Rüdiger Frank: Nordkorea

Innenansichten eines totalen Staates

München ; DVA ; 2014 ; 427 Seiten ; ISBN 3-421-04641-7

 

Verteidigungskommission droht USA mit Atomschlag, Nordkorea erwägt Erstschlag gegen USA, Nordkorea redet wieder mit Südkorea, Nordkorea an Wiedervereinigung interessiert, North Korea rocket launch raises nuclear stakes, Nordkorea provoziert mit Raketentest, Wedeln mit Kim Jong-Un – in Nordkorea eröffnet das erst Skiressort … wenn man diese Überschriften aus den letzten Wochen und Monaten aus den überregionalen Zeitungen liest, meint man, dass von mindestens drei unterschiedlichen Staaten berichtet wird. Stattdessen ist ausschließlich von dem hermetisch abgeriegelten Nordkorea die Rede, der sogenannten letzten Bastion einer Art Steinzeitkommunismus. So widersprüchlich diese Überschriften auch sind, so widersprüchlich, so undurchschaubar, so unverständlich und wenig begreifbar ist deren Politik seit Jahrzehnten. Die große Frage lautet, ob Nordkorea nicht eigener Gefangener seiner Widersprüche, seiner Gerüchte ist und irgendwann nach Außen, aber vor allem auch nach Innen gegenüber dem eigenen, unterdrückten Volk den Knoten der Widersprüchlichkeit lösen kann und muss. Eine Grundlage für mehr Verständnis, vielmehr für mehr Verstehen dieser ambiguen Politik liefert nun der Nordkorea-Kenner Rüdiger Frank mit seinen „Innenansichten eines totalitären Staates“.
 
Rüdiger Frank ist zumindest in der westlichen Hemisphäre DER Nordkorea Kenner schlechthin. Groß geworden im kommunistisch geprägten System der DDR und wohnhaft einige Jahre in der ehemaligen Sowjetunion, war er selbst schon mehrmals in Nordkorea, studierte sogar ein Semester lang in Pjöngjang und konnte sich so persönlich ein Bild von der Entwicklung des 25 Millionen-Einwohner-Staates machen. Nichtsdestotrotz fehlt aber natürlich auch ihm der Zugang zu den Kadereliten, zu den Oberen der politischen und vor allem auch militärischen Führung. Dies macht es umso schwerer, viele Entscheidungen und Handlungen Nordkoreas zu verstehen, mit Mythen aufzuräumen und Widersprüche zu verstehen. Frank muss sich auf langfristige Entwicklungen berufen, auf Beobachtungen von Land und Leute, auf Stellungnahmen, Reaktionen und Maßnahmen seines Führers, aber auch auf Gerüchte, um mühselig aus den verschiedensten Mosaiksteinchen ein einigermaßen klares Gesamtbild zu kreieren. Aber er gibt offen zu, dass er sich trotz aller Recherchen in vielen Aussagen auf Mutmaßungen und Gerüchten verlassen muss, vielleicht ist es teilweise auch Instinkt, Bauchgefühl. Bewusst wählt er deshalb auch die „Ich-Form“, um die Subjektivität seiner Ausführungen zu unterstreichen. Er schreibt, wie sich das Land für ihn darstellt und nicht, wie es ist.
 
Rüdiger Frank beschreibt Nordkorea als „ein Land, das eigentlich nicht sein darf“, ein Land, das sich seit Jahrzehnten schlichtweg „weigert“, zusammenzubrechen – allen Unkenrufen zum Trotz. Ideologie, politisches System, Führerkult, Militär und Wirtschaft sowie insbesondere deren Interdependenzen und Verflechtungen werden durch den Autor verständlich und interessant dargestellt, vor allem auch im Unterschied zu anderen ehemaligen und heute noch kommunistisch und sozialistisch geprägten Systemen wie die Sowjetunion / Russland, der DDR oder auch China. Gerade im Gegensatz zur DDR fehlt Nordkorea so etwas wie ein wirklicher Verbündeter, weder die Großmächte China noch Russland lässt Frank da gelten. Und gerade diese Gefahr der Einkreisung, zumindest deren subjektive Wahrnehmung, auch durch die mächtige Militärpräsenz der USA in Südkorea, ist die Ursache für die besondere Identität der nordkoreanischen Bevölkerung mit seinem Staat und seinem Führer. Der Führer ist der „Kopf“, ohne den die Gesellschaft, der „Körper“ nicht überleben kann. Seine Worte sind unumstößlich und sind nicht zu hinterfragen. Widerspruch wird als Schwäche des Widersprechenden gedeutet und nicht als Kritik am Staatsoberhaupt.

 

Dieses Denken über die Position des Führers unterscheidet Nordkorea von anderen totalitären oder diktatorisch ähnlichen  Systemen. Grundlage dafür ist die „Chuch‘e-Ideologie“ (Chuch’e = Herr des eigenen Körpers), die untrennbare Verbindung von Führer, Nationalismus und Sozialismus. Sie gibt dem Regime die alleinige Allmacht über das Leben und ist für Frank der Grund für das Weiterbestehen des Staates, trotz ständig drohendem wirtschaftlichen Kollaps, Hungersnot und Unterdrückung. Das Besondere an Nordkorea ist sein unheimlich starkes Nationalgefühl, hervorgerufen auch durch die permanente Besetzung des Landes, zuletzt durch Japan. Die Brutalität der Kolonialisierung, die Unterdrückung und das Wüten der Armee des Kaisers haben das Land zusammengeschweißt. Durch die, wie Frank es formuliert, „Belagerungsmentalität“ werden unbefriedigende Arbeits- und Lebensverhältnisse hingenommen und die Tendenz zum Widerstand reduziert. Laut Frank ist es nicht möglich, die Bedeutung der Besetzung für die heutigen beiden Koreas überzubewerten. Dies ist die tiefliegende Ursache für die isolationistische Politik und der ausgeprägten Xenophobie Nordkoreas. Und ist nicht zuletzt auch der Grund für die zweifelhafte Atompolitik – die Atombombe ist das Ultima Ratio für die Verteidigung der Souveränität. Trotz dieser Betonung des Militärischen ist aber die grundsätzliche Ausrichtung Nordkoreas historisch begründet tief defensiv. Strategisch defensiv, mit operativ und taktisch offensiven Nadelstichen könnte man die Politik kurz zusammenfassen. Apropos Militär, klar, die Armee ist eine Säule des Systems. Aber der Autor macht deutlich, dass Nordkorea mit dem Militär und nicht durch das Militär regiert wird.
 
Besonders lesenswert sind seine Ausführungen zu einer möglichen Wiedervereinigung der beiden Koreas. Zwei amerikanische Offiziere (sic!) zogen im August 1945 eine für die USA günstige Demarkationslinie quer durch Korea, dem berühmten 38. Breitengrad, der das Land in ungefähr zwei große Bereiche teilte.  Ohne Beteiligung Koreas wurde so über das Schicksal des Volkes bestimmt. Am 15. August 1948 wurde mit der Gründung der Republik Koreas (Südkorea) die Teilung formal bestätigt, am 9. September folgte die Gründung der Demokratischen Volksrepublik Korea (Nordkorea). Mit der Erfahrung der deutschen Wiedervereinigung beteiligt sich Frank dabei ausdrücklich nicht an Spekulationen sondern behandelt vielmehr die Voraussetzungen sowie die Vor- und Nachteile, nicht nur für die beteiligten Staaten, sondern auch für deren Nachbarn. In Süd-, wie in Nordkorea gibt es mehr oder weniger detaillierte Pläne für eine Wiedervereinigung, in beiden Ländern ist es das oberste Ziel, aber in beiden Ländern halten sich die tatsächlichen Anstrengungen für eine Wiedervereinigung in Grenzen, der feste Wille für mehr Proaktivität fehlt.
 
Frank‘s Gedanken und Ausführungen zu den wirtschaftlichen Aspekten des Landes gelten als maßgebend. Obwohl der Staat kaum Daten veröffentlicht, hat er diesen Bereich akribisch recherchiert und behandelt ausführlich die sogenannten Sonderwirtschaftszonen. Besonders Rason beeindruckt ihn und er bescheinigt der Region enormes Wachstumspotential – wenn, ja wenn man das strenge politische Korsett lösen und der Wirtschaft freien Lauf lassen würde. Insgesamt wird Nordkorea ein immenses wirtschaftliches Potential attestiert, basierend auf ein Heer an billigen Arbeitskräften aber vor allem dank eines riesigen Vorkommens an Bodenschätzen. Einige Reserven, wie Blei und Wolfrath gehören zu den zehn größten weltweit. Für Frank gilt es folgende drei Aspekte zu überwinden, um die Reformen voranzutreiben: erstens die systemimmanente Ineffizienz der zentral gesteuerten Planwirtschaft, zweitens der Mangel an Elektroenergie, um Tag und Nacht produzieren zu können und drittens die außenpolitische und damit wirtschaftliche Isolation verstärkt durch Sanktionen. Die Sonderwirtschaftszonen sind dazu ein Vehikel, aber ein Ausdruck eines grundsätzlichen Gesinnungswandels sind sie für Frank nicht. Interessant zu beobachten wird sei, wie sich die seit dem letzten Jahr verbesserten Beziehungen zu Russland auf Kosten der Beziehungen zu China entwickeln bzw. welche konkrete Auswirkungen dies auf Nordkorea haben wird.      
 
In den letzten Jahren konnte Frank gerade in der Hauptstadt Pjöngjang ein Ansteigen des Wohlstandes erkennen, nicht nur für wenige Eliten, sondern auch für größere Teile der Bevölkerung. Eine neue Art einer Mittelschicht macht Frank aus. Die Leute haben Handys, fahren neue Autos, fahren Ski, essen Eis oder gehen italienisch Essen. Woher das Geld oder dieser Wohlstand kommen, darüber kann auch er nur spekulieren, zufriedenstellende Antworten findet er nicht. Selbst ein Skiressort wurde kürzlich für angeblich 170 Mio Euro mit Masse durch als Arbeitskräfte missbrauchte Soldaten aus dem Boden gestampft. Ein Luxushotel, anspruchsvolle Pisten und Rodelbahn sollen nicht nur Touristen anziehen, sondern auch der eigenen Bevölkerung Abwechslung bitten. Trotz Subventionen dürfte  es aber für die Masse der Bevölkerung zu teuer sein.

 

Trotz der nur unzureichend zugänglichen Quellen liefert Frank plausible Prognosen für die Zukunft des Landes. Aber gerade in Kenntnis der Lauf der Dinge, die zur Wiedervereinigung Deutschlands führten, die selbst intimste Kenner der Verhältnisse der ehemaligen DDR nicht vorhergesehen haben, warnt er berechtigt davor, vorschnelle Schlüsse zu ziehen oder die deutsche Wiedervereinigung gar als Blaupause zu verwenden. Zu oft wurde bereits der Staatsexodus vorhergesagt und trotzdem hat sich nichts Grundlegendes verändert. Auch wenn einige positive Veränderungen sichtbar sind, echte, tiefergehende Reformen fehlen weiter und sind auch nicht absehbar. Zu wankelmütig auch sind die Aussagen des derzeitigen Führers Kim Jong-Un, zu unterschiedlich die Rahmenbedingungen, zu unterschiedlich die außen- und sicherheitspolitische Lage Nordkoreas. Trotz allem ist es für Frank ein „Land des Wandels“.
 
Fazit: Frank schreibt in einem gut verständlichen Stil, macht deutlich, wo er sich auf Fakten, aber auch nur Mutmaßungen stützt und liefert so trotz aller subjektiver Einblicke einen überaus interessanten Blick auf das verschlossene Land. Sehr offen kennzeichnet er seine persönliche Meinung und preist diese nicht „als der Weisheit letzter Schluss“ an. So gesehen kann der Titel „Innenansichten“ auch falsche Begehrlichkeiten wecken, aber niemand außer ein Nordkoreaner selbst könnte über einen Blick von Innen ein besseres Buch über Nordkorea schreiben. Aufgrund der Schnelllebigkeit der Politik und seiner Prozesse müsste ein Buch über Nordkorea eigentlich ein „living document“ sein, um möglichst aktuell zu bleiben. Nichtsdestotrotz ein, wenn nicht sogar, das Standardwerk über Nordkorea.

 

Andreas Pickel
4 Sterne
4 von 5

© 2015 Andreas Pickel, Harald Kloth