Sönke Neitzel: Weltkrieg und Revolution

1914 - 1918/19

Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert

Berlin ; be.bra Verlag ; 2008 ; 204 Seiten ; ISBN 3-89809-403-0

 

In aktuellen Publikationen werden der Erste und Zweite Weltkrieg oftmals als der „Zweite Dreißigjährige Krieg“ tituliert. Unzweifelhaft sind gegenseitige Dependenzen sowie Ursache und Wirkung zwischen der „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ und dem vergeblichen Weltmachstrebens des nationalsozialistischen Unrechtsregimes gegeben. Einige Autoren ziehen sogar eine Linie von den napoleonischen Kriegen über die Deutschen Einigungskriege bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Ganz in diesem Sinne erschienen nun kürzlich im be.bra-Verlag die beiden Bücher von Sönke Neitzel Weltkrieg und Revolution sowie von Rainer F. Schmidt Der Zweite Weltkrieg.

 

Der be.bra Verlag wurde 1994 gegründet und hat sich als unabhängiger Verlag mit Publikationen zu den Themengebieten (Zeit-)Geschichte, Kultur und Architektur ein Renommee verschafft. Schwerpunkt der Betrachtung liegt in den Geschehnissen, die ausgehend von Zentraleuropa Auswirkungen auf ganz Europa hatten. Ganz auf dieser Linie liegend sind die Publikationen von Sönke Neitzel sowie Rainer F. Schmidt zu sehen (bisher noch erschienen der Band 9 von Brakel Holocaust), mit der die nicht immer einfachen Zusammenhänge der deutschen Geschichte vom Kaiserreich bis zur Wiedervereinigung kurz, verständlich und ansprechend dargestellt werden sollen.

 

Sönke Neitzel, geboren 1968, lehrt an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz Neuere und Neueste Geschichte. Seine Forschungen befassen sich vor allem mit der Geschichte des Hochimperialismus und dem Zeitalter der Weltkriege. 1994 Promotion, 1998 Habilitation, 2001 Gastdozentur an der University of Glasgow, seit 1994 Fachberater der ZDF-Redaktion Zeitgeschichte.

 

Als am 4. August 1914 deutsche Truppen die Neutralität Belgiens verletzten um gegen den französischen Erzfeind erneut die Klingen zu wetzen, war überall in Deutschland ein unvergleichlicher Nationalstolz und ein Gefühl der Befreiung zu spüren. Es kam zu klassen- und parteiübergreifenden Solidaritätsbekundungen suggerierte doch die Regierung den Angriff als eine notwendige Präventivmassnahme gegen die russisch-französische Einkreisungspolitik.

 

Bemerkenswert war, dass bei Kriegsbeginn weder das Kriegsministerium noch der Generalstab über einen exakten Kräftevergleich zwischen den Mittelmächten und der Entente in einer möglichen militärischen Konfrontation verfügte. Stattdessen vertraute man auf die bessere Kriegskunst - ja und das Glück. Für zentrale organisatorische Vorkehrungen des Reiches hinsichtlich finanzieller, materieller und ziviler Ressourcen wurde keine Notwendigkeit gesehen. Die Folge war, dass das, was als kurzer, lokaler Krieg gedacht war, in einen über vier Jahre dauernden, im Kern europäischen Krieg mit ca. 14 Millionen Toten ausartete. Neu, so Neitzel war die „technische Dimension“ des Krieges, dessen Industrialisierung alle verfügbaren Mittel der kriegführenden Nationen band.

 

Neitzel legt den Schwerpunkt seiner Ausführungen bewusst nicht auf eine detaillierte Beschreibung der Kampfhandlungen. Dies würde den selbst gesetzten Rahmen des Buches sprengen. Trotzdem verdeutlichen die Ausführungen und Bilanzen zu den Stellungskriegen an der Somme und Marne mit seinen unzähligen Toten, dass der Mensch nur noch wie Material ohne jegliche Rücksicht auf Verluste quasi als Mengenverbrauchsgut missbraucht wurde. Zurecht wird harsche Kritik an den Feldherren geübt.

 

Wohlausgewogen skizziert Neitzel die gesamteuropäische Mächtekonstellation, sucht nach dem Casus Belli für Hunderttausende von Toten, widmet sich der Kriegszielpolitik, bewertet ökonomische und soziologischen Faktoren des Krieges und gibt einen Ausblick auf die Weimarer Republik. Hervorzuheben sind besonders die Beschreibungen der katastrophalen Versorgungslage und das daraus resultierende Elend der Bevölkerung, verursacht weniger durch Mängel in der Produktion, aber umso mehr durch eine ineffiziente Verwaltung.

 

Lediglich die in der Geschichtsforschung immer noch kontrovers diskutierte Rolle von „Guillaume le timide“, wie Kaiser Wilhelm II. genannt wurde, wird weitestgehend ausgegrenzt. Vor allem durch den Schlachtflottenbau und dem damit beginnenden ungehemmten Wettrüsten mit England sowie unglücklichen Personalentscheidungen (Max Weber spricht von einer negativen Führerauslese) trug der Kaiser seinen Teil zum Dilemma beitrug. Zu neueren Untersuchungen hierzu darf man auf die für Herbst diesen Jahres angekündigte Biografie Wilhelm II. von Christopher Clark gespannt sein.

 

Die Frage nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges mit dem Alleinschuldigen Deutschland gehört zu den umstrittensten Problemen, die die wissenschaftliche Forschung über den Ersten Weltkrieg kennt und die bis heute nicht restlos geklärt ist. Nachdem zunächst im Artikel 231 des Versailler Vertrages den Mittelmächten und vor allem Deutschland die alleinige moralische und juristische Kriegsschuld zugeschrieben wurde, in Deutschland selbst jedoch dass Gefühl obsiegte, in Notwehr vor der heranrollenden russischen „Dampfwalze“ gehandelt zu haben, vertraten dann lange Zeit alle namhaften Historikern die Aussage des englischen Kriegspremiers Lloyed Georges: „Wir sind alle in den Krieg hineingeschlittert“.

 

Erst der Hamburger Historiker Fritz Fischer wagte Anfang der 60er Jahre mit seinem Buch Griff nach der Weltmacht an dieser These zu rütteln und das historische Establishment zu erschüttern. Wie Neitzel deutlich macht, war es jedoch weniger der „Griff nach der Weltmacht“, der Deutschland in den „Vaterländischen Krieg“ trieb, sondern letztlich eher (grob) fahrlässiges oder gar vorsätzliches Verhalten der Protagonisten, welche die „Ursache-Wirkungs-Relationen“ der Großmächte fatal falsch einschätzten.

 

Der Erste Weltkrieg war in mancher Hinsicht ein mit expansiven und annexionistischen Kriegszielen verbundener Kampf um die Etablierung Deutschlands im Konzert der Großmächte. Andererseits war es aber auch eine Flucht nach vorn aus der Defensive heraus, ein missglücktes diplomatisches Manöver gegen eine bedrohliche Koalition mit bewusst eingegangenem Kriegsrisiko. Nach nicht einmal 48 Jahre war die Geschichte des Deutschen Kaiserreiches von 1871 jäh beendet.

 

Fazit: Zusammenfassend liefern die Bücher für all diejenigen, die sich erstmalig näher mit dieser Thematik beschäftigen wollen einen umfassenden Einblick in die Zusammenhänge, Abläufe und Konsequenzen der beiden Weltkriege, bieten aber auch den schon seit längeren Geschichtsinteressierten einen guten Überblick auf dem aktuellen Forschungsstand. Zwei Bücher, die sich insbesondere auch für den Geschichtsunterricht in der Oberstufe besonders eignen.

 

Andreas Pickel

4/5 Sterne
4/5 von 5

© 2008 Andreas Pickel, Harald Kloth