Zoë Beck: Schwarzblende

Kriminalroman

München ; Heyne ; 2015 ; 411 Seiten ; ISBN: 978-3-453-41043-5

 

Am 26. Juni 2015, an dem vom Nachrichtenmagazin Spiegel proklamierten „Tag des Terrors“, hat Tunesien seinen bisher schlimmsten Terroranschlag  auf ausländische Touristen erlebt - mit 37 Toten. In Frankreich wurde in einer Gasfabrik bei Lyon erstmals in Europa ein Mensch von einem Dschihadisten geköpft. In Kuwait starben mindestens 13 Menschen, als in einer Moschee eine Bombe explodierte. In Kobane im Norden Syriens stieg die Zahl der seit dem Vortag von Kämpfern des sogenannten "Islamischen Staates" (IS) getöteten Zivilisten auf über 150. In Somalia hat die islamistische Schabab-Miliz eine afrikanische Friedenstruppe angegriffen, es gab 45 Tote.

 

Alleine dieser eine Tag zeigt, wie allgegenwärtig und fast weltweit aktiv der religiös motivierte Terrorismus ist. Bereits zwei Jahre davor, am 22. Mai 2013, wird in London der 25-jährige Soldat Lee Rigby mit Messern und einem Fleischerbeil auf offener Straße getötet. Die Täter waren zwei junge britische Staatsbürger, die zuvor zum Islam konvertiert waren und sich öffentlich zum sogenannten "Islamischen Staat" bekannten. Diesen Vorfall nimmt die Autorin Zoë Beck zum Anlass für einen überaus spannenden Roman, der gerade im Angesicht der Terroranschläge am 13. November 2015 in Paris, für die der "IS" die Verantwortung übernahm, aktueller denn je scheint.

 

Niall Stuart, ein junger Kameramann, der sich auf Naturdokumentationen spezialisiert hat, wird nicht nur zufällig Zeuge des grausamen Mordes an einen Soldaten, sondern filmt die Tat sowie das anschließende Geständnis der Täter, die scheinbar ganz normal und routiniert in Jeans und T-Shirt „zur Tat schreiten“, mit seinem Handy und stellt das Video ins Netz. Zunächst als Mitverdächtiger verhaftet und im Gefängnis menschenunwürdig behandelt, wird er nach seiner Freilassung von den Medien zum Helden stilisiert. Kaum aus dem Gefängnis und von den Geschehnissen überwältigt, wird Niall durch seinen Onkel dazu überredet, mit einem kleinen Team die Hintergründe der Tat von Farooq und Cemal, so die Namen der beiden "IS"-Terroristen, zu eruieren und eine Reportage daraus zu machen. Besessen von diesem Thema macht er sich auf die Suche nach den Motiven der Täter und nach den Hintermännern, welche die beiden jungen Männer zu „Exekutionsmaschinen“ machten. Dabei gerät er immer tiefer in den Sumpf von Verschwörungen und Verschleierungen. Nach einigen überraschenden Wendungen, einem weiteren Attentat und einer vermeintlichen Entführung kommt er schließlich einem für ihn zunächst schwer zu glaubenden Verbrechen seinen Vater betreffend auf die Spur.

 

Nach Beck’s letzten Roman „Brixton Hill“ ist erneut England mit seiner Metropole London der Schauplatz von „Schwarzblende“. Der Autorin gelingt es beeindruckend, die Leser von Beginn an einerseits zu fesseln, andererseits zu schaudern. Dabei ist es nicht einmal die Tat an sich, die einem das Blut in den Adern gefrieren lässt. Nein, es sind die nach und nach zu Tage tretenden Motive der Täter, denen sich Niall durch das Ansehen mehrerer selbstgedrehter Videos bewusst wird, es sind die Bilder und Worte, die einem die ganze Skrupellosigkeit der Krieger des "IS" vor Augen führen. So werden auf YouTube offen Eroberungspläne diskutiert, Einblicke in Ausbildungscamps gegeben, religiöse Indoktrination publiziert oder der Dschihad „wie ein Ausflug in ein exotisches Urlaubsresort“ angepriesen. Das ganze kumuliert in dem nachgestellten Video der Enthauptung eines entführten Journalisten (im Buch Ted Stein, in der Realität James Foley, der im November 2012 entführt und im Sommer 2014 ermordet aufgefunden wurde), welche uns die ganze Brutalität dieser Terrororganisation vor Augen führt. Obwohl der "IS" seine brutalen Aktionen und Taten nicht verhehlt, sondern im Gegenteil via den Medien Morde, Anschläge und Zerstörungen von Kulturgütern in Syrien auch für sich proklamiert und die Verantwortung dafür übernimmt, verzichtet die Autorin dennoch auf konkrete Schuldzuweisungen.

 

Es geht in ihrem Roman nicht um die Klassifizierung in DIE Guten und DIE Schlechten. Im Gegenteil, das Gemengelage zwischen IS und anderen Organisationen, die unter dem Überbegriff „Heiliger Krieg“ nahezu weltweit Terror verbreiten, den britischen Geheimdiensten MI5 und MI6, Effekthascherei der Medien, sich wichtigmachende aufstrebende Politiker, ist unübersichtlich ... so wie im wahren Leben?! Erschreckend ist dabei auch, wie viele junge Männer und mittlerweile auch Frauen aus westeuropäischen Staaten vom "IS" angeworben werden und sich zu Killern ausbilden lassen oder gar ohne mit der Wimper zu zucken für Selbstmordattentate ihr Leben opfern. Sätze wie: „Wir müssen stärker gegen die Heimkehrer aus Syrien und dem Irak vorgehen. Es kommen hochaggressive, extrem radikalisierte junge Männer zurück, die zum Töten ausgebildet wurden. Machen wir uns nichts vor, sie sind alle potenzielle Killer“ könnten aus jeder Talkshow in Deutschland kommen.

 

Beck schreibt in einem eigentlich trockenen erzählenden Stil, verzichtet auf jegliche moralische Statements und zieht einen vielleicht gerade wegen dieser nüchternen, klaren und für alle verständlichen Sprache in ihren Bann. Ein aktuelles reales Thema wird in eine fiktive Geschichte gepackt und wirkt durch diese einfache Erzählweise so authentisch, dass man gedanklich wieder in die Realität versetzt wird. Gerade durch den Wechsel zwischen aktuellen Geschehnissen, Gedanken der Hauptperson und Rückblenden fügen sich nach und nach mosaikartig Einzelbilder einer Tat und ihrer Hintergründe zu einer Art Film zusammen. Beck schreibt kein Buch über den "IS", seine Strukturen und seine Absichten. Dies ist nur der Rahmen eines überaus spannenden Krimis. Dennoch die Recherchen über die Tat und ihre Hintergründe sind schon beklemmend nah an einer Dokumentation, die Umschreibungen der Videos von Farooq und Cemal veranschaulichen in kurzen Sequenzen die gesamte grausame Ideologie und die Handlungsweise des "IS".

 

Fazit: Die fiktive Geschichte eingerahmt in reale Fakten, ein hoher Spannungsbogen und ständige Wendungen machen das Buch absolut empfehlenswert, gerade nach der Anschlagsserie in Paris.

 

Andreas Pickel

4 Sterne
4 von 5

© 2015 Andreas Pickel, Harald Kloth