Jörn Leonhard: Die Büchse der Pandora

Geschichte des Ersten Weltkriegs

München ; Beck ; 2014 ; 1168 Seiten ; ISBN 978-3-406-66191-4

 

100 Jahre nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges erschienen eine große Anzahl von Neupublikationen, die sich mehr oder weniger umfangreich mit der „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ auseinandersetzen. Herausstechend ist dabei das ca. 1.000 Seiten dicke Buch von Jörn Leonhard Die Büchse der Pandora. Auf dem absolut neuesten Forschungsstand, in klarer Analyse und mit bemerkenswerten Folgerungen beschreibt der Autor dieses äußerst komplexe Thema in allen Aspekten.

Leonhard braucht lange, weit über 100 Seiten, um zum eigentlichen Thema zu kommen. Aber eine intensive Auseinandersetzung mit den Kriegsursachen und den (diplomatischen) Rädchen die nach und nach ineinander griffen, bevor spätestens Mitte Juli 1914 die Militärs das Zepter in die Hand nahmen, darf in so einem Buch mit einem derartigen Anspruch nicht fehlen. Leonhard beginnt dazu im 19. Jahrhundert, erklärt und begründet wie und warum Konflikte zunächst regional eingedämmt werden konnten und trotz ständiger Fragilität des europäischen Bündnissystems groß angelegte Auseinandersetzungen vermieden werden konnte ... bis, ja bis zum 28. Juni 1914, dem Attentat auf den österreichischen Thronfolger in Sarajewo. Allerdings betont Leonhard, dass trotz aller Krisen und Auseinandersetzungen im Vorfeld eine einfache Linie von diesen Entwicklungen zum „Grand Guerre“ nicht gezogen werden können. Die Sache war viel komplexer, wie der ganze große europäische Krieg an sich. Die Handlungsspielräume der Politik wurden immer begrenzter während stattdessen die militärische Option alternativlos schien. Nun sah man im Deutschen Reich die Gelegenheit, andere zum Krieg zu drängen oder ein Bedrohungspotential aufzubauen, welches gegenüber der eigenen Bevölkerung als Rechtfertigung für Mobilmachung und Kriegseintritt gelten konnte. Man sah sich in der jetzigen Phase noch überlegen genug, der „Entente“ um Frankreich, Russland und Großbritannien schnell eine empfindliche und schmerzhafte Niederlage beizubringen.

In den folgenden Kapiteln geht Leonhard chronologisch vor, behandelt intensiv die Kriegsjahre und Schlachten von 1914 bis 1918 sowie deren Auswirkungen auf das (Über-)Leben Zuhause. Zu Beginn eines jeden Kapitels bietet er eine Art „Executive Summary“ am Ende fasst er jeweils unter der Überschrift „Fünf Monate Krieg“, „17 Monate Krieg“, „29 Monate Krieg“… die Kernereignisse und ihren Einfluss auf die Folgejahre mit beeindruckenden Folgerungen zusammen. Die in allen Ländern vorherrschende Euphorie über den Kriegsausbruch, das Gefühl einer Art von Befreiung gegen die vermeintlich Einkreisung gerade im Deutschen Reich, folgte schnell die Ernüchterung. Bereits Ende 1914 war klar, dass die Versprechungen der Politik zu einem schnellen Kriegsende nicht eingehalten werden konnten. 1915 war strategisch dann ein eher „langweiliges“ Jahr, wobei diese „Langeweile“ in wochenlangen Grabenkämpfen zu zig-Tausenden von toten Soldaten führte und der Verlust fast einer ganzen Generation von Männern zusehends immense Auswirkungen auf das Zuhause hatte. Der Steckrübenwinter von 1916 sagt wohl vielen etwas. 1917 verabschiedete sich Russland aus dem Krieg, dafür traten die Vereinigten Staaten von Amerika ein. Insgesamt kämpften 34 Länder auf Seiten der Entente, die ursprünglich nur aus Frankreich, Großbritannien und Russland bestand. Auf Seiten der Mittelmächte kämpften neben Österreich-Ungarn nur noch das Osmanische Reich sowie Bulgarien. Obwohl die Armee auf den Kriegsschauplätzen weiter tapfer kämpfte, war das Deutsche Reich schließlich 1918 am Ende seiner Kräfte, auch wirtschaftlich und politisch. Das Bitten um einen Waffenstillstand war schließlich unausweichlich. Die Gründe dafür waren vielfältig: Fehlannahmen über die französischen und russischen Stärken und Schwächen, die Strategie blieb im 19. Jahrhundert verhaftet und konnte der modernen Technik weitestgehend nicht folgen oder auch ein enthemmtes Militär, dass den Zorn der besetzten Gebiete und damit den Widerstand der Bevölkerung dort stärkte.

Auch wenn der Krieg am 11.11.1918 chronologisch endete und Leonhard eine Kontinuität vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg und darüber hinaus ablehnt, war danach jedoch nicht Ruhe unter den und innerhalb der Nationen. Neue kleinere Konflikte brandeten auf, es kam zu Bürgerkriegen und Unabhängigkeitskriegen und groß angelegter Gewalt gegen Minderheiten. Aber jeder dieser Konflikte und Kriege hatte seine eigenen Ursachen und Dynamik und war nicht zu verknüpfen. Nichtsdestotrotz kann man den Krieg aufgrund seiner beispiellosen Gewalterfahrung als Epochenwende bezeichnen. Diese Erfahrung führte auch dazu, dass man nicht in der Lage oder wegen den Revanchegelüsten nicht gewillt war, eine dauerhafte Friedensordnung zu errichten. So gesehen spricht Leonard sehr wohl von einer historischen Dimension des Ersten Weltkriegs, auch wenn er immer wieder betont, dass man für die Zukunft keine Kontinuitätsgerade ziehen oder Kausalketten knüpfen kann.

Der Erste Weltkrieg war ein hoch komplexer Krieg und dementsprechend, so Leonhard, kam es auch zu einem sehr komplexen Friedensvertrag. Insgesamt 440 Artikeln in 15 Teilen, Anhängen und Ergänzungsverträgen sollten die Nachkriegsordnung regeln. Am 28. Juni 1919 unterschrieben Reichsaußenminister Hermann Müller und Verkehrsminister Johannes Bell unter Protest das Dokument im Schloss von Versailles. Der Protest richtete sich vor allem gegen den Artikel 231, der Deutschland die alleinige Schuld am Ersten Weltkrieg attestierte. Dazu später mehr. Insgesamt eliminierte der Friedensvertrag zwei der drei Großmächte der Mittelachse, die k.u.k.-Monarchie und das Osmanische Reich. Deutschland blieb dagegen eine kontinentale Großmacht. Da der Vertrag trotz oder gerade wegen seines Umfangs weder Sieger noch die Besiegten zufrieden stellte, schürte er schon mit Unterzeichnung das Fundament für neues Konfliktpotential. Offiziell gab es Kriegsgewinner, aber so richtig was zu gewinnen gab es nicht. Die in dem Vertrag festgelegten Normen und Statuten sollten den Frieden langanhaltend sichern, waren dazu aber zu widersprüchlich – genauso wie die Ansprüche ihrer wesentlichen Akteure. Hätte man den Vertrag nicht als unumstößlichen Fakt betrachtet, sondern von Zeit zu Zeit den neuen Gegebenheiten mit einer höheren Kompromissbereitschaft angepasst, wäre uns danach vielleicht viel Leid erspart geblieben. Vor allem in Deutschland wurde das Militär von strategischen Fehlplanungen und militärischen Niederlagen reingewaschen, so dass die „Dolchstoßlegende“ auf fruchtbaren Boden traf. Deshalb war gerade im Deutschen Reich der Wille nach Revisionismus nicht zu bändigen und wartete geradezu auf einen Agitator wie Hitler. Aber auch nach dem Zweiten Weltkrieg und sogar heute noch ist der „Friedensvertrag“ Ursache für viele ethnische, nationale und soziale Konflikte.

Leonhard hat sich tief, sehr tief in alle Dokumente aller beteiligten Länder und Protagonisten zum Ersten Weltkrieg hineingegraben. Fotos, Briefe, Tagebücher, Aufzeichnungen, Artikel aller Art bringt er in einen beeindruckend nachvollziehbaren und verständlichen Kontext und verknüpft scheinbar lose Enden zu einer in sich fließenden Geschichte mit hohem Spannungsbogen. Auch so Berühmtheiten wie Thomas Mann und Winston Churchill kommen zu Wort. Dabei lässt er keine Facetten des Krieges aus, fokussiert sich aber auf die Regionen, in denen der Krieg am Intensivsten geführt wurde. Neben den wesentlichen operativen und strategischen militärischen Entwicklungen und der Sicht des Krieges „von oben“, also aus Sicht der Führungseliten, widmet er sich auch dem Blickwinkel „von unten“, also der der Daheimgebliebenen und der Frontsoldaten.

 

So brachte der Erste Weltkrieg erhebliche Veränderungen der sozialen Lage und Situa­tion der Bevölkerung in Deutschland mit sich. Bei seinem Beginn im August 1914 war keine lange Dauer des Krieges erwartet worden. Man ging im Gegenteil davon aus, dass die Soldaten an Weihnachten wieder zu Hause wären (siehe auch meine Rezension zu Michael Jürgs. Der kleine Frieden im Großen Krieg. Westfront 1914: als Deutsche, Franzosen und Briten gemeinsam Weihnachten feiern). Niemand ahnte 1914 auch nur entfernt, dass der Krieg eine ganze Generation junger Leute auslöschen werden würde. Der langwierige Stellungskrieg vernichtete ne­ben dem Leben unzähliger Soldaten auch enorme wirtschaftliche Ressourcen, die der Heimat entzogen wurden. Der Erste Weltkrieg war so gesehen doch vornehmlich auch ein Wirtschaftskrieg, in dem die nach Kriegsbeginn einsetzende Festlandsblockade und ihre Folgen im Deutschen Reich die Versorgung mit Nah­rungsmitteln und Rohstoffen zu zentralen Problemen machte. Der Krieg, so Leonhard, wurde somit nicht durch die bessere Kriegsstrategie, durch den entscheidenden Durchbruch an der Front beendet, entscheidend war das Durchhaltevermögen, Rohstoffe und Personal betreffend, aber auch emotional, der stärkere Leidenswillen. Auch der wesentliche Aspekt der Kriegszielpolitik kommt in dem Buch nicht zu kurz.

 

Die Frage nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges mit dem Alleinschuldigen Deutschland gehört zu den umstrittensten Problemen, die die wissenschaftliche Forschung über den Ersten Weltkrieg kennt und die bis heute nicht restlos geklärt ist. Nachdem zunächst im Art. 231 des Versailler Vertrages den Mittelmächten und v.a. Deutschland die alleinige moralische und juristische Kriegsschuld zugeschrieben wurde, in Deutschland selbst jedoch dass Gefühl obsiegte, in Notwehr vor der heranrollenden russischen „Dampfwalze“ gehandelt zu haben, vertraten dann lange Zeit alle namhaften Historikern die Aussage des englischen Kriegspremiers Lloyed Georges: „Wir sind alle in den Krieg hineingeschlittert“. Erst der Hamburger Historiker Fritz Fischer wagte es Anfang der 60er Jahre mit seinem Buch „Griff nach der Weltmacht“ an dieser These zu rütteln und das historische Establishment zu erschüttern. Auch wenn die Thesen Fischers teilweise widerlegt wurde, war der Erste Weltkrieg jedoch in der Tat in mancher Hinsicht ein „Griff nach der Weltmacht“ und ein „Krieg der Illusionen“, ein mit expansiven und annexionistischen Kriegszielen von vielen geforderter Kampf um die Etablierung Deutschlands im Konzert der Großmächte, der Schaffung eines Imperium Germanicum. Andererseits war es aber, wie es die Historiker Zechlin, Hillgruber und Erdmann vertreten eine Flucht nach vorn aus der Defensive heraus, halb ein missglücktes diplomatisches Manöver gegen eine bedrohliche Koalition mit bewusst eingegangenem Kriegsrisiko, halb ein „Präventivkrieg“ gegen das mit einem längeren Atem ausgestattete Russland. Auch war es eine nach außen gewendete „aggressive Defensivpolitik“ von innenpolitisch in die Enge getriebenen Eliten.

 

Leonhard behandelt weniger die Frage, wer Schuld an den Millionen von Toten hatte, sondern eher, wer ihn hätte verhindern können, aber warum dies schließlich doch nicht gelang. Keines der europäischen Staaten, selbst das Deutsche Reich nicht, plante zur Zeit des 28. Juni 1914 einen Angriffskrieg – aber es gab überall Gedanken an einen Präventivkrieg und das drängende Militär verkürzte immer mehr den Zeitraum der Ultimaten. Wie der Autor richtig anmerkt, galt die aggressive wilhelminische Außenpolitik zweifellos als Mittel zur Stabilisierung des gefährdeten inneren Status Quo. Die Reformunfähigkeit der Machteliten zu umfassenden Strukturreformen, zu Reformen der antiquierten innenpolitischen Struktur und des wandlungsunfähigen Herrschaftssystems war letztendlich der traurige Schlusspunkt des Scheiterns der deutschen Großmacht- und Weltpolitik. Äußerlich und innerlich erdrückt, erlag sie schließlich ihrem Leiden. Nicht einmal 48 Jahre hatte die Geschichte des Deutschen Kaiserreiches von 1871 gedauert.

Der Erste Weltkrieg hatte nicht nur Auswirkungen auf militärische Strategien, auf die Art der Operationsführung und vor allem auf die Landkarte Europas, er hatte auch immensen Einfluss auf Kunst, Kultur, Wissenschaft und Wirtschaft. Nichts und niemand blieben unberührt von den Konsequenzen dieses ersten wirklichen „Grande Guerre“. Was waren laut Leonhard nun die Konsequenzen aus der „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts? Zum einen war dies nicht nur die hohe Anzahl der Opfer, von Toten, Verwundeten, Kriegsversehrten, körperlich aber auch psychisch, sondern auch die, wie er es nennt, Qualität der Kriegserfahrungen auf das danach, nicht nur auf das Zuhause, nein, auf das gesamte Leben und Denken. Zum anderen war es die Totalisierung der Gewalt als Herrschaftsinstrument, der „Habitus der Gewaltzulassung“ gegen alles und jeden. Dies nicht nur an den eigentlichen Kriegsschauplätzen, sondern auch an der Heimatfront. Die Grenzen verschwammen immer mehr und lösten sich schließlich auf. Der eigentliche Sieger des Krieges waren nicht irgendwelche Länder, nein, es war somit der Krieg an sich. Der Krieg blieb spätestens von nun DAS Mittel, das für „Politikmachen“ in Betracht gezogen wurde. Auch gab es nun einen komplett veränderten Begriff der Politik, aber eine neue stabile Ordnungspolitik ließ noch auf sich warten.

 

Die Auswirkungen, so Leonhard, sind bis heute zu spüren. Es wurden nationalstaatliche Modelle geformt, ohne die ethnisch begründeten Grenzen zu respektieren. Die daraus resultierenden Minderheitenprobleme sind die Ursache vieler innerstaatlicher Konflikte noch heute. Auch der imperiale „Overstretch“ der europäischen Kolonialmächte ließ neue global agierende Akteure auf der Bühne erscheinen. So sind heute noch die Erben des Krieges spürbar. Der Krieg hinterließ lange Zeit oder hinterlässt bis heute bleibende Erinnerungen. Erstmalig kam es zu offiziellen Erinnerungskulturen mit Gedenkstätten und Gedenkveranstaltungen, aber auch jeder Kriegsteilnehmer für sich, ob Zuhause oder an der Front hatte auch seine ganz persönlichen Erinnerungen. Kein anderer Krieg, so Leonhard, prägte durch seine Toten, Verletzen an Leib und Psyche, misshandelten und vergewaltigten Menschen, den Millionen Vertriebenen und Trauernden so nachhaltig seine Nachkriegszeit in Politik und Gesellschaft. Für Franzosen, Briten und Belgiern ist es heute noch DAS Ereignis, welches die nationale Identität brachte, für uns Deutsche schob sich der Holocaust und die unleugbare Schuld des Zweiten Weltkrieges über die Erinnerung an den ersten Weltkrieg.

Fazit: Insgesamt bietet das Buch einen hervorragenden tiefergehenden Einblick in alle Facetten über den Ersten Weltkrieg. Im Gegensatz zu dem aufsehenerregenden Buch von William Clark „Die Schlafwandler“, erregt es weit weniger Diskussionen und Kritik. Präzise, klar und unumstößlich ist Leonhard in seiner Analyse und seinen Schlussfolgerungen und bietet so keinerlei Angriffspunkte. Er stellt keinen und niemanden an den Pranger, die Juli-Krise hatte alle überfordert und das Vertrauen in die Deeskalation hat gefehlt, so die einfach klingende Analyse Leonhards. Die „Büchse der Pandora“, aus der unmenschliches Leid und Gewalt über die Menschheit herfällt, wurde selten besser beschrieben. Das Buch ist ein „Muß“ im Bücherregal von Leuten, die sich intensiver mit Geschichte beschäftigen.

 

Andreas Pickel

5 Sterne
5 von 5

© 2014 Andreas Pickel, Harald Kloth