Andreas Rödder: 21.0 - Eine kurze Geschichte der Gegenwart

München ; Beck ; 2015 ; 494 Seiten ; ISBN 978-3-406-68246-9

 

Wer heute, wie es so schön heißt, die Welt verstehen will, sollte sich nicht auf irgendwelche der meist polemischen und wenig informativen Talksendungen kaprizieren, sondern müsste dafür eigentlich mehrere überregionale und niveauvolle Tageszeitungen oder Bücher lesen. Denn, viele aktuellen Ereignisse und Geschehnisse sind nicht mehr historisch oder mit einer gewissen Logik herleitbar, es gibt heute auch nicht mehr die eine bestimmende Wissenschaft. Nein, stattdessen sind es meist Interdependenzen und Konglomerate aus Wirtschaft, Geschichte, Politik, Kultur, Religion und Soziologie die unsere heutige Situation, die Gegenwart, charakterisieren. Da sind wir einem Andreas Rödder dankbar, der uns in nur einem Buch diese nationalen und internationalen Zusammenhänge so plausibel erklärt, wozu normalerweise eine in mehreren Fachgebieten gegliederte Autorengruppe für die Zusammenstellung einer mehrbändigen Buchreihe notwendig wäre.


Rödder gelingt ein überaus gelungener Parforceritt durch alle Themen, die uns heute beschäftigen und als unmittelbar Betroffene auch beschäftigen sollten. Seien es innen- oder außenpolitische Herausforderungen unserer Zeit, gesellschaftliche, ethische  oder wirtschaftliche Probleme oder auch Errungenschaften, Rödder beantwortet Fragen, wie sie uns noch keiner, schon gar kein Politiker, erklärt hat, stellt nachvollziehbare Zusammenhänge her, die allerdings immer wieder neue Fragen aufwerfen können, die jedoch verlässlich nicht zu beantworten sind, gerade wenn sie in die Zukunft gerichtet sind. Die Zukunft, so Rödder, ist Aristoteles zitierend („Es sei wahrscheinlich, dass das Unwahrscheinliche passiert“) weder vorhersehbar, noch aus Vorgängen aus der Vergangenheit herleitbar oder wie es Helmut von Moltke, Chef des preußischen Generalstabs im 19. Jahrhundert, so treffend formulierte: „kein Plan überlebt die erste Feindberührung“. Jede noch so vermeintlich gute Strategie wird in kürzester Zeit obsolet, wenn sich auch nur eine ihrer Parameter oder Annahmen ändern und eine Zukunft vorhersagende „Crystal Ball“ ist leider noch nicht erfunden.

 

Laut Rödder wird „die Realität der Zukunft die Phantasie der Gegenwart überholen“, eine Ableitung von Erwartungen aus gemachten Erfahrungen mit der Weisheit des Rückblicks als dann Fortschreibung von Trends in die Zukunft ist nicht möglich. Durch die neuen Technologien und Medien können Räume und Distanzen in unvorstellbarer schneller Zeit überwunden werden, Informationen werden quasi in Echtzeit weltweit übertragen. Zeit und Ort, so Rödder, haben ihre determinierende Wirkung verloren.

 

Auch wenn das Buch den Untertitel „Ein kurze Geschichte der Gegenwart“ hat, ist es fast 500 Seiten dick. Aber angesichts der Themen, die sich Rödder vorgenommen hat, wieder erstaunlich dünn und flüssig zu lesen. In acht unterschiedlichen, aber doch verknüpften Kapiteln widmet sich Rödder Themen von Medialisation (verwiesen sei hier auch auf Bert te Wildt "Digital Junkies - Internetabhängigkeit und ihre Folgen für uns und unsere Kinder"), über Klimawandel, demografischen Wandel bis hin zu Krisen- und Konfliktbewältigung. Das ganze fundiert auf einem unheimlichen Fachwissen, welches durch fast 100 Seiten an Anmerkungen und Literaturhinweisen unterstrichen wird. Einprägend werden so Fakten und Theorie, Historie, aktuelle Entwicklungen mit analytischen Urteilsvermögen verbunden.

 

In seiner Analyse wird deutlich, dass die Gegenwart nicht als logische Konsequenz vergangener Handlungen erklärt werden kann. Dann würde es auch gewisse sichere Vorhersagen für die Zukunft geben. Dem ist aber bei weitem nicht so. Es gibt keine Absolutheit und in gewisser Weise auch keine festen Trends. Wir sind Teil einer Geschichte, die lange vor unsere Zeit begonnen hat und noch lange nach unserer Zeit andauern wird. Nicht mehr und nicht weniger. Dabei verweigert sich der Autor im Gegensatz zu vielen, zu weit zurück zu blicken, alles mit dem Zweiten Weltkriegs oder seiner historischen Schuld für uns Deutsche zu begründen. Die Weltkriege sowie die Nachkriegszeit können keine Referenz für den Verlauf der Geschichte darstellen, sondern sind für den Autor nur eine „historische Ausnahmeperiode“.

 

Dagegen zieht Rödder seine Analyse aus der unmittelbaren Vergangenheit. Er fragt detailliert nach dem „warum“ und „wieso“, nicht nach dem „wie“ und „wohin“. Wenn man im Bereich der Bildung die PISA-Studien betrachtet, in der (Kapital-)Wirtschaft die ordnungspolitischen Maßnahmen der Staaten und der Europäischen Union (nach dem lange Zeit „Ordnung durch Markt statt Ordnung für den Markt“ die Devise war) studiert, alles muss heutzutage messbar, quantifizierbar sein. Aber verbessert sich dadurch automatisch die Qualität? Rödder räumt auch mit Mythen auf, z.B. lamentiert jeder über das Ausmaß und die Auswirkungen der Globalisierung. De facto findet aber die Masse des Informations-, Güter-, Kapitalverkehrs national statt, nur drei Prozent der Menschen leben außerhalb ihres Geburtslandes.

 

Im Bereich der Sicherheitspolitik stellt er den Regierenden kein gutes Zeugnis aus. Die Verpflichtung zur Intervention bei Menschenrechtsverletzungen greift wohl im Kosovo oder Mali, nicht aber in Nordkorea oder gar in Russland oder China. Ist das konsequent? Auch das Überstülpen westlicher Ideale über einen seit Hunderten von Jahren islamisch geprägten Staaten ist fragwürdig, die Grenzen zwischen edlen Absichten der Intervention und unterdrückender Bevormundung sind fließend, siehe Afghanistan.

 

Trotz allem, gerade Deutschland geht es gut wie lange nicht mehr. Das ist Rödders‘ Kernbotschaft. Aber, das zeigt auch die Flüchtlingskrise, einerseits wollen alle irgendwie an unserem Fortschritt partizipieren und andererseits sind gerade europäische Partner mit einer „gefühlten Großmachtvergangenheit“ neidisch. Der Autor spricht hier von dem deutschen Dilemma, d. h. von Deutschland wird Führung und Stärke verlangt, die aber, wenn sie tatsächlich praktiziert wird, als Dominanz kritisiert wird. Um also weiter eine ausgewogene Politik zu betreiben, ist auf jegliche Arroganz zu verzichten.

 

Als das Buch publiziert wurde, kam gerade erst die Flüchtlingsproblematik auf, der Krieg in Syrien und das brutale Vorgehen des IS hatte noch nicht die Dimension wie heute, auch war der drastische Verfall des Ölpreises und die Auswirkungen der Stagnation der chinesischen Wirtschaft auf die internationalen Aktienmärkte noch nicht absehbar. Trotzdem ein Buch, welches aktueller ist denn je. „Erstens kommt es anders, zweitens, als gedacht“, passt auch hier zur Kernbotschaft des Autors. Insgesamt eine in einer Art „stakkatohaften Darstellung“ teils mit treffender Ironie und Weisheiten gespickten und auf den Punkt gebrachten Analyse aller aktuellen Vorgänge, die ich jedem wärmstens ans Herz legen kann. Die Aussage: „Wer wissen will, wie das Wetter ist, schaut nicht nach draußen, sondern auf die Wetter-App; im Zweifelsfall, wenn es draußen anders ist als auf dem Smartphone, lügt das Wetter“ sollte schon alleine genügend Motivation für das Lesen des Buches sein.

 

Fazit: Ein überaus gelungener Parforceritt durch alle Themen, die uns heute beschäftigen und auch beschäftigen sollten. Seien es innen- oder außenpolitische Herausforderungen, Errungenschaften unserer Zeit, gesellschaftliche, ethische oder wirtschaftliche Probleme.

 

Andreas Pickel

5 Sterne
5 von 5

© 2016 Andreas Pickel, Harald Kloth