Plötzlich ein Sorgenkind - Aus dem Leben einer aufmerksamkeitsgestörten Familie

München ; DVA ; 2013 ; 240 Seiten ; ISBN 3-421-04574-7

 

Wenn man derzeit Bücher oder Fernsehsendungen zu medizinischen Themen liest oder verfolgt, so gibt es meist nur zwei Schwerpunkte: Was die Erwachsenen angeht ist es „Burn Out“, verursacht durch den in den letzten Jahrzehnten stark gestiegenen Stress und Druck im Alltags- und im Berufsleben. Was die Kinder betrifft ist es ADS (Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom oder -störung) oder ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung).

 

Unzählige Therapeuten tummeln sich in diesen Bereichen und versuchen durch Publikationen und Therapieangeboten einen finanziellen Reibach mit den teils stark verunsicherten Betroffenen zu machen. Ein Buch über ADS, welches aus der Masse der Angebote herausragt, ist Ende letzten Jahres erschienen. Die Autorin möchte anonym bleiben (deshalb auch der komisch anmutende Autorenname „Anonyma“), weniger aus Angst, die Aussagen ihres Buches mit sich in Verbindung zu bringen, sondern vielmehr zum Schutz ihrer Tochter Lenja, Schutz vor Psychologen, Psychotherapeuten, Lehrern, Mitschülern und Freunden.

 

Anonyma und ihr Mann sind beide gut verdienend, die Familie somit gut situiert und trotzdem ist das Familienleben alles andere als harmonisch. Im Mittelpunkt steht nur die Arbeit, das Handy für geschäftliche Gespräche, auch abends und am Wochenende zuhause, man ist nur mit sich selbst und seinem Leben beschäftigt, für die beiden Kinder ist eigentlich kein Platz. Die müssen einfach so funktionieren. Die Autorin bezeichnet dies so treffend als „Double-income-two-kids-modell“...ja, bis eines Tages die 5 Jährige Tochter nach Haus kommt und flüstert: „Mein Leben ist scheisse. Ich will nicht mehr leben“. Nun erwacht endlich die Mutter in Anonyma, versucht Arbeit, Arbeit sein zu lassen und begibt sich auf die Suche nach den Gründen für eine derart krasse Aussage, auf die schwierige Suche nach einer Diagnose und vor allem nach Möglichkeiten, wie man sein Kind wieder auf Spur bringen kann. Anonyma selbst fasst das Dilemma treffend mit „Jobslalom mit Kinderwagen – Krippenchaos – Frühe Einschulung – Lernen ohne Lehrer – Alltagschaos mit Stresseltern“ zusammen. Was nun beginnt muss man einfach gelesen oder selbst erlebt haben, um es zu glauben. Ich bin selbst Vater von zwei betroffenen Kindern und weiß, wovon ich rede und auch schreibe. Für Anonyma beginnt nun der sogenannte Diagnosemarathon durch die Welt der Psychologie und Psychotherapie, unterstützt durch Eigenrecherchen im Internet und schlauen Ratschlägen der Lehrerschaft.

 

„Verschlimmbessern“ nennt sie diese Phase. Auch blickt sie in ihre eigene Kindheit zurück und in die Baby- und Kleinkindjahre ihrer Tochter, um nach den Auslösern zu suchen. Sie glaubt erst nicht an die Diagnose ADS, sondern eher an Verhaltenszufälle, an ein „Schusseltrinen-Syndrom, wie sie es bezeichnet. Bei einer genauen Beobachtung ihres Kindes spürt sie nun, wie weit weg das Kind mit seinen Gedanken ist, wie komplett verwirrt sie ist, sie vergleicht das ganz bedenklich mit einer Altersdemenz. Drei neue Freunde, die „Fehlerteufelbande“, scheinen nun der ständige Begleiter ihrer Tochter zu sein: Schussel („frisst gerne Daten“), Hypie (schnell, aber oberflächlich) und Panix (verbreitet Panik und Stress vor Tests und das Kind schaltet völlig ab).

 

Keiner kann ihr zunächst so richtig helfen. Natürlich wird ihr auch nahegelegt, DIE Pille für ADS/ADHS zu nehmen, also Ritalin, der „Goldesel“ für die Pharmaindustrie. Aber sie wehrt sich erfolgreich gegen diese Versuchung. Gut so, denn meist werden nicht die Kinder, die sie schlucken glücklicher, sondern die Mütter, die peinlich genau Buch führen, dass auch immer die richtigen Dosen eingenommen werden. Auch wenn sie auf Ritalin für ihre Tochter verzichtet, sie verzichtet nicht auf Therapien, zerrt das arme Kind, wie es so viele Eltern machen, von einer Ergo- und Psycho- oder „Sonstwas“-Therapie zur nächsten, anstelle den Kindern ihre ureigensten Rechte zu zugestehen. Das Recht auf Spielen, das Recht auf Kindheit, einfach Kind sein zu dürfen und dabei auch das Gefühl zu haben, alles drum herum zu vergessen ... und das Beste dann zum Schluss. Lenja hat gar kein ADS, sondern eine sogenannte Handlungsdyspraxie, das „Syndrom des ungeschickten Kindes“. Man kann dagegen nicht viel machen, aber man hätte es schon viel früher erkennen können. Aber das ging ja wohl nicht, da viele damit verdienen wollten und anderen eine Erklärung oder Ausrede geliefert wurde... Mit sarkastischem Humor verbindet die Autorin die Gefühle und Denkweise eines Kleinkindes im Kampf gegen ein unerbittlich scheinendes System, dem auch ihre eigenen Eltern angehören. Sätze wie „wir (Anm.: als Familie) reisen, um woanders glücklich zu werden“, können auf viele Familien übertragen werden.

 

Mit unheimlich viel Süffisanz, meist in Form von abgeschickten oder doch zurück gehaltenen Briefen an Lenja, Lehrer (die sogenannten „Jungsförderer“) und Therapeuten, werden Berufsstress, Therapiedschungel und vor allem die arrogante Lehrerschaft beschrieben. Die Beschreibung des Unterrichtsablaufs ihrer Tochter, an dem die Autorin als „Backseaterin“ teilnimmt, muss man gelesen haben, um zu verstehen, was hier teilweise auf den Rücken unserer Kinder veranstaltet wird. Eltern werden bewusst zur Entlastung der Schule zu Hilfslehrern, schulische Erziehung hat Zuhause zu erfolgen. Aber auch die Psychologen werden hart kritisiert, geht es doch nicht nur darum, neuronale Verknüpfungen zu erklären, sondern auch, wie Gefühle, Liebe und Familienbindung auf anders funktionierende Kinder Einfluss haben. Und sie ist auch selbstkritisch genug, um zuzugeben, dass es aufgrund der fehlenden Beständigkeit und Ruhe in der eigenen Familie auch nie gelungen ist, die notwendige Bindung aufzubauen, die ihrer Tochter Orientierung gegeben hätte.

 

Lenja selbst bezeichnet sich als Paket, das laufend verschickt wird, aber nicht weiß, wohin es geht. Betroffene Eltern sollten das Buch lesen, bevor sie sich selbst auf den Diagnosemarathon begeben. Sicherlich, jedes Kind ist anders geartet, die Auslöser und Symptome sind unterschiedlich, jeder liebt sein Kind so, dass er nur das Beste für es will. Aber man kann viel von den Erfahrungen von Anonyma lernen, auch, wie das Schicksal der einen Tochter nach und nach die gesamte Familie in Beschlag nimmt. Dazu die ständige Reflexion des eigenen Lebens, der einen tiefen Blick in unsere Gesellschaft gibt, seien es gestresste Lehrer, die Smartphone- und Internetgesellschaft oder Scharlatane in der Therapie.

 

Aber das Buch gibt auch Einblick in die Orientierungslosigkeit der Eltern in Bezug auf ihre heranwachsenden Kinder, die dadurch nach und nach ein negatives Selbstbildnis entwickeln. Kinder müssen einfach gegenüber jedem und allem funktionieren. Tun sie es nicht, entsteht für viele ein großes Problem. Ein Problem, was man mit viel Hingabe und Liebe selbst lösen und nicht in die Hände anderer legen sollte. Wenn das Thema nicht so ernst und traurig wäre, könnte man auf jeder Seite des Buches ausgiebig lachen. Klar enthält das Buch auch viele Aussagen, die man nicht verallgemeinern kann, z. B., dass nur Mütter für Schulversagen und Fehlentwicklungen verantwortlich gemacht werden und Väter sich nur raushalten. Hier kenne ich persönlich genügend gegenteilige Beispiele. Aber es ist ein Buch zum Mitfühlen, welches von Anfang fesselt und man erst am Ende aus der Hand legt.  Ich habe es zumindest den Grundschullehrern meiner Tochter gegeben, nun liegt es an ihnen, sich mal ausgiebig mit dem Thema zu beschäftigen und vor allem danach zu handeln und entsprechend Rücksicht zu nehmen.

 

Fazit: Ein Buch, was nicht nur Eltern mit ADS/ADH Kindern zu empfehlen ist, sondern vor allem auch Lehrkräften und Therapeuten.

 

Andreas Pickel

4 Sterne
4 von 5

© 2014 Andreas Pickel, Harald Kloth