autor, war einerseits die Intensität der Zusammenarbeit von Besatzern und Besetzten und zum anderen auch wie geschlossen ein Land hinter den Verhaltensweisen ihrer Regierung stand.

 

Ein negatives Beispiel war Frankreich, wo es im Zuge der Etablierung des Vichy Regimes zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen kam. Insgesamt aber, so Semelin, war das Verhältnis Besatzer-Besetzte eher ambivalent als „böse-gut“ zu charakterisieren, was auch den anfänglich überall schwachen Widerstand erklärt. Schon meist aus reinem Opportunismus gab es auch hundertausendfache Kollaboration, um seine Lebensbedingungen und der seiner Familie zu verbessern, sich vor Zwangsarbeit oder gar dem Tod zu schützen. Niemand wusste ja, wie lange die Besatzungszeit des stilisierten  „Tausendjährigen Reiches“ dauern würde – zum Glück viel kürzer als viele glaubten und befürchteten. Erst mit der Niederlage von Stalingrad und die auch für alle wahrnehmbare Umkehr der Kräfteverhältnisse zugunsten der Alliierten erfuhr der Widerstand eine spürbare und qualitative Veränderung in Hinblick auf Befreiung.

 

Nach der *militärischen* Niederlage und einer damit *militärisch* besiegten Gesellschaft sollte durch den Widerstand der Institutionen und bestimmter Gruppierungen der Bevölkerung der Kampf gegen den Besatzer um die Kontrolle der  Zivilgesellschaft gewonnen werden. Je eindeutiger dabei die Position der legitimen Macht war, desto größer war der Zusammenhalt oder auch andersherum, Widersprüche im Staatsapparat spiegelten sich in der Gesellschaft wider. Der  Widerstand konnte sich somit mehr oder weniger spontan aus den Bürgern, der Bevölkerung formen oder eher von oben herab durch den Staat oder Organisationen, denen sich dann mehr und mehr anschlossen. Ziviler Widerstand folgte somit drei großen Linien: erstens als Unterstützung militärischer Befreiungsoperationen, zweitens als politischer oder institutioneller Widerstand und drittens als moralisch und ideell motivierter Widerstand, das heißt, trotz aller Repression  mutig weiter den eigenen Werten zu folgen und diese zu verteidigen. Ziviler Widerstand muss nicht unbedingt gewaltfrei bedeuten, aber die Gefahr einer grausamen Gegenreaktion der Besatzer war dadurch geringer und nachweislich wurden die die Nazis sogar eher dann zum Nachgeben gezwungen, wenn der Widerstand ohne körperliche Schädigungen erfolgte. Noch erfolgreicher war man, wenn man gemeinsam für gewisse Werte kämpfte, sich gemeinsam dafür entschied, für gemeinsame Alternativen einzutreten und auch gemeinsam die Verantwortung dafür zu übernehmen. Zielführend war Widerstand also nur, wenn man „an einem Strang zog“, möglichst viele mobilisieren konnte, um sich quasi „massiv-mutig“ der regionalen Besatzungspolitik oder zumindest Teilen davon entgegenzustellen und zu widersetzen – und man war sehr oft damit erfolgreich, da die Faschisten in vielerlei Hinsicht, vor allem im Bereich der Wirtschaft, von der Kooperation der Besetzten abhängig waren. Die „Macht der Worte“, sei es auf Flugblättern, in Zeitungen oder auch über Rundfunk, auch und gerade aus dem Untergrund, war dabei nicht zu unterschätzen. Man versuchte so, nach und nach die Gruppe der „Ungehorsamen“ zu vergrößern bis es zu einer Art massenhaftem Widerstand kam, der den Besatzer dann dazu zwang, Kompromisse in der Erreichung seiner Ziele einzugehen. Der Besatzer sollte dann auch spüren, dass die Besetzten diesen Kompromiss akzeptierten, sich also mit dem Besatzer arrangierten und nicht nach dem Motto „kleiner Finger – ganze Hand“ weitere Forderungen stellten.

 

Trotz der Vielzahl an Widerstandsgruppen gab es kaum länderübergreifende Initiativen und Aktionen, meist war es schon schwierig, innerhalb eines Landes konzertiert den Widerstand aus unterschiedlichsten (politischen und religiösen) Richtungen zu bündeln. Wichtig für den zivilen Widerstand, so Semelin, war die öffentliche Meinung, der emotionale Ausdruck einer Gesellschaft, die so Druck auf den Besatzer ausüben konnte. Dies aber mit der Einschränkung des oftmals begrenzenden Charakters der öffentlichen Meinung. Dies wurde vor allem in der Behandlung der Juden durch das NS-Regime deutlich: Weder die Kirche noch die Gesellschaft hat jemals größer angelegt und nachhaltig gegen die Judenverfolgung protestiert. Man mobilisierte gegen andere Untaten, aber gerade die (öffentliche) Ausgrenzung der Juden blieb unbeachtet. Dies war mit einer Grund seiner zunehmenden Radikalisierung, der schließlich bis zum Genozid führte. 

 

Viele wussten spätestens seit Ende 1941, dass es nach Ausgrenzung und Deportation auch zunehmend zu massenhaften Tötungen bis zur physischen Vernichtung kam. Hitler hatte nie einen Hehl daraus gemacht zu verkünden, mit Beginn des Krieges beginnt die Vernichtung der europäischen Juden. Trotzdem hat niemand die Konsequenzen daraus gezogen, denn, etwas Wissen heißt noch lange nicht etwas Glauben, so der Autor. Das menschliche Vorstellungsvermögen reichte nicht aus, sich das Wüten der SS-Einsatzgruppen und die Massentötungen in den Gaskammern von Auschwitz vorzustellen. Trotzdem gab es natürlich auch Menschen, die es sich zum Ziel setzten unter Einsatz des eigenen Lebens jüdisches Leben zu bewahren, die potentielle Opfer versteckten oder ihnen die Flucht in ein Land ermöglichten, in dem sie erst einmal sicher vor dem Zugriff der Nationalsozialisten waren. „Schutzschirme“ wie Standhaftigkeit des Staates, eine öffentliche Meinung, die diese unterstützte sowie Solidaritätsbewegungen bei Unterstützung der Rettungsaktionen in Verbindung mit Unstimmigkeiten bei den Besatzern versprach hin und wieder Erfolg! Aber die physische Vernichtung der Juden war schon zu weit fortgeschritten, um sie noch aufzuhalten. Die „Genozidmaschinerie“ lief irgendwann auf Hochtouren, gegen die gab es nichts mehr auszurichten. Für Semelin war „Auschwitz das Endstadium einer langanhalten Krankheitsentwicklung mit tiefgreifenden Wurzeln“. Gegen den Genozid war jeglicher Widerstand zwecklos, hier hätte nur frühzeitige Vorsorge geholfen.

 

Semelin räumt im Gegensatz zu den meisten seiner Historikerkollegen dem Schicksal der Opfer und der Vielzahl der Helfer einen breiten Raum ein und gibt somit den Millionen von größtenteils anonym gewordenen Toten eine Stimme. Die  ideologisch bedingten Ursachen des Genozid kann man nur dann in Gänze nachvollziehen, wenn man das grausame Schicksal der Opfer berücksichtigt und auch die Ursachen für das „Wegschauen“ („Davon haben wir nichts gewusst“) hinterfragt. Trotzdem haben viele hingeschaut und unter Einsatz ihres eigenen Lebens geholfen, wo es ihnen mit den beschränkten Mitteln möglich war. Semelin analysiert ohne größere Emotionen, auch bei den Kapiteln zum Genozid, sondern lässt historische Dokumente, Briefe, Verordnungen und Protokolle sprechen. Nur so ergibt sich ein klares Lagebild ohne effektheischende Darstellung des teils Unglaublichen mit einer möglichen falschen Faszination historisch wenig sattelfester Menschen.

 

Semlins Motivation und Anspruch für die dem Buch zugrundeliegende Studie war es herauszufinden, ob eine Gesellschaft von außen auferlegte Aggressionen, Repressionen und Repressalien auch ohne Waffen Widerstand leisten kann. Diesem Anspruch wird er voll gerecht. Für ihn heißt Widerstand leisten auf dem Vorrang fundamentaler Werte vor der Unwägbarkeit einer auferlegten politischen Ordnung zu bestehen. Vereinfacht zusammengefasst konnte sich ziviler Widerstand in Ländern mit demokratischer Tradition und starkem Zusammenhalt der sozialen Gruppen eines Staates am besten entwickeln, die Unterstützung durch die öffentlichen Meinung sowie der Verzicht auf den bewaffneten Kampf waren ihre „Schutzfaktoren“. Ziviler Widerstand erstand bis dato und auch im Zweiten Weltkrieg eher spontan, so dass der Autor am Ende die Frage nach einer „Strategie der zivilen Verteidigung“ aufwirft.

 

Die nationalsozialistische Ideologie fand nicht nur in Deutschland, sondern in fast ganz Europa in unterschiedlicher Ausprägung seine Anhänger. Deshalb ist es laut Semelin auch für viele Länder von so immenser Bedeutung, das Aufbegehren 

durch den zivilen Widerstand neben der gewaltsamen Befreiung zu pflegen, in Erinnerung zu behalten, wie *gemeinschaftlich* das Böse vernichtet wurde. Nur ein starker sozialer Zusammenhalt einer Gruppe gegen einen Aggressor führt in einer kollektive Verweigerung gegen Kollaboration zum Erfolg. Semelin ist ein Meister darin, die Geschichte des zivilen Widerstandes nicht auf eine Ansammlung von Daten und Fakten zu beschränken, sondern dem Leser in nahezu gleichermaßen beängstigender (den Terror des Regimes beschreibend) wie auch ermutigender (die aktiven Taten der Menschen beschreibend) Weise die Umstände, den Antrieb der Täter wie Opfer aber auch die Umstände der NS-Zeit unter Berücksichtigung der internationalen Zusammenhänge in seiner Gesamtheit vor Augen zu führen. Die Darstellung der Zivilcourage der Menschen gerade im Westen und der Hilflosigkeit, ja Ahnungslosigkeit der Juden hinsichtlich ihrer quasi 

vorbestimmten Zukunft in einem Umfeld, das sehr wohl wusste dass deren Zukunft nur im Tod münden kann, zählt zu den historischen Leitungen Semelins.

 

Fazit: Unvergleichliches Standardwerk über den zivilen Widerstand gegen das nationalsozialistische Terrorregime.

 

Andreas Pickel

4/5 Sterne
4/5 von 5

   © 2021 Andreas Pickel, Harald Kloth, Cover: Copyright © Wallstein Verlag

 

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