Charlotte Thomas

Die Madonna von Murano

Historischer Roman

La Serenissima feiert im Jahre 1475 ausgelassen ihren berühmten Karneval. In diesem Trubel versucht eine junge, hochschwangere Frau in den verwinkelten Gassen der Stadt verzweifelt ihren Verfolgern zu entkommen, gegen die schnelleren und kräftigeren Männer hat sie aber nicht den Hauch einer Chance. Sterbend bringt sie eine Tochter zur Welt, Sanchia, die von einem zur Hilfe herbeigeeilten Glasmachermeister nach dem Tod der jungen Mutter an Kindes statt angenommen wird. Früh muss das kleine Mädchen feststellen, dass ein dunkles Geheimnis auf ihrer Herkunft liegt. Als sie den jungen Patrizier Lorenzo Caloprini kennen und lieben lernt, holt sie die Vergangenheit ihrer Mutter wieder ein und die Situation spitzt sich dramatisch zu.

 

Der Klappentext verspricht uns zunächst einen historischen Roman, der das derzeit gängige Motiv einer starken Frau, die sich trotz großer Widerstände im Leben durchsetzen muss, thematisiert. Er scheint also nicht viel Neues zu bieten. Doch dieser Roman zieht jede(n) in kürzester Zeit in seinen Bann und ich habe die über eintausend Seiten geradezu gierig verschlungen. Charlotte Thomas verfügt über ein enormes erzählerisches Talent das selbst alltäglichste Verrichtungen in einem Leben zur Zeit der Renaissance hochinteressant macht. Hinzu kommt, dass sie auch den Nebenfiguren genügend Raum zur Entfaltung lässt und diesen damit Lebendigkeit und Ausstrahlung verleiht. So konnten neben der Protagonistin Sanchia eine Vielzahl interessanter Figuren und Charaktere entstehen, ähnlich einem Gemälde der Renaissance.

 

Die Schicksale von Adligen, Klerikern, Kaufleuten, Handwerkern, Künstlern, Kurtisanen und Heilkundigen hat die Autorin geschickt miteinander verwoben und mit der Serenissima des ausgehenden 15. Jahrhunderts verknüpft. Sie lässt vor unserem inneren Auge ein farbenprächtiges, üppiges Bild des Venedigs der beginnenden Renaissance entstehen. Einer der wichtigsten Epochen der Lagunenstadt, die geprägt ist vom aufstrebenden Seehandel, Kunst und Prachtentfaltung aber auch von politischen Intrigen, Krieg, Sklaverei, Gewalt, Pest, Elend, Glaube und Aberglaube. Gepaart mit dem spannungsgeladenen und geheimnisvollen Familiengeheimnis der Caloprinis, das Charlotte Thomas uns erzählt, erlebt der Leser einen regelrechten Leserausch.

 

Charlotte Thomas` Roman ist in einer angenehm flüssig zu lesenden Sprache geschrieben, die vor Kraft und Erzählfreude nur so strotzt! Sie hat mit ihrem rundherum gelungenen Erstling nicht nur ein pralles und prächtiges Bild der Serenissima entwickelt, nein: zu Florenz ruft der Prediger Savonarola den Gottesstaat aus, die Medici werden abgesetzt und nicht wiederbringbare Kunstschätze ganzer Epochen gehen wegen religiösem Fanatismus in Flammen auf. Diese Epoche bedeutet aber gleichzeitig die wirtschaftliche und kulturelle Glanzzeit Italiens. Erleben Sie in diesem bewegenden und intensiven Historienspektakel das ausschweifende Leben der Reichen und Mächtigen in allen Einzelheiten mit, den Ausbruch der Pest, alltägliche Gewalt und immer wieder Geburten und schwere Verletzungen.

 

Vielleicht hätte die Protagonistin Sanchia nicht unbedingt ganz so viele historische Persönlichkeiten (Michelangelo, Albrecht Dürer, Giovanni de Medici, Papst Alexander VI., seine Tochter Lucrezia Borgia, den Prediger Savonarola, König Karl VIII., Leonardo da Vinci um nur einige zu nennen), an gar so vielen verschiedenen Schauplätzen treffen müssen; so hat man als Leser, der wirklich gebannt Zeile für Zeile verschlingt zumindest zur Hälfte des „Schmökers“ leichte Probleme alle Namen und Orte richtig einzuordnen. Das tut dem Leseerlebnis aber fast keinen Abbruch, vielleicht sogar im Gegenteil: wir leiden und leben mit allen Haupt- und Nebenfiguren des Romans mit und ganz zärtlich, wunderbar verpackt und frei jeglicher Plattitüden lässt uns Charlotte Thomas auch ganz intensiv mit lieben!

 

Fazit: Ein voluminöser, fulminanter und spannender Historienschinken, der vielleicht um hundert oder zweihundert Seiten zu lang geraten ist.

 

Wolfgang Gonsch

4/5 Sterne
4/5 von 5

© 2007 Wolfgang Gonsch, Harald Kloth