Was wir wirklich denken (wenn wir nichts sagen)
Berlin ; Ullstein ; 2015 ; 191 Seiten ; ISBN 978-3-550-08101-9
Wie viele Eltern verzweifeln nicht an ihren pubertierenden Kindern, fühlen sich macht- und hilflos, eilen von Psychologen zu Therapeuten und wieder zurück, wühlen sich durch die unzähligen Büchern von vermeintlichen Experten der Handygeneration und „Teenieverstehern“? Gut, dass nun endlich einmal ein Teenie, ein „Betroffener“, zu Wort kommt, uns Einblick in seine Innenansichten und Gedankenwelt preisgibt, aufräumt mit unqualifizierten „Außenbeurteilungen“ und zu einem besseren Verständnis von Eltern und Jugendlichen beitragen möchte… so zumindest suggeriert es uns der Titel des Buches.
Paul Bühre, ein 16-jähriger Berliner Junge, hat ein Praktikum beim „Zeit Magazin“ dazu genutzt, eine Abhandlung über sich und seinen Alltag zu schreiben. Einem Agenten hat dieser Text so gut
gefallen, dass daraus ein fast 200 Seiten starkes Buch geworden ist. Paul zeigt sich auch gleich selbst für die Abbildungen im Buch verantwortlich und unterstreicht so seinen Berufswunsch, einmal
Comiczeichner werden zu wollen. Immerhin hat er es damit bis auf Platz 4 der „Spiegel-Beststellerlisten“ in der Rubrik „Sachbuch“ geschafft.
Bühre behandelt mehr oder weniger ausführlich alle Themen, die bei Jugendlichen „in“ sind (…und den Erziehungsberechtigten so oft Kopfzerbrechen bereitet), sei es Gruppenzugehörigkeit und –zwang, Aufklärung, Sex, Klamotten, Alkohol und sonstige Drogen, Computerspiele oder auch „zocken“ in sozialen Netzwerken wie Instagram, Whattsapp oder Facebook mit dem Smartphone. Gerade das Smartphone hat im zwischenmenschlichen Bereich vieles im Gegensatz zu unserer Jugendzeit verändert. Es wird kaum noch was am Telefon oder gar persönlich besprochen, alles wird nur noch über „PN“ geschrieben oder in der Gruppe diskutiert. Das Lesen von Büchern und Zeitungen ist auch „outdated“, die modernen Medien bieten andere Möglichkeiten, sich weiterzubilden oder auf das Leben vorzubereiten. Wenn Jugendliche stundenlang an ihrem Handy herumtippen, heißt das, liebe Eltern, dass man nicht nur spielt. Nein, hier wird gelernt und es werden soziale Kontakte gepflegt. Wie früher halt auch, nur anders und das ist oftmals der Nährboden für Eltern – Teenie Konflikte. Auch früher hat man versucht, sich bestmöglich in seiner Gruppe zu positionieren, in der coolsten Gruppe versteht sich (in Bühre’s Schule ist das die „oberhammer-geilsten-krassesten Gangster-Antischul-Gruppe“!), unterlag seinen gruppendynamischen Prozessen („Gruppenzwang“) und hat an sich und seiner Umwelt herumexperimentiert, bis man schließlich einen Job und die Liebe seines Lebens gefunden hat. Nur heute macht man das über die modernen Medien, anders halt und stößt auf Unverständnis bei den (rückwärtsgebliebenen) Eltern, die damit meistens nichts anfangen können.
Eigentlich ist es traurig genug, dass es eines Jugendlichen bedarf, eines Insiders also, um unsere eigenen Kinder besser zu verstehen. Auch lernen wir im Prinzip alles über einen Jugendlichen
namens Paul Bühre kennen, aber lernen wir deswegen automatisch den Jugendlichen an sich, unsere eigen Kinder besser kennen? Wer die Ansichten eines Revoluzzers erwartet, der wird enttäuscht.
Bühre scheibt nicht für die Generation James Dean,„die nicht wissen, was sie tun“, er eckt mit seinen Aussagen nicht an, weder an seinen Eltern, an seinen Lehrern, Mitschülern und sonstigen
Personen aus seinem Umfeld. Bühre kommt aus einem mehr oder weniger wohlbehüteten Elternhaus, wohnt in keinem sozialem Brennpunkt, hat
prinzipiell alles, was er braucht, geht aufs Gymnasium. So gesehen sind seine Ansichten nur repräsentativ für seine Lebensumstände, aber bei weitem nicht für die überwiegende Zahl an Teenies.
Kinder und Jugendliche von arbeitslosen, vielleicht auch alkoholabhängigen Eltern in sozial schwierigen Stadtvierteln mögen sich in einem ganz anderen Umfeld bewegen, haben weniger Perspektiven
und damit Ziele. Oftmals geht es hier ums schlichte Überleben. Aber vielleicht ist so gesehen das Buch auch interessant für gleichaltrige vermeintliche „Unterprivilegierte“, die so erfahren
wollen, wie sie handeln und „ticken“ müssen, um zur coolsten Gruppe zu gehören.
Wie auch immer, viele der Altersgenossen von Paul wissen sehr wohl, was sie tun, aber sie fühlen sich oftmals missverstanden in ihrem Handeln, im Denken und Reden. Auch die heutige Generation hat Ziele, Ziele, die sie auf ihre Art erreichen wollen. Die Erziehungsberechtigten meinen es mit ihren Methoden, Vorgaben und Tipps eigentlich nur gut (wer kennt nicht den Satz: „Junge, wir wollen nur das Beste für Dich“?), erreichen aber damit nur das Gegenteil, Abschottung und Blockade. Wir Erwachsenen sollten nur eine Art rechter und linker Grenze vorgeben, den Rahmen schaffen. Aber darin sollten sich die Teenies frei bewegen können, um ihren eigenen individuellen Weg zu gehen, um ihre Ziele zu erreichen. Nicht alles kleinklein vorgeben, sondern den Jugendlichen Freiraum und Freiheit und vor allem auch Fehler zugestehen. Nur wer Fehler macht, kann sich verbessern. Dies ist die eigentliche Botschaft von Paul („Erziehungsmethoden“)… und meine ganz persönliche Botschaft lautet: Bevor man zu Büchern greift, meint, greifen zu müssen oder stundenlang im Internet recherchiert, in Internetforen Lösungen für Generationenkonflikte sucht oder diskutiert oder gar selbst einen Psychiater aufsucht, sollte man stattdessen einmal das persönliche Gespräch mit seinen Kindern suchen, Ansichten austauschen, Kompromiss suchen und so zu einem besseren Verständnis füreinander und besserem Miteinander gelangen! Reden löst immer noch am besten alle Konflikte und ist immer noch die beste Therapie!
Fazit: Interessanter und ausführlicher Einblick in einen Jugendlichen.
Andreas Pickel
© 2015 Andreas Pickel, Harald Kloth