Fotografin

William Boyd

Die Fotografin

Die vielen Leben der Amory Clay

Roman

München ; Berlin : Berlin Verlag ; 2016 ; 555 Seiten ; ISBN 978-3-8270-1287-6

 

William Boyd, schottischer Schriftsteller, ist ein Meister einer Art literarischen und zeitgeschichtlichen Illusion, der Vermischung von Realität und Fiktion. Nach Büchern wie „Ruhelos“ und „Eine große Zeit“, in denen Agenten, Spione und Maler die Hauptpersonen spielten, ist es nun in seinem neuen Roman eine Frau, eine Fotografin, die auf über 550 Seiten Mittelpunkt einer erfundenen Biografie ist. „Die Fotografin. Die vielen Leben der Amory Clay“ lautet der Titel seiner neuesten Lebensgeschichte, in der im Wechsel zwischen Erzählungen über zeitlich aufeinanderfolgenden Ereignissen und rückblickend eingefügten Tagebuchaufzeichnungen der nun zurückgezogen als 70 Jährige in Schottland lebenden Amory Clay das Leben einer Fotografin im 20. Jahrhundert (geboren 1908, gestorben 1983 durch Selbstmord) nachgezeichnet wird.


Amory Clay, Tochter eines kriegstraumatisierten Schriftstellers, beschließt schon in jungen Jahren entgegen dem damaligen Zeitgeist, Fotografin zu werden. Nachdem sie zunächst durch eine Ausstellung über das Rotlichtmilieu Berlins skandalträchtig Berühmtheit erlangt, heuert sie bei einer amerikanischen Agentur an, leitet selbst Fotoagenturen in Paris und anderswo und fotografiert fortan bei allen relevanten Ereignissen. Als quasi positiver Nebeneffekt wird der sie vermittelnde leitende, allerdings verheiratete Angestellte der Agentur ihr fast lebenslanger Liebhaber, für ihn und für vergleichsweise viel Geld geht sie auch einige Jahre selbst nach New York. Neben dieser sie ein Leben lang begleitenden Beziehung ist sie aber auch immer wieder anderen amourösen Abenteuern nicht abgeneigt.


Neben dem Weg zur einer angesehen Fotografin werden auch die ganz alltäglichen Probleme einer heranwachsenden jungen Frau in den 20er und 30er Jahren geschildert. Sehnsucht nach dem „ersten Mal“, Begegnungen und Zusammenarbeit mit dem homosexuellen Onkel oder auch die heute schwer vorstellbare Herausforderung, als Frau überhaupt den Beruf einer Fotografin ergreifen zu können und darin auch akzeptiert zu werden. Neben allen beruflichen Belastungen, heiratet sie später ganz „nebenbei“ noch einen kriegstraumatisierten, alkoholsüchtigen schottischen Adeligen und bringt Zwillinge auf die Welt, von denen zumindest eine ihr auch noch so manche schlaflose Nacht bereitet. Boyd untermalt und vor allem verbindet diese Lebensbeschreibung mit vielen Bildern anonymer Fotografen, die man irgendwie auch einer Amory Clay zuschreiben könnte und verknüpft die fiktive Geschichte auch mit realen Personen.


Clay’s Leben verläuft so, wie man es sich für einen Kriegsreporter oder auch Fotografen vorstellt. Interessant, aber auch gefährlich, so wird sie einmal brutal zusammengeschlagen mit schweren lebenslangen gesundheitlichen Folgen und ist mehrmals in Lebensgefahr. Trotzdem führt sie ein an sich cooles und lockeres Leben mit Sex, Rauchen, Alkohol, ständig neue Situationen und Personen kennenlernend. Apropos Alkohol, vor allem Whisky war wichtig, um überhaupt von manchen Erlebnissen überwältigt oder auch schockiert „herunterfahren“ zu können. Ja, Whiskykonsum oder die Einnahme von Barbituraten wird sogar für die Tiefschlaftherapie genutzt.


Der Roman ist auch ein Parforceritt durch das 20. Jahrhundert, sei es die Kontroverse mit all den faschistischen Strömungen in den 30er Jahren, zum Beispiel der „Schwarzhemden“ der „British Union of Fascists (BUF)“ in Großbritannien, diversen Kriegen vom Zweiten Weltkrieg bis hin zum Vietnam-Krieg oder auch gesellschaftliche Veränderungen. So gesehen ist der Roman teils auch ein guter Geschichtsunterricht, allerdings ohne belastbare Quellen und stark subjektiv geschildert. Richtigerweise wird der Kriegseintritt der USA 1941 als entscheidend für den Wandel der Welt beschrieben, aber wird gleichzeitig auch ein Meilenstein für den persönlichen Wandel der Amory Clay. Dies ist aber so denke ich oft so, einschneidende Veränderungen im weiteren Umfeld führen auch zu Veränderungen im eigenen Bereich. So führte der Tod des Bruders in der Normandie zu der Entscheidung, von London nach Paris zu gehen und von dort aus die Geschehnisse des Vorrückens der Alliierten und des Kriegsendes zu erleben. Aber trotzdem wird hier deutlich, eigentlich ist es egal, wo man örtlich genau ist, wo man genau lebt. Wichtig für ihren Beruf ist, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein, das Gefühl für die Situation zu haben, mit am Leben auf der Straße teilzunehmen, also, wie es so schön heißt, „mittendrin, statt nur dabei“ zu sein. Es wird aber auch klar, dass man oftmals nur der Spielball für höhere Notwendigkeiten ist. Man wird solange benötigt, solange man anderen dienen kann oder hilfreich ist. Ansonsten ist man schnell „ça ne vaut pas tripette“, also keinen Pfifferling mehr Wert. Dies auch, als sie in einer beruflichen Tiefphase Fotos für Hochzeiten und Volksfesten machen muss, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Schließlich folgt noch ihr letztes großes Projekt, die Teilnahme als „embedded journalist“ im Vietnamkrieg.


Das Buch ist gespickt mit Lebensweisheiten. Weisheiten, die man immer wieder nur mit der sogenannten „wisdom of hindsight“ (wörtlich übersetzt: Weisheit des Rückblicks) treffen kann. So zum Beispiel, dass man den Blick nur dann selbstbewusst nach vorne richten kann, wenn man die Wahrheit über seine Vergangenheit kennt. Wohl wahr! Allerdings verfangen sich diese Lebensweisheiten oft genug in Platituden, die wahre Botschaft des Buches, das „so what“ wird nicht deutlich. Für die Umsetzung einer interessanten Idee für einen Roman taugen weder das Thema einer gegen den Mainstream lebenden und handelnden Frau noch die Botschaften zu den verschiedenen Schauplätzen der Handlung. Welches Leben einer berühmten Fotografin hatte der Autor im Auge, als er den Roman schrieb? Soll man aus dem Roman lernen, nie mit Gram zurück, sondern immer mit Hoffnung nach vorne zu blicken, also nie zu resignieren? Selbst für die Fotografie Technik lernt man nicht viel dazu und auch sprachlich habe ich schon Interessanteres gelesen, gerade was die Buchabschnitte der Tagebuchaufzeichnungen betrifft. Andererseits macht es gerade die wenig hochgestochene Sprache, die Sprache der Straße, der anrüchigen Etablissements, des Kriegselends, der menschlichen Schicksale, die dem Roman eine möglichst große Authentizität geben.


Fazit: Wer weder eine faktenreiche Geschichtsbeschreibung über die Geschehnisses des 20. Jahrhunderts noch einen kitschigen Liebesroman noch einen spannenden Kriminalroman erwartet, sondern aus allem etwas, wird bei Boyd trotz allem eine interessante gut zu lesende Lektüre vorfinden, gerade für die anstehende Sommer- und Urlaubsphase.

Andreas Pickel

3 Sterne
3 von 5

© 2016 Andreas Pickel, Harald Kloth