Joseph Kanon

Stadt ohne Gedächtnis

Roman

Der amerikanische Schriftsteller Joseph Kanon versteht es meisterhaft, in seinen Romanen historische Wendepunkte in ihrer menschlichen Vielschichtigkeit und Problematik lebendig werden zu lassen.

 

In diesem, seinem vierten Roman erzählt er die Geschichte eines jungen US-Nachrichtenoffiziers namens Adam Miller, der Anfang 1946 - nach dem Ende seines Militärdienstes aus dem völlig zerbombten und absolut trostlosen Frankfurt am Main und von der bedrückenden Mitarbeit an vielen Entnazifizierungsverfahren zu einem Besuch seiner verwitweten Mutter nach Venedig reist. Sie sucht in der zauberhaften und völlig unzerstört gebliebenen Lagunenstadt wieder das mondäne Gesellschaftsleben unter den reichen Müßiggängern, das durch den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges jäh unterbrochen wurde. Und so ist auch der junge GI von diesem Glanz des alten Europa hin- und weggerissen.

Er kehrt aber auch zurück, weil er sich verliebt hat: in die junge und wunderschöne italienische Jüdin Claudia, deren Verhalten ihm jedoch zunehmend Rätsel aufgibt - bis zur Begegnung mit jenem soignierten Venezianer, der seine Mutter ehelichen möchte. Dieser Doktor Gianni Maglione von Adams Geliebter als jener Arzt entlarvt, der während der deutschen Besetzung Italiens (1943 bis 1944) ihren Vater - Studienfreund und Patient von Maglione - ganz beiläufig und mit einem leichten Kopfnicken an die SS verriet, die ihn daraufhin postwendend nach Auschwitz deportierte. Ein ungeheurer Verdacht, der nicht nur von der venezianischen High Society verworfen wird, selbst Adam zweifelt.

 

Maglione schlägt zurück: Er bezichtigt Claudia eine "Lagernutte" gewesen zu sein - sie hätte ihrerseits Anstand und Moral verraten. Sie gab sich im KZ des Überlebens Willen einem SS-Offizier hin.

 

Von da an überschlagen sich die Ereignisse, Intrigen und Verwicklungen. Venedig erweist sich als ein Sumpf, der die vorher klaren Begriffe des bis dahin naiven Amerikaners von Anstand, Gerechtigkeit und Moral bei weitem übersteigen. Schließlich muss er selbst Tribut zollen, um seine geliebte Claudia vor dem Tod zu bewahren - was überlebt ist einzig die historische Fassade.

 

Dieser absolut betörende Venedig-Roman ist nicht nur ein packender Krimi der Superklasse und ein historisches Monumentalwerk, sondern auch einer der besten und spannendsten Gesellschaftsromane dieser Tage. Dieser tragische Plot reicht locker an den großen Graham Green heran und reiht sich problemlos in die Reihe seiner drei vorangegangenen Bestseller Die Tage von Los Alamos, Der verlorene Spion und In den Ruinen von Berlin ein.

 

Fazit: Packende Literatur von hoher Qualität!

 

Wolfgang Gonsch

4 Sterne
4 von 5

© 2006 Wolfgang Gonsch, Harald Kloth