Andrej Angrick: Besatzungspolitik und Massenmord

Die Einsatzgruppe D in der südlichen Sowjetunion 1941 - 1943

Hamburg ; Hamburger Edition ; 2003 ; 796 Seiten ; ISBN 978-3-930908-91-2

 

Etwa 500.000 ermordete Menschen hinterließ der mörderische Weg der sogenannten "Einsatzgruppen" im Zweiten Weltkrieg in der Sowjetunion. Waren lange Zeit die Verwicklungen der Wehrmacht in Kriegsverbrechen nebulös und kamen erst durch die Hamburger Wehrmachtausstellung und seiner dadurch ausgelösten Diskussion in Historikerkreisen bewusst in die Öffentlichkeit, so waren die Verbrechen der Todesschwadronen der SS, der sogenannten Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei, des Sicherheitsdienstes und der Kriminalpolizei seit jeher unbestritten. Aber auch dieses düstere Kapitel wurde erst ab Mitte der 70er Jahre Thema detaillierter Untersuchungen.

 

Als bahnbrechend gilt hierzu die 1981 erschienene Studie "Die Truppe des Weltanschauungskriegs" von Helmut Krausnick und Hans-Heinrich Wilhelm. Während sich jedoch diese Untersuchung auf die im Norden Russlands und im Baltikum operierende Einsatzgruppe A konzentrierte, hat nun Andrej Angrick in seinem kürzlich erschienenen monumentalen Werk "Besatzungspolitik und Massenmord" den mörderischen Weg der in Transnistrien, auf der Krim und im Kaukasus, also im Bereich der 11. Armee und später der Heeresgruppe A operierenden Einsatzgruppe D vorgelegt.

 

Trotz einer Fülle von Publikationen zum Zweiten Weltkrieg und seinen Rahmenbedingungen, weist der Autor im ersten Teil des Buches zurecht auf bisherige Forschungslücken zum Thema Massenmord hin. Hier nennt der Autor zum Beispiel das Fehlen von "Täterstudien" und umfassender Länder- und Regionalstudien. Einzigartig macht seine Studie, dass sie erstmals die gesamte Geschichte einer Einsatzgruppe abdeckt, von ihrer Aufstellung über die Durchführung grausamster Massenexekutionen im Rücken - aber auch im Wissen und mit Hilfe - der an der Front kämpfenden Wehrmacht, ihre Aufbauarbeit und Ansiedlung der Volksdeutschen im Sinne des "Generalsiedlungsplans Ost", die Rekrutierung von Tartarenfreiwilligenverbänden und das Aufspüren wertvoller Bibliotheken (sic!) bis hin zum Rückzug und letztendlich ihrer Auflösung im Jahre 1943.

 

Waren die im Westen geführten Feldzüge der deutschen Wehrmacht noch durch die klassische Vernichtung gegnerischer Armeen gekennzeichnet, ergab sich für den Eroberungs-, Versklavungs- und Vernichtungskrieg der "Operation Barbarossa" ein ganz anderes Bild. Aufgrund der Weite des Raumes und des unendlich erscheinenden menschlichen und materiellen Potentials der Sowjetunion war ein Besiegen des Gegners in einem gewöhnlichen Duellkrieg bis zu seiner Kapitulation ein schwerlich zu erreichendes Ziel, so dass man dort plünderte, verwüstete und ausrottete derer man habhaft werden konnte - die Nicht-Kombattanten und darunter insbesondere die Juden. So stellte neben der industriellen Vernichtung der Juden in Konzentrationslager der ideologische Feld- (Kreuz-?!)zug der Einsatzgruppen eines der dunkelsten Kapitel deutscher Geschichte dar. Die Einsatzgruppen, unterteilt in Einsatzkommandos (Ek) und Sondekommandos (Sk) à cirka 50 Mann, drangen in die Ortschaften ein, ermittelten vermeintliche Gefahrenquellen und sorgten ohne näherer kriminalistischer Aufklärung für den größtmöglichen Terror gegen geringstmöglichen Widerstand.

 

Angricks Untersuchung fesselt und schreckt gleichermaßen ab vor allem durch seine Detailgenauigkeit der menschenverachtenden Einsätze der Eks und Sks - in der ersten Phase gemeinsam mit den teilweise noch brutaler agierenden rumänischen Soldaten- , seiner detailliert recherchierten und erstellen Täterprofile quer durch alle Dienstgradgruppen und durch seine Beschreibung der Verwicklung und der passiven und aktiven Unterstützungsleistungen der Wehrmacht in derartige Verbrechen.

 

Der im März 1941 zwischen dem Chef des Reichssicherheitshauptamtes, Heydrich, und dem Heer konzipierte Vertrag sah eigentlich eine strikte Trennung der Einsatzorte und der Einsatztätigkeiten vor. Der unmittelbare Schutz der Truppe war Aufgabe der Geheimen Feldpolizei der Armee, alle anderen polizeilichen Aufgaben waren den Einsatzgruppen übertragen. Den Ort des Einsatzes sollte das Armeekommando vorgeben, die Art des Einsatzes, also de facto die Durchführung Hitlers Ausrottungspläne, Himmler (der übrigens laut Autor selbst von den brutalen und verrohten Methoden seiner Truppen "überrascht" wurde). Doch eine aufbrechende und wellenförmig verlaufende Front ließen ab 1942 polizeilichen und soldatischen Verantwortungsraum mehr und mehr vermengen, eine strikte Trennung des Aufgabengebietes nur schwer einhalten und eine angebliche Unkenntnis des Heeres über die Gräueltaten in ihrem Rücken als unglaubhaft darstellen. Hatte das Heer Kenntnis über Judenvernichtungen in seinem Bereich (im Bereich der 11. Armee zugeordneten Einsatzgruppe D waren es allein cirka 90.000 Juden), wäre es eigentlich zum Einschreiten verpflichtet gewesen, doch dazu kam es nur selten (für weitere Informationen über die Verantwortung der Wehrmacht empfehle ich das Buch von Jörg Friedrich: "Das Gesetz des Krieges").

 

Die dargestellten Soziogramme offenbarten, dass die Biografien zwar absolut diametral waren und weiter verliefen, so dass die Mördergruppe alles andere als einen sozial geschlossenen Verband darstellte, sie dennoch tödlich wirkten. Was jedoch einen Maler, Bäcker, Gärtner oder Kraftfahrer in der Durchführungsebene ebenso wie hochgebildete Männer in der Führungsebene genau dazu bewogen hat ohne mit der Wimper zu zucken wehrlose Männer, aber auch Greise, Frauen und Kinder erst das gesamte Hab und Gut einschließlich der Bekleidung abzunehmen, dann ihr eigenes Grab ("Grube") schaufeln zu lassen um sie schließlich bestialisch zu ermorden (bis auf wenige Ausnahmen, die sich von besonders skrupellosen Taten "befreien" ließen), ist aus heutiger Sicht unbegreifbar und wird wohl nie rational erklärbar sein.

 

Oftmals feierten sie ihre "Heldentaten" in alkoholischen Exzessen - einerseits um zu vergessen, aber andererseits auch, um sich für neue Gräueltaten aufzupuschen. Nach dem Krieg leugneten viele das Geschehene und sahen sich benutzt. Man sah sich selbst in der Opferrolle des nationalsozialistischem Regimes, welches man ja eigentlich nicht unterstützte, sondern nur "Auf Befehl" handelte, um selbst nicht Repressalien ausgesetzt zu werden. Die Folge oftmaliger nervlicher Entgleisungen führte jedoch makabrer Weise nicht zu einer anderen Politik. Im Gegenteil, stattdessen vervollkommnende das NS-Regime ihre Mordmethoden zum Beispiel durch die Ausstattung der Einsatzgruppen mit den sogenannte Gaswägen.

 

Krieg war und ist seit jeher grausam. Aber die Untersuchungen und fachlich fundierten Beschreibungen von Andrick über die begangenen Grausamkeiten übertreffen alles, was man sich an menschlicher Vorstellungskraft nur vorstellen kann. Für alle die die verbrecherische Umsetzung Hitlers Ideologie und der nationalsozialistischen Weltanschauung aber auch die Implikation und die Vermaschung der Wehrmacht in die verbrecherischen Tätigkeiten der Einsatzgruppen verstehen wollen ist das Buch ein absolutes "Muss".

 

Fazit: Selten liest man ein Buch, das so "unter die Haut geht"!

 

Andreas Pickel

4 Sterne
4 von 5

© 2004 Andreas Pickel, Harald Kloth

 

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