Wolfgang J. Mommsen

War der Kaiser an allem schuld?

Wilhelm II. und die preussisch-deutschen Machteliten

Mit der großen (1437 Seiten) Kaiser-Biografie des englischen Historikers John C. G. Roehl wurde vor zwei Jahren ein neues Kapitel der Diskussion über das „Persönliche Regiment“ Kaiser Wilhelm II. eröffnet. Roehl versucht den Nachweis zu führen, dass der Monarch tatsächlich das eigentliche Entscheidungszentrum im Kaiserreich bildete und der Monarch deshalb auch für die unsägliche Außenpolitik seit der Entlassung Bismarcks 1890 verantwortlich zu machen sei, die folglich unabweisbar in den Ersten Weltkrieg führte. Er widersprach somit vehement der bisher gültigen Interpretation des Bielefelders Sozialhistorikers Hans-Ulrich Wehler, dass der Kaiser nichts weiter als eine Attrappe gewesen sei, hinter dem eine „Polykratie rivalisierender Machtzentren“ agiert habe.

 

Als Synthese ist das neue Buch War der Kaiser an allem schuld? des Düsseldorfer Historikers Wolfgang J. Mommsen zu sehen, der versucht, zwischen diesen beiden Deutungen zu vermitteln. Dabei geht es um die Beantwortung der oft gestellten Frage: Hat die Zeit den Mann geprägt oder ist er von seiner Zeit geprägt worden? Die Frage ist mit einem eindeutigem „Sowohl, als auch“ zu beantworten. In chronologischer Abfolge liefert er dabei weniger eine neue Biografie, sondern betrachtet die Ereignisse in einer Art politischen Analyse. Er bestreitet nicht die große Machtfülle Wilhelms II. und die schädlichen Folgen seines persönlichen Herrschaftsstils.

 

Zugleich aber wendet er sich dagegen, ihn zum Allein- oder auch nur Hauptverantwortlichen für das Scheitern der deutschen Außen- und Innenpolitik vor 1914 zu erklären. War der Beginn seiner Regierungszeit (1888 bis 1918) noch bestimmt von einem martialischen und selbstbewusstem Auftreten, verlor er im Laufe seiner Regierungszeit immer mehr an Macht und verkam schließlich zur Marionette der politischen Eliten. Diese waren ihrerseits wiederum nur Spielball der Industriellen und vor allem des Militärs. Spätestens im Ersten Weltkrieg, war „Guillaume le timide“ (Seite 115; ein Wort das schon 1905 erstmals die Runde machte, weil der Kaiser trotz seiner martialischen Reden im Grunde vor einem Kriegsrisiko zurückschreckte) endgültig nur noch das fünfte Rad einer Militärdiktatur.

 

Den Nachweise liefert Mommsen anhand so bekannter Beispielen wie dem Telegramm an den Präsidenten Transvaals, Ohm Krüger (der sogenannten Krüger-Depesche), seiner zweifelhaften Flottenpolitik, seiner „Hunnenrede“ anlässlich der Entsendung eines Expeditionskorps nach China zur Niederschlagung des Boxer-Aufstandes, die Behandlung der sittlichen Skandale in der Ära Bülow (1900 bis 1909), der sich der Autor besonders viel Zeit widmet, der demonstrativen Landung in Tanger (1905), das Interview des Kaisers für den Daily Telegraph im Jahre 1908, das sowohl im Inland als auch im Ausland eine große Empörung auslöste, der „Panthersprung nach Agadir“ (1911) oder die oftmals zur Farce verkommenen Suche nach einem Reichskanzler, die Mommsen selbst als „Musterbeispiel negativer Führerauslese im Sinne Max Webers“ (Seite 246) bezeichnet.

 

Obwohl über den Kaiser fast 100 Bücher geschrieben wurden und über ihn mehr Biografien als über Bismarck, Churchill und Lenin erschienen - nur Hitler hat ihn übertroffen - gelingt es Mommsen, bereits bekannte Aspekte nachweisbar in ein neues Licht zu stellen und plausible zu erklären. Wilhelm II. war nicht an allem schuld, spielte jedoch insgesamt im historischen Kontext eine höchst negative Rolle. Glaubte man lange Zeit, das Scheitern der deutschen Außenpolitik gehe auf das alleinige Konto des Kaisers, war tatsächlich eher der engere Führungskreis verantwortlich, die die Person und das Ansehen des Monarchen instrumentalisierten. Er war letztendlich ein Treibender, aber auch ein Getriebener.

 

Fazit: Insgesamt ist das Buch ein Muss für historisch Interessierte, wobei man allerdings zum Verständnis des Gesamtzusammenhangs über entsprechende Vorkenntnisse verfügen sollte.

 

Andreas Pickel

4 Sterne
4 von 5

© 2003 Andreas Pickel, Harald Kloth