Borger & Straub: Kleine Schwester

Zürich ; Diogenes ; 2014 ; 224 Seiten ; ISBN 978-3-257-23390-2

 

Buchcover Borger & Straub: Kleine Schwester
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"Warum?" Auch Sie werden sich diese Frage immer und immer wieder stellen, wenn sie dieses Buch von der ersten bis zur letzten Seite verschlungen haben, "Wie konnte das alles nur passieren?"

 

Eigentlich fing ja alles ganz harmlos an: Ela wünscht sich ein zweites Kind um aus ihnen eine "richtige" Familie zu machen. Nach zahlreichen Versuchen sowie einem Selbstmordversuch stellt sich heraus dass Carl keine Kinder mehr zeugen kann. So beschließen die Eltern ein Pflegekind aufzunehmen. Die fünfjährige Lotta wird mit viel Liebe und Enthusiasmus aus dem Kinderheim geholt - alles scheint perfekt zu sein. Leider gebärdet sich Lotta nicht so wie es sich die Erzieherin Ela sich das vorstellt und die anfängliche Begeisterung schlägt sehr bald ins Gegenteil um.

 

Carl ist mit den nun folgenden tragischen Ereignissen um ihn herum völlig überfordert und widmet sich nur noch seinem Motorrad und der Umschulung zum Krankenpfleger. Die schöne aber neurotische Ela verliert wegen Trunkenheit ihre Stellung im Kindergarten. Das wiederum löst nicht nur finanzielle, sondern auch weitere emotionale Probleme aus - für Ela ein weiteren Anlass zur Flasche zu greifen. Nur die zwölfjährige Lilly kümmert sich noch ab und zu um die im Keller dahinvegetierende Lotta.

 

Borger & Straub beginnen den Roman, als Ela und Carl von der Polizei abgeholt werden. Auch Lilly wird zur Befragung in das Präsidium mitgenommen. Die Polizei will von ihr erfahren wie sich diese Tragödie ereignen konnte und warum sie nichts dagegen unternahm.

 

Doch wie begann diese Katastrophe, wie wurde diese Familie zu einem unberechenbaren Monsterapparat? Berichtet wird diese Tragödie aus der Sicht und auch mit den einfachen Worten der zwölfjährigen Lilly. Ohne übertriebene kindliche Naivität, in kurzen prägnanten Sätzen. Obwohl sie stumm vor der Vernehmungsbeamtin sitzt, lässt sie uns teilhaben am Ablauf der Geschehnisse und beginnt zu begreifen, dass diese unglaublichen Vorgänge um sie herum ungewollt aber doch so menschlich wie nachvollziehbar sind. Vorverurteilungen sind hier völlig unangebracht, es steht immer nur die einzige Frage im Raum: "Warum?". Das Ungeheuerliche und das völlig normale sind untrennbar miteinander verbunden, Abgründe tun sich auf.

 

Flüssig und spannend geschrieben versinkt dieser Entwicklungsroman nie in Voyeurismus, er macht nachdenklich und betroffen. Die Stimmungslage pendelt ständig zwischen Verständnislosigkeit und Mitleid, zwischen absoluter Abscheu und Mitgefühl. Obwohl man von der ersten Seite an die dunklen Schatten ahnt, entwickelt sich die Handlung scheinbar harmlos. Erst spät merkt der Leser, dass sich das Schreckliche nicht mehr abwenden lässt. Dieser Psychothriller lässt einen nicht mehr los - auch nicht nach dem letzten Satz. Schockierend real zeichnet er den langsamen und unaufhaltsamen Zerfall einer heilen Familie nach - keine Verbrecher, nur Opfer - kein Happy End!

 

Fazit: Ein Buch das unter die Haut geht.

 

Wolfgang Gonsch

4/5 Sterne
4/5 von 5

© 2003 Wolfgang Gonsch, Harald Kloth, Cover: Copyright © Diogenes Verlag

 

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