Shani Boianjiu: Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst

Roman

Köln ; Kiepenheur und Witsch ; 2013 ; 336 Seiten ; ISBN 3-462-04558-X

 

Während in Deutschland in der letzten Legislaturperiode die allgemeine Wehrpflicht nach fast 60 Jahren seit Gründung der Bundeswehr ohne eine große gesellschaftliche Diskussion abgeschafft wurde, ist diese in vielen Ländern weiter ein wesentlicher Bestandteil der Beteiligung der Bürger an der äußeren Sicherheit des Staates. Einige wenige Staaten haben sogar eine Wehrpflicht für Frauen, auch in sogenannten Kampfeinheiten, wie zum Beispiel in Israel. Dort sind alle jungen Frauen verpflichtet, einen Wehrdienst von fast zwei Jahren abzuleisten! Über den teils abstrusen Militäralltag hat nun die erst 26 Jährige Israelitin mit irakisch-rumänischen Wurzeln Shani Boianjiu einen beindruckenden Roman veröffentlicht.

 

In der Mitte des Buches beschreibt eine kurze Episode das ganze Gefühlsleben einer Nation. Eine Soldatin steigt in einem Bus, um nach Tel Aviv zu einer Hochzeit zu fahren. Dass sie sich dieses freie Wochenende nur mit einer Lüge erkauft hatte, ist nur ein Aspekt am Rande. An einer der nächsten Haltestellen steigt ein Mann mit zwei Plastiktüten ein. Ein Selbstmordattentäter, schießt es ihr wie selbstverständlich durch den Kopf. Erklären kann sie sich das nicht, er sieht nur so aus, antwortet nicht auf ihre Fragen und fängt dann auch noch das Singen an. Wie ein Tiger in einem Käfig, der nicht ausbrechen kann, läuft sie unruhig hin und her und setzt sich schließlich voller Angst ans ganz hintere Ende des Busses, wo sie bei dem vermeintlichen Anschlag ein wenig besser geschützt scheint. Wider Erwarten passiert aber nichts und sie kann unbeschadet an ihrer Endstation aussteigen – schweißgebadet.

 

Israel ist ein Land, dessen Bevölkerung aufgrund seiner Geschichte und der exponierten Lage im Nahen Osten unter der ständigen Angst vor Angriffen lebt. Einerseits vor einer großangelegten Invasion aus Ägypten, aber mehr noch aus dem Iran, andererseits vor terroristischen Angriffen der libanesischen Hisbollah oder der palästinensischen Hamas. Das Israel selbst, z. B. durch einen provozierenden Siedlungsbau, immer wieder das Feuer im Nahen Osten schürt, soll hier jetzt nicht weiter thematisiert werden. Um im Angriffsfall oder im Falle von Terror möglichst die gesamte Bevölkerung an die Waffen zu bringen, gilt selbst für Frauen eine 21-monatige Wehrdienstzeit, mit der Option, sich als Unteroffizier oder Offizier weiter zu verpflichten. Die Israel Defense Forces (IDF) bestehen bei einer Bevölkerung von 7,9 Mio. Einwohnern aus ca. 170.000 aktiven Soldaten, sowie über 400.000 Reservisten (Deutschland: ca. 185.000 Soldaten/-innen bei 82 Mio. Einwohner, also im Verhältnis nur ca. ein Zehntel der Soldaten in Israel!).

 

Shani Boianjiu beschreibt die Realität des Dienstes in der israelischen Armee aus Sicht von drei jungen Frauen, die an unterschiedlichsten Orten ihrer teilweise erschreckend monotonen Arbeit nachgehen. Da ist einmal Lea, eine Offizierin, die an einem Grenzposten zu Palästina eingesetzt ist, dann Yael, Waffenausbilderin nahe Hebron und schließlich noch Avishag, die die Grenze nach Ägypten überwacht. Allen drei Frauen sind seit ihrer Kindheit Gewalt und Militär der unbeliebte „Nachbar.“

 

Die Situationen, der die drei Frauen ausgesetzt sind, deren täglicher Dienst, hat trotz der unterschiedlichen Aufgabengebiete nur eines gemeinsam: er ist eintönig! Ja, eintönig, wird aber trotzdem von deren Vorgesetzten als immens wichtig für die Sicherheit des Staates Israel verkauft. Jeder Soldat soll sich als essentielles Zahnrad in der riesigen israelischen Militärmaschinerie fühlen, ohne jedoch den strategischen und militär-politischen Gesamtzusammenhang zu kennen, deren Sinn zu verstehen. Da gilt es z.B. eine Straße zu sichern, auf der eigentlich keiner mehr fahren darf oder an einer Grenzstation Tag für Tag die gleichen Leute mit den gleichen Begehren zu überprüfen und dann einreisen zu lassen ... oder eben nicht. Diese Eintönigkeit (manchmal fühlt man sich an den Film „Und täglich grüßt das Murmeltier“ erinnert) verführt zu Dienstvergehen, sich mal nackt sonnen oder gar Sex mit einem männlichen Mitleidenden sind nur zwei Dinge, die ein wenig Abwechslung bringen. Bei dieser Eintönigkeit könnte man fast Mitleid bekommen, fragt sich, was soll das Alles bezwecken, macht traurig, aber anderseits ist alles so pittoresk und humorvoll beschrieben, dass man fast schon wieder lachen könnte.

 

Eines der bezeichnendsten Abschnitte des Buches handelt über Avishag in dem Kapitel „... und dann hat das Volk der Ewigkeit keine Angst mehr“. Diesen Satz, auch der Titel des Buches, hat sie als Aufkleber auf einem Lastwagen gelesen und wird nicht nur hier als Lüge entlarvt. Avishag, die unter einer Art posttraumatischen Belastungssyndrom leidet, igelt sich vor Angst zuhause ein, alles in ihr wehrt sich, auch nur den Führerschein zu machen und Auto zu fahren. Die eindrückliche Beschreibung, wie ihr Vater alles versucht, ihr die Angst zu nehmen, auch die Angst, dass sie wie ihr Bruder (der auch Militärdient geleistet hat), Selbstmord begeht, ist an Perversion kaum zu übertreffen. Wie so oft in diesem Buch könnte man einfach nur lachen, wenn, ja wenn, es eigentlich nicht so traurig wahr wäre.

 

Boianjiu beschreibt den Alltag in der Armee so anschaulich, dass man meinen könnte, mit dabei, „embedded“ zu sein. Sie springt von den verschiedenen Einsatzorten hin und her, gibt Rückblicke in die Kindheit und Einblicke in das Leben der israelischen Jugend, ohne dabei den Überblick zu verlieren. An dem Armeedienst gibt es nichts zu beschönigen. Im Gegenteil, ihr Urteil fällt vernichtend aus. Sicherheitspolitische Notwendigkeiten hin oder her, die Masse des Dienstes scheint sinnlos. Diese Sinnlosigkeit wird abgetötet, abgetötet durch Drogen, Alkohol und Sex, gewollt oder auch ungewollt.

 

Boianjiu vermeidet einen intellektuell abgehobenen Sprachstils, sondern spricht und schreibt basierend auf den eigenen Erfahrungen ohne Umschweife die Sprache der einfachen noch jugendlichen Soldaten, die in ihrer Direktheit aber auch Vulgarität ein fortwährendes Mitgefühl beim (gebildeten) Leser weckt. Durch Sarkasmus und sinnloser Beschäftigungstherapie werden die Ängste überspielt und verdrängt, durch kurze abgehakte Sätze der Spannungsbogen hochgehalten. Die drei Freundinnen sind einerseits euphorisch dank der Kraft der Macht, die sie als Vorgesetzte haben, dann wieder sentimental und depressiv mangels der Hilflosigkeit und über das, was der Dienst mit ihrer Psyche anstellt. Einerseits sollen Lea, Avishag und Yael als Erwachsene aktiv an der Sicherheit ihres Staates mitwirken, dazu Befehle und Anweisungen geben, andererseits sind sie noch Kinder und bräuchten selbst Hilfestellung, wie man in dieser Welt zu Recht kommt und überlebt. Aber da ist niemand, der diese Hilfestellung gibt, weder die Eltern, noch die Vorgesetzte, noch der Staat. Die Darstellung dieses Dilemma in den Parallelwelten zwischen „nicht mehr Kind sein (…dürfen)“ und „noch nicht erwachsen sein“ beeindruckt.

 

Der Autorin gelingt es, den inneren Konflikt der drei Hauptpersonen als Sinnbild der Gefühle einer ganzen Nation darzustellen. Auch wenn vermutlich bewusst auf einen politischen Diskurs verzichtet wird, die politischen sowie religiösen Rahmenbedingungen des Dienstes bleiben im gesamten Roman immer subjektiv verbunden mit den Gefühlen und Erlebnissen ihrer Protagonisten. Sie vermeidet jede persönliche Einflussnahme auf etwaige Diskussionen in der israelischen Gesellschaft, sondern sucht immer den Bezug zu den Geschehnissen an den Aufenthaltsorten der Soldatinnen. Aber auch wenn die Psyche und die Gefühle der drei Soldatinnen im Mittelpunkt stehen, ist die teils hilflose Situation Israels, sich trotz imposanter Streitkräfte gegen einen einzeln oder in kleinen Gruppen asymmetrisch agierenden Feind zu wehren allgegenwärtig. Der Mythos der Allmacht der Armee geht zusehends verloren. Längst stellt sich nicht mehr jeder voller Stolz für den Militärdienst zur Verfügung, sondern nur derjenige, der sich über die Armee für eine Statussteigerung in der Gesellschaft profilieren

möchte.

 

Fazit: Insgesamt eine beeindruckende Analyse der Wahrnehmung der sicherheitspolitischen Situation Israels, dargestellt an einem sinnlos erscheinenden Militärdienst von drei Frauen ... sinnlos zumindest für uns in Deutschland, die ein Gefühl von Bedrohung nicht mehr kennen.

 

Andreas Pickel

4/5 Sterne
4/5 von 5

© 2013 Andreas Pickel, Harald Kloth