Helen MacDonald: H wie Habicht

Berlin ; Allegria ; 2015 ; 411 Seiten ; ISBN: 978-3-7934-2298-3

 

Helen MacDonald, eigentlich Universitätsdozentin in Cambridge für Geschichte und Philosophie, wurde in Großbritannien mit einem Buch über ihren Habicht Mabel quasi über Nacht berühmt. Über 150.000 Bücher wurden alleine dort verkauft, mittlerweile ist das Buch in über 20 Sprachen erhältlich. Seit dem Frühjahr 2015 liegt nun endlich auch die deutschsprachige Fassung vor. Und H wie Habicht von Helen Macdonald wurde auch hier schnell zum Bestseller.


Helen MacDonald spürte schon früh eine starke Affinität zu Tieren, genauer zu Vögeln. Besondern die Falknerei hatte es ihr angetan, schon mit 12 Jahren bekam sie ihren ersten Falken. Angeleitet von ihrem Vater, der sie in ihrer Leidenschaft uneingeschränkt unterstützte, entwickelte sie eine selten so intensiv erfahrene Art von Leidenschaft für Raubvögel. Während andere Mädchen Bildern von ihren Stars an der Wand hängen hatten, waren es bei ihr Bilder von Falken und Adler. Eigentlich wollte sie mit Habichten, die für sie “fahläugige Psychopathen” waren, die nach “Tod und Schwierigkeiten rochen”, nichts zu tun haben. Trotzdem erwarb sie nach dem Tod ihres Vaters im Jahre 2007 einen eigenen, weiblichen Habicht, dem Sie von nun an uneingeschränkt ihr ganzes Leben schenkte. Von Anfang an ist sie fasziniert von ihrem Mabel, so der Name des Habichts, träumte davon. ihm in die Lüfte zu folgen, eine ganz besondere Art von Liebesbeziehung begann. Von den beeindruckenden Erlebnisse, vom allerersten Kontakt mit dem Habicht bis hin zu einer unumstößlichen symbiotischen Beziehung, davon erzählt sie in ihrem Buch.


Wie in einer Art Bedienungsanleitung bringt sie uns näher, wie einfühlsam man mit einem Habicht umgehen muss, damit man ihn später frei fliegen lassen kann und er vor allem auch wieder auf den Handschuh der Herrin zurückkommt. Zunächst wird der Habicht an eine Kappe gewöhnt, unter der er immer wieder zur Ruhe kommen kann, dann die Gewöhnung an die unmittelbare Umgebung, dann an das sogenannte Geschüh und den Handschuh, erste Sprungübungen in der Wohnung, kleinere Spiele, die Gewöhnung an andere Menschen, schließlich an die Natur und das Jagen. Was hier in ein paar Zeilen einfach aufgelistet ist, dauert in Wirklichkeit Monate, ja Jahre. Das Abrichten eines Habicht ist ein langwieriger Prozess. Eine wesentliche Herausforderung in der Aufzucht ist auch die ernährungstechnische Seite: Einerseits den Habicht so ausgewogen zu ernähren, dass er wächst und Kraft entwickelt, anderseits nicht zu viele Leckereien, damit er sein Fluggewicht überschreitet, nicht mehr richtig gleiten kann und bei der freien Jagd nach Beute schließlich noch mehr an Gewicht zulegt. Eines wird aber in den Beschreibungen deutlich: Mag der Habicht noch so gesättigt sein, zum Jagen, zum Töten wird er von seinem Instinkt trotzdem angetrieben.


Als Nebenhandlung verpackt die Autorin eine Biografie in ihre Tierbeschreibung. Es ist die Biografie des britischen Autors T. H. White (1906 bis 1964), ein vermutlich homosexueller, sadistisch veranlagter Lehrer, der ebenfalls ein Buch, “The Goshawk”, über die Zähmung eines Habichts geschrieben hat. Im Gegensatz zu MacDonald aber scheitert er kläglich. Dessen Geschichte beeindruckt und erschreckt MacDonald gleichermaßen. Sie bezeichnet White’s Buch weniger als Erziehungs- und mehr als Kriegsbericht, White die eine, sein Habicht die andere Kriegspartei. MacDonald selbst schreibt dazu: “… Als ich meinen Habicht abtrug, hielt ich gewissermaßen Zwiesprache mit den Taten und Worten eines längst verstorbenen Mannes, der argwöhnisch, mürrisch und entschlossen war, zu verzweifeln.” Jedenfalls scheint sie die richtigen Lehren aus dessen Erziehungsfehlern gezogen zu haben und verfällt eben deshalb nicht dem Wahnsinn nahe dem Alkohol. Während bei White der Habicht in hohen Lüften schwebend und immer den Blick nach Beute auf den Boden gerichtet nach und nach ein Eigenleben entwickelte und schließlich gar nicht mehr zurückkehrte, hat Mabel zwar ab und an überlegt, der Atzung (also dem Fressen) auf der Faust seiner Herrin zu widerstehen und ganz frei zu sein ... Aber sie kam doch immer wieder zurück.

 

Ich habe in den letzten Jahren wirklich sehr viele Bücher unterschiedlicher Genre gelesen. Aber ich muss zugeben, ich habe bis auf die üblichen Kindertierbücher noch nie ein Buch in der Hand gehabt, welches sich fast ausschließlich mit der Aufzucht eines Tieres befasste. Und ich war selbst positiv überrascht, wie sehr einen das Thema mitnimmt. Aber das liegt an der Art und Weise der Beschreibungen. Es ist nicht nur fesselnd, wie die Autorin autodidaktisch ihr Tier züchtet und zähmt, sondern auch, wie sie mit exzellenten Worten beschreiben kann, was ihre Augen sehen, ihre anderen Sinne riechen, hören und spüren. Als würden ihre Augen eine Art Camera mit Diktaphon integriert haben, werden in beeindruckender Wortwahl jegliche Bewegungen des Habichts, sein ganzer Habitus und Eindrücke der umgebenden Natur beschrieben. Dabei oftmals nicht nur aus der Sicht der Autorin, sondern aus der Sicht des Vogels, der Vogelperspektive also ... Ein Vogel, der zunächst selbst Todesangst hat, dann aber das macht, für das ihn die Natur vorgesehen hat: selbst Todesangst zu verbreiten, Kaninchen und Fasanen zu jagen, zu töten, zu töten und nochmals zu töten. Selbst das Geschrei eines Babys, eine Opernarie im Fernsehen oder Zeichnungen über eine potentielle Beute lösen den Tötungsreflex, seine “Waffensysteme” und damit den Tötungsgriff beim Habicht aus.

 

Will Helen Macdonald zunächst nur eine Art friedvolles Zusammenleben, ja fast wie Mann und Frau, wird sie nach und nach mehr wie ihr Habicht und eignet sich seine Charakterzüge an. Auch sie wird aggressiv wie eine Jägerin, auch sie schlingt entweder das Essen herunter oder isst nichts. Sie wird im Laufe der Jahre immer mehr ein Schatten, ja man könnte fast sagen eins mit dem Mördervogels. Durch die unmittelbare Erfahrung mit töten, mit dem Tod, aber auch mit Hingabe und Leidenschaft kompensiert sie nach und nach den Schmerz über den Tod ihres geliebten Vaters, den sie selbst als Legende tituliert. Und diese Hingabe zu Mabel, diese Verschmelzung von Gefühlen und Blickwinkel fasziniert, steckt an, man begleitet die beiden auf ihren Abenteuern und man lässt das Buch bis zur letzten Seite nicht mehr los. Allerdings schränkt sie diese Verschmelzung auch ein, in dem sie schreibt: “Die Grenze zwischen Leben und Tod liegt irgendwo im Laufe einer Mahlzeit…. Die Jagt machte mich zum Tier, doch der Tod des Tiers machte mich wieder zum Menschen.” Wahrlich beeindruckende Worte.


Während Aussteiger, die sich in die Wildnis zurückziehen immer wieder die Möglichkeit haben, den Weg zurück in die Zivilisation zu finden, hat die Autorin keinen Ausweg, außer sie trennt sich von ihrem geliebten Tier. Sie hat sich den Wald, die Natur, die Wildnis nach Hause geholt und ihr Zuhause will sie niemals aufgeben. Dafür baut sie anfangs ihr Zuhause fast in eine Einzelhaftzelle um: Fenster und Vorhänge zu, Dunkelheit und absolute Stille, um eine Aufregung des Tieres zu vermeiden. Die Tiefkühltruhe voller Wachtelküken für den Habicht, Tiefkühlkost auch für sie, damit sie möglichst wenig das Haus verlassen muss. Ein Singledasein, sie bezeichnet sich in einer Passage als Außenseiterin, par excellence, wie es vergleichsweise heute vielleicht Computerabhängige führen. Doch sie findet schließlich wieder in das normale Leben zurück, die Gedenkveranstaltung am Todestag für ihren Vater ist dazu der Schlüssel. Medikamente in Form von Antidepressiva sind dabei eine gern genommene Unterstützung.


Zum Schluss sei angemerkt, Mabel, der geliebte Habicht ist mittlerweile an einer Pilzkrankheit verstorben. Nun versucht sich MacDonald an einem Papagei. Der kann wenigstens sprechen, eine vielleicht angenehmeres Unterhaltungsprogramm als jagen und töten. Vielleicht schreibt sie dann ja ein neues Buch mit dem Titel “P is for Parrot”’ also “P wie Papagei”.

 

Fazit: Insgesamt ein wirklich beeindruckendes Buch, welches auf jegliche Klischees verzichtet, sei es über Frauen in Wechseljahren, Vater – Tochter- oder auch Mann – Frau- Konflikte. Es erschließt uns aus dem Blickwinkel eines Habichts eine neue Welt. In einer selten dagewesenen Virtuosität wird die Beziehung Mensch – Tier, sowie Tier – Natur, einerseits zur Flora andererseits zu anderen Tieren dargestellt. Vielleicht ist gerade deshalb das Buch so erfolgreich. Man kommt raus aus seinen vier Wänden, aus seinem Trott, aus seinem Alltag ... zumindest virtuell, in Gedanken.

 

Andreas Pickel

4/5 Sterne
4/5 von 5

© 2015 Andreas Pickel, Harald Kloth