Meşale Tolu: "Mein Sohn bleibt bei mir"

Als politische Geisel in türkischer Haft - und warum es noch nicht zu Ende ist

Hamburg ; Rowohlt ; 2019 ; 188 Seiten ; ISBN 978-3-499-00101-7

 

Im Juli 2016 versuchten Teile des türkischen Militärs durch einen Putsch die Regierung zu stürzen - vergeblich. Nach dem gescheiterten Putschversuch wurden vor allem in Europa und den USA wurden die Aktionen staatlicher Organe als Maßnahmen wahrgenommen, um das politische System der Türkei im Sinne einer autoritären Alleinherrschaft umzustrukturieren. Das Ergebnis war neben zehntausenden Festnahmen und knapp 290 Gerichtsverfahren auch
Entlassungen von über 130.000 Beschäftigten aus dem Staatsdienst sowie von über 20.000 Soldaten aus dem türkischen Militär.

 

Am 30. April 2017 in den frühen Morgenstunden wird Meşale Tolu vor den Augen ihres damals noch nicht mal dreijährigen Sohnes von Spezialkräften der Polizei festgenommen. Obwohl sie als Journalistin wusste, dass Verhaftungen zunächst nichts Ungewöhnliches sind, war sie stark beunruhigt, drohten ihr doch gemäß den Anklagepunkten ca. 20 Jahre Haft – dazu kam es aber glücklicherweise nicht.

Ihre Mutter kam in jungen Jahren bereits, zwar durch einen Autounfall, ums Leben, trotzdem beschäftigten Tolu auch Gedanken an den eigenen Tod oder zumindest einer jahrlangen Haft und somit der Gedanke, dass auch ihr Sohn ohne
Mutter aufwachsen müsste. Da sich zeitgleich auch Suat Corlu, ihr Mann und Vater des Sohnes Serkan, im Gefängnis befand, verbrachte sie Teile ihrer 8-monatigen Untersuchungshaft zusammen mit ihrem Sohn. Als sie ständig wie eine „Känguru-Mutter mit ihrem Baby im Beutel“ ihren Sohn zur Beruhigung durch die Gefängnisgänge trug, erweckte sie starkes Mitleid bei den Mitgefangenen. Schnell wird sie in der „Bespaßung“ ihres Sohnes fast schon rührend von ihren Zellengenossinnen im Frauengefängnis im Istanbuler Stadtteil Bakirköy unterstützt, entlastet und findet so auch mal Zeit nur für sich; Zeit, sich zu
pflegen, Briefe zu schreiben, Gedanken und neue Kräfte zu sammeln. Das Fehlen von Schnuller und Milch (gab es zwar im Glas, aber nicht in dem gewohnten Fläschchen) für ihren Sohn Serkan im Frauengefängnis symbolisiert das Verwehren
grundlegender Rechte aller Mitgefangener, die Willkür des Systems gegen vermeintliche Terrorunterstützer. Aber auch so waren die trotz allem Martyrium lebensbejahenden Frauen der Lichtblick. Besonders, wenn Tolu total „down“ war, holten sie diese mit außergewöhnlichen kleinen Aktionen wie „nächtlicher Tratsch bei Schokolade“ oder einem improvisierten Geburtstagskuchen mit Ohrenstäbchen als Kerzenersatz zurück ins Leben. Dies umso außergewöhnlicher, weil viele der
bereits jahrelang einsitzenden Frauen, so wie es Tolu treffend ausdrückte, stillgestellt in der Haft waren, während draußen das Leben in rasantem Tempo weiterlief. So lauschten auch andererseits die Frauen interessiert ihr, wenn sie über die neuesten technischen Errungenschaften in der freien Welt, im Bereich Handy zum Beispiel, erzählte.

Tolu mischt in ihr sehr emotionales und persönliches Buch auch immer wieder einen Blick in die jüngere Vergangenheit, wie sich also was in der Türkei zum Negativen entwickelt hat und liefert so dem politisch nicht so sattelfesten Leser den notwendigen Rahmen für ihre Geschichte. Am Überzeugendsten ist das Buch dort, wo die Autorin „kitschfrei“ ihre Emotionen wiedergibt, einerseits innerlich stark gegenüber sich selbst zu sein und gegenüber den Aufsehern und anderen Abhängigen des Sicherheitsapparates Erdoğans, ebenso die ihr verinnerlichten Werte zu verteidigen, andererseits auch die Angst, gegen diesen mächtigen Apparat wehrlos zu sein und wie viele ihrer Zellengenossinnen, unschuldig Jahre hinter Gitter zu verbringen. Selbst nach ihrem Freispruch versuchte man sie weiter zu brechen, in dem man grundlos ihre Freilassung verzögerte und sie erst mal weiter schikanierte. Diese Ambivalenz aus Stärke und Schwäche, Hoffnung und Hoffnungslosigkeit machen das Buch besonders. Und dieser Zwiespalt lässt sich ungeschminkt auf Hunderte ähnlich Betroffener übertragen.

Die Ulmerin Meşale Tolu war neben dem „Die Welt“ Journalisten Denzi Yüzel, der fast 300 Tage in Einzelhaft verbrachte, das in Deutschland bekannteste Beispiel von Einschüchterungsaktionen gegen Journalisten. Da Tolu eine deutsche Staatsbürgerin ist und die deutschen Behörden von ihrer Verhaftung nicht informiert wurden, machten den Fall so brisant. Aufgrund des öffentlichen und vor allem auch politischen Interesses führten beide Fälle zu einer erheblichen Verschlechterung des deutsch-türkischen Verhältnisses. Meşale Tolu erhielt Tausende von unterstützenden Briefen und Karten aus aller Welt ins Gefängnis.
Sie selbst empfand das als sehr wohltuend, einerseits isoliert zu sein von der Welt, die aber nun in Form von Post zu ihr kam. Die Autorin beschreibt eindrucksvoll und sehr plakativ ihre Gefühls- und Gedankenwelt in und um ihren Gefängnisaufenthalt.

Aufgrund des empfundenen Unrechts und als persönlich Betroffene ist es natürlich gänzlich unmöglich, die manchmal notwendige Objektivität zu bewahren. Ab und an etwas mehr Abstand zu den Geschehnissen wäre sicherlich hilfreich gewesen. Auch in Deutschland ist es sicherlich gang und gäbe, dass es bei einem Einsatz von Spezialkräften der Polizei nicht gerade zimperlich zugeht und es besser ist, da zunächst nicht zu widersprechen oder gar Widerstand zu leisten. Auch die
Verhältnisse an sich in der U-Haft klingen einigermaßen erträglich und wie eine Art „Großraumgefängnis„ (der Begriff „WG“ wäre sicherlich deplatziert). Auch fragt man sich, warum die anderen, viel viel länger inhaftierten Mitgefangene offensichtlich mit ihrem Schicksal besser zurechtkamen, als die Autorin. Aber die offensichtlichen rechtswidrigen Umstände ihrer Verhaftung, die sicherlich auch künstlich verlängernde Zeit bis zur zweiten Verhandlung und schließlich Freilassung, die kleinen Geschichten über das teils noch schlimmere Schicksal der Mitgefangenen, die für sie in einer bewundernswerten Gelassenheit die Last teils jahrzehntelanger Haft ertragen, sowie nicht zuletzt die Erzählungen über die fünf Monate gemeinsame Haftzeit mit ihrem Sohn machen das Buch lesenswert und geben ebenso einen Einblick in ein repressives System vs. „zivilcouragierte Pressefreiheit“.

Das in der Ich-Form geschriebene Buch ist alles andere als leicht verdauliche Kost, aber es ist bei einem derartigen Thema auch kein Platz für etwaige Beschönigungen. Tolus Buch fesselt und bestürzt gleichermaßen in seinen Beschreibungen der empfundenen physischen und psychischen Gewalt und der Denkweise der Erzählerin. Sie versteht es, den Übergriff auf andere Menschen mit Gewalt und andererseits auch Hoffnung die man schöpft aus Liebe, Liebe zu ihrem Sohn, zu ihrem Mann, Liebe zu ihren Leidesgenossinnen, zu verknüpfen. Teile des Buchtitels lauten ja: „und warum es noch nicht zu Ende ist“! Damit auch weiter ein wachsames Auge auf diejenigen geworfen wird, die davon erst jetzt oder immer noch betroffen sind, dazu trägt dieses Buch dankeswerter Weise bei und sollte deswegen weiter einen großen Leserkreis gewinnen. Dafür sorgt Meşale Tolu auch selbst und berichtet in unzähligen Talkshows, Vorträgen und Diskussionsrunden über das Schicksal all ihrer Leidensgenossen.

 

Fazit: Meşale Tolu beschreibt in ihrem Buch die Umstände ihrer ca. acht Monate langen Untersuchungshaft und - das Besondere dabei - diese lange Zeit zusammen mit ihrem erst drei Jahre alten Sohn.

 

Andreas Pickel

3 Sterne
3 von 5

© 2021 Andreas Pickel, Harald Kloth