Sophie von Bechtolsheim: Stauffenberg

Mein Großvater war kein Attentäter

Freiburg ; Herder ; 2019 ; 143 Seiten ; ISBN 978-3-451-07217-8

 

Am 20. Juli 1944 scheitert der Versuch Claus Schenk Graf von Stauffenbergs, Hitlers‘ Terrorregime ein Ende zu setzen. In der Folge werden über 200 Mitverschwörer und Widerstandskämpfer ermordet. Die zeitlichen Abläufe sowie ihre Konsequenzen für die handelnden Akteure, ihrer Mitwisser und ihrer Familien sind in den letzten Jahren, ja Jahrzehnten hinreichend und wissenschaftlich unbestritten dargelegt worden. Nun zum 75. Jahrestag erschienen einige neue Bücher, insbesondere zu den Motiven des „Attentäters“. Herauszuheben sind insbesondere die Biografien von Thomas Karlauf: Stauffenberg. Porträt eines Attentäters (Blesser Verlag) oder auch von Ulrich Schlie: Claus Schenk Graf von Stauffenberg: Biografie (Herder Verlag). Die teils aus ihrer Sicht irreführenden Interpretationen möglicher Motive sowie immer wieder die Nutzung des Terms „Attentäter“ hat nun die Enkelin von Graf Stauffenberg, Sophie von Bechtolsheim, dazu bewogen, ein kleines Buch mit sehr interessanten, klarstellenden  Aussagen zu dem Innenleben und Motiven des Grafen herauszubringen.

Ganz im Widerspruch zu Karlaufs „Porträt eines Attentäters“ war für von Bechtolsheim ihr Großvater eben kein Attentäter, sondern ein aufrechter Soldat, der neben vielen anderen versucht hat, einen Tyrannen zu beseitigen, um wieder einen Rechtsstaat zu etablieren. Attentäter wollen Angst und Terror verbreiten, ihr Großvater aber Terror beenden. Dabei ist es ihr wichtig zu betonen, dass Stauffenberg ein Offizier „par excellence“ war, dessen Ethos es verboten hat, einen Menschen zu ermorden, so wie es Attentäter (ge)wissentlich tun. Sie widerspricht vehement der Aussage Karlaufs, Stauffenbergs Tat wäre keine Gewissenentscheidung gewesen, die Kenntnis über die Ermordung der Juden wäre eben nicht der ausschlaggebende Grund gewesen. Karlauf nimmt mit seinen Behauptungen allen Widerständlern den moralischen Aspekt ihrer Taten und Handlungen und stellt sie so in ein mehr oder weniger schlechteres Licht. Um neben dem Aspekt der Berufsethik auch einen anderen Blickwinkel zu liefern, greift sie in die „Familienkiste“ und legt plausibel nach, warum der Begriff „Attentäter“ im Zusammenhang mit dem 20. Juli 1944 falsch sei.

Zweiter wesentlicher Kritikpunkt ist die aus ihrer Sicht zu starke Fokussierung auf ihren Großvater und die Vernachlässigung der ebenso heroischen Taten und Handlungen der anderen Widerständler. Dies ist vergleichbar mit der Widerstandsgruppe „die Weiße Rose“, die auch oftmals auf Sophie Scholl herabgesetzt wird und die Aktionen und aktive Mitarbeit der anderen Akteure ungerechterweise außer Acht lässt und nicht entsprechend würdigt (siehe Miriam Gebhardt: Die Weiße Rose). In einem Interview bezeichnet sie dies sogar als „geschichtsverfälschend“, dieses Netzwerk des Widerstandes, z.B. den Kreisauer Kreis, unberücksichtigt zu lassen und ihren Großvater nicht als Teil dieses Netzwerks zu betrachten.

 

Bechtolsheim hat nach eigenen Aussagen keine Biografie über ihren Großvater geschrieben, sondern ihre Kenntnisse aus Erzählungen und Gesprächen mit ihren Verwandten, allen voran mit ihrer Großmutter Nina, der sie absolute Glaubwürdigkeit attestiert, in Form eines Buches für die Nachwelt festgehalten. Sie versetzt sich gleichermaßen in die Situation der Menschen der NS-Zeit, verbindet diese mit dem Charakter ihres Großvaters in all seinen moralischen und psychischen Facetten sowie letztendlich mit dem bisherigen Forschungsstand. Diese Verknüpfungen und Beschreibungen der Situation vor Ort machen das kleine Büchlein sehr wertvoll.  Durch diese Methodik will sie Karlauf entlarven, entlarven dahingehend, dass nur wenige seiner Theorie auf Fakten, aber viel auf Mutmaßungen beruht. Dazu gehört zum Beispiel die durch Karlauf aufgeworfene Theorie, Stauffenberg sei durch den Dichter Stefan George in seinem Denken und Handeln geprägt worden.

Man erfährt so viel über den Privatmann Stauffenberg, den Ehemann, Vater und Sohn, weniger über den Berufsoffizier. In Diskussionen und Dialogen spielte er wohl gerne den Advocatus Diaboli (Strategie einer Person, die bei einem rhetorischen Streit zunächst ganz bewusst die Position seines Gegners einnimmt, dies jedoch nur, um diese schließlich trotzdem zu widerlegen) und er war ein begeisterter Patriot, eine Tugend, die danach für viele Jahrzehnte in Deutschland vergrämt war. Sie verhehlt aber auch nicht, das sich ihr Großvater die Sprache der Nationalsozialisten angeeignet hat, einfach, weil diese überall, im Radio und in Zeitungen, auf Kundgebungen, omnipräsent war. Aber Sie unterstreicht, er war kein Antisemit, wie auch schon einige Autoren behauptet haben. Auch wenn Stauffenberg sich erst spät der Gruppe der Widerständler anschloss, erst die Wahrnehmung der Judenmorde in den Ostgebieten ließen ihn „aktiv“ werden, war er zu keiner Zeit ein Verfechter des Regimes. „Beobachtend und abwartend“ ist wohl eher die richtige Bezeichnung. Die Autorin unterstreicht auch, dass es einen „Strauß von Bewegründen“ gab, die Tat zu begeben und nicht DEN einen Grund.  

 

Von Bechtolsheim hat ihren Großvater nie persönlich kennengelernt, deshalb nähert sie ich ihm aus drei Blickwinkeln: Aus Erzählungen und Schriftstücken ihrer Familie, von Freunden und Bekannten, ihrer persönliche Sichtweise sowie durch das Studium der aktuellen Forschung. Bei letzterem hilft ihr sicherlich der Umstand, dass sie selbst Historikerin ist, das merkt man, wie sie die Ansichten anderer Historiker argumentativ aushebelt, ohne persönlich zu werden. Interessant ist auch, als sie ihre Gefühle beschreibt, Bilder ihres Großvaters anzuschauen, „der Blick des Heutigen auf eine Person von damals.“ Stauffenberg besaß wohl die Gabe, gerade in hektische Zeiten und unter Stress die notwendige Ruhe zu behalten, die Situation sauber zu analysieren und dann die notwendigen und richtigen Entscheidungen zu treffen. War aber ein Entschluss getroffen, entwickelte er jedoch das notwendige Temperament, konnte andere davon begeistern und mitnehmen, ja mitreißen.        

 

Bechtolsheim schreibt ziemlich am Ende: Es gab Chancen, den Verlauf der Geschichte zu ändern. Der 20. Juli 1944 gibt den Versuchen, diese Chance zu nutzen, ein prägnantes Datum.“ Die jahrzehntelange Art von Stigmatisierung ihres Großvaters auf einen „Attentäter mit Heldenstatus“ durchbricht sie nachhaltig. Sie degradiert ihn stattdessen sehr wohltuend auf einen Normalbürger, der Widerstand leistete wie so viele andere. Er war also kein Einzelfall war, aber jemand, der eine besondere Tat begehen wollte. Diese besondere Tat war aber nicht das Attentat an sich, sondern der feste Wille, das Terrorregime zu beseitigen, einen demokratischen Rechtsstaat zu etablieren und eine Friedensordnung unter den Nationen zu verhandeln. Für Stauffenberg in seiner Sozialisation war es eine persönliche Verantwortung, Unrecht zu beseitigen und Recht (mit einem Reichskanzler Julius Leber) wieder zu etablieren. Die Autorin bezeichnet dies als „Das Notwendige zu tun, um Unrecht zu überwinden und Menschen zu ihrem Recht und ihrer Freiheit zu führen“ … und das ging nun einmal nur über den Weg der Tötung Adolf Hitler auch im Bewusstsein, scheitern zu können. Stauffenberg war es nicht möglich, nicht zu entscheiden und letztendlich nicht zu handeln Es war auch eine Entscheidung aus dem Bauch heraus, ob richtig oder falsch weiß man erst mit der Weisheit des Rückblicks. Bechtolsheims Art, sich ihrem Großvater zu nähern, sollte gerade der heutigen Generation, für die sich ein derartiges wichtiges Thema deutscher Geschichte immer weiter entfernt, den Zugang erleichtern. Dazu trägt auch der teils humorvolle, ironische Schreibstil des Buches bei, ein guttuender Gegensatz zu den sonst faktengeladenen Geschichtsbüchern.   

 

Geschichte kann am besten von Augenzeugen berichtet werden oder solchen, die Erzählungen von Augenzeugen ohne Interpretationen und Mutmaßungen wiedergeben. Da die Masse der Toten im Zweiten Weltkrieg erst nach 1944 starben, hätte eine erfolgreiche Tötung Hitlers viele Familientragödien erspart. Stauffenberg war kein Attentäter und auch kein Märtyrer, sondern handelte nach seinem Gewissen als aufrechter Offizier für die (Re-)Etablierung eines Rechtsstaats. Das unterstreicht das packende Buch von Bechtolsheim nachdrücklich. 

 

Fazit: Ein kleines Buch mit interessanten und klarstellenden  Aussagen zu Innenleben und Motiven des Grafen.

 

Andreas Pickel

4 Sterne
4 von 5

 © 2019 Andreas Pickel, Harald Kloth