John Griesemer

Rausch

Roman

Hamburg ; marebuchverlag ; 2004 ; 685 Seiten ; ISBN 978-3-936384-86-4

 

Scheinbar mühelos reiht sich der Schauspieler John Griesemer mit seinem Romandebüt in die erste Garde der amerikanischen Literatur ein. Und das brachte er mit einem einzigen Buch fertig: Rausch.

 

Schauplätze dieses opulenten Wälzers der im 19. Jahrhundert spielt sind London, die amerikanische Ostküste und immer wieder das unendlich weite Meer. Das Denken der Menschen wird von den unglaublichen Erfolgen der Naturwissenschaften bestimmt. Die Welt ist auf dem Sprung ins 20. Jahrhundert und geradezu gierig auf die neuesten Errungenschaften der Technik.

 

Männer wie der Amerikaner Chester Ludlow drängen mit aller Macht ihre Träume zu verwirklichen. Der Ingenieur arbeitet verbissen und voller Leidenschaft daran, Amerika und Europa mit einem Telegraphenkabel zu verbinden, koste es was es wolle. Und immer wieder scheitert die Unternehmung. Bei der notwendigen Kapitalbeschaffung hilft Chester der Ingenieur und Künstler Joachim Lindt. Mit seinen Kulissen (Phantasmagorium genannt), die als ineinander geschobene Bilder ein faszinierendes Panorama aus Licht und Schatten zaubern und musikalisch von Lindt`s Frau Katerina begleitet werden, reist die kleine Truppe von Stadt zu Stadt.

 

Zu Beginn ist Chesters Ehefrau Franny mit von der Partie. Doch ihre Welt ist eine ganz andere. Noch immer trauert sie um ihre Tochter, die mit vier Jahren verunglückt ist. Ganz im Gegensatz zu ihrem Mann, Ingenieur vom Scheitel bis zur Sohle, fühlt sich Franny zur spirituellen Geisterwelt, zu Séancen hingezogen, bei denen Kontakt mit den Toten aufgenommen werden soll. In dieser Atmosphäre, in der alles machbar erscheint, verliebt sich Chester in die wunderschöne Ehefrau seines Kollegen Lindt und es beginnt eine unglaublich spektakuläre Affäre.

 

Griesemer braucht nur etwa fünfzig Seiten und dann hat er seine Leser endgültig gekapert. Neben einer unglücklichen Liebesgeschichte erzählt er einen historischen Roman, berichtet über den technischen Fortschritt und entwickelt ein riesiges Panorama des 19. Jahrhunderts. Die Charaktere sind psychologisch hervorragend ausgefeilt und bieten dem Leser einen Einblick in die Abgründe der menschlichen Seele. John Griesemer erschuf in mehreren parallel verlaufenden und gleichzeitig verschmelzenden Erzählsträngen ein bestechendes Sitten- und Zeitgemälde. Und das Allerwichtigste: alles ist auch noch flüssig geschrieben und wunderbar leicht zu lesen!

 

In raschem Wechsel geht es um hochfliegende Technikträume und spirituelle Sehnsüchte, um Schiffe im Sturm, um Männer in der Schlacht, um Pianistinnen, Schauspielerinnen und Prostituierte, um Indianer und Schamanen, um Abraham Lincoln und um den Aufbruch in das Informationszeitalter. Selbst Karl Marx ist mit von der Partie! Sehr sinnlich beschreibt Griesemer beispielsweise unterschiedliche Kleiderstoffe in einer Menschenmenge, wenn sie vom Regen durchnässt werden.

 

Fazit: Ein voluminöser, großer Roman und absolutes Lese-Highlight - einfach berauschend!

 

Wolfgang Gonsch

5 Sterne
5 von 5

© 2004 Wolfgang Gonsch, Harald Kloth