Donna Leon

Lasset die Kinder zu mir kommen

Commissario Brunettis sechzehnter Fall

Mit einem idyllischen Abend in einer fast heiligen italienischen Familie in Serenissima beginnt der neue Roman von der dort lebenden amerikanischen Schriftstellerin Donna Leon. Nichts deutet auf eine Gefahr, Vater, Mutter und Kind sind glücklich. Doch die Stille täuscht und man sollte sich da keine falschen Illusionen machen, was das Leben hinter der alten Mauern von Venedig angeht. Maskiert und bewaffnet stürmt ein fünfköpfiges Kommando die Wohnung des renommierten Kinderarztes Gustavo Pedrolli. Er wird zusammengeschlagen, seine Frau bedroht und sein Adoptivsohn Alfredo mitgenommen. Ein ungewöhnliches Vorkommnis, in Anbetracht der Tatsache, dass die venezianische Polizei keine Ahnung von diesem Vorhaben hat.

 

Commissario Brunetti wird gerufen, weil es ja einen Verletzten gibt und dafür ist nun er zuständig. Doch der sonst so schlaue Brunetti steht vor einem Rätsel. Warum weiß man in Venedig nichts davon? Wer hat das angeordnet? Und was steckt wirklich dahinter? Brunetti wird neugierig und recherchiert mit seinen eigenen Mitteln. Dass den Carabinieri dieser Umstand nicht passt, kümmert ihn nicht im Geringsten. Er will es einfach wissen.

 

Es stellt sich heraus, dass das Ganze im Zuge einer Großrazzia wegen illegalen Babyhandels landesweit geschah. Es ist wohl gang und gäbe, dass ausländische mittellose Frauen gesetzwidrig ihre neugeborenen Kinder für Geld zur Adoption frei geben. Das funktioniert durch ein gut aufgebautes Netz, in dem keine hartgesottener und kaltblütiger Verbrecher, sondern angesehene Ärzte, Mediziner und Apotheker beteiligt sind. Beamtenbestechung, Urkundenfälschung, Entführung eines Minderjährigen, illegaler Devisentransfer sind nur eine kurze Liste ihrer Verbrechen. Wenn bei Familien solche Kinder entdeckt werden, kommen sie in Kinderheime und sind doppelt bestraft.

 

Was für eine Gesellschaft ist das denn, wo man Kinder kaufen und verkaufen kann? Diese Frage quält Brunetti, der immer wieder die antiken Dichter und Denker liest und die scheinbare Leichtigkeit bewundert, mit der sie ihre moralischen Urteile fällen. Verbittert muss er aber feststellen, dass es keine moderne Legende ist, sondern ganz einfach die bittere und verdammt harte Realität, in der auch die antiken Denker keine Helfer sind.

 

Dem Leser wird auch dieses Mal der verzaubernde Charme des schönen Venedig von Donna Leon nicht entgehen. Er ist dabei, wenn Brunettis Frau Paola, „Die Leuchte seines Lebens“ in einer Pasticceria einen himmlischen Cappuccino mit luftig-leichten Brioche genießt, oder wenn sich der Commissario in kleinen und gemütlichen Trattorias eine Orata mit Zitrone, einen Teller Cichetti oder die Fondi di Carciofi mit einem Glas Vino Novello schmecken lässt.

 

Donna Leons Blick auf das venezianische Leben bleibt scharf. Ihr gelingt es besonders gut, diese unverwechselbare Atmosphäre der Stadt zu schaffen und die Lust auf Venedig zu wecken. Auch die sympathische Figur des Commissario lässt den Leser nicht gleichgültig, wenn er immer wieder die ganze Welt nach seinen Erfahrungen beurteilt, als ob es keine anderen Maßstäbe zur Bewertung menschlichen Verhaltens gäbe. Gut so für ihn und für den Leser.

 

Fazit: Nachdem man sich reingelesen hat, wird das Buch unterhaltsam und interessant, das Thema ist aktuell und schreit - wenn auch „still“ - letzendlich nach Gerechtigkeit und Menschlichkeit, Würde und Prinzipien, höherer moralischen Werte und Liebe. Das lässt wohl keinen kalt. Und auch dafür, dass die Wirklichkeit in ihrem Buch im Vordergrund steht, egal wie grausam sie ist, sind die Leser der Autorin sehr dankbar.

 

Ludmila Hück

4 Sterne
4 von 5

Die Story, um die es in diesem neuen Kriminalfall von Commissario Guido Brunetti geht, befasst sich mit den immer dubioser werdenden Machenschaften von Kinderhändlern und Leihmuttergeschäften mit Frauen aus dem Ostblock, konfrontiert uns aber auch gleichzeitig mit einem groß angelegten Betrugsmanöver eines Apothekers. Dieser, um den es in der Hauptsache geht, hat noch ganz andere Macken, mit denen er, scheinheilig und mit seinem Gott in Reinen, wahllos Menschenleben zerstört.

 

Wahre Brunetti-Fans, Venedig-Liebhaber, eingefleischte Donna-Leon-Leserinnen und Leser und Literatur-Freunde, die Krimis suchen, die nicht vor Blut und Action strotzen kommen in beziehungsweise mit diesem 16. Fall wieder auf ihre Kosten; andere werden sowohl Handlung als auch Protagonisten eher noch langweiliger, schwerfälliger und träger finden, als die letzten zwei, drei Vorgängerbände dieser Kult-Reihe.

 

Da ich aber eher zu ersteren gehöre, liebe ich geradezu, die venezianische Kleinstadt-Idylle und das einfache, schlichte Leben des Ehemannes und Familienvaters Guido Brunetti. Das wahre Leben zieht sich Tag für Tag, ohne größere Ereignisse dahin, wo sich zwischen stabiler Ehe, harmonischem Familienleben und ganz normalen Alltagsproblemen nicht jedes Jahr dramatische und unvorhergesehene Katastrophen ereignen. Die Kriminalfälle dagegen greifen unspektakulär immer wieder neue Verbrechensfelder auf und prangern diese gnadenlos an - ohne jegliche Wirkung auf die Welt außerhalb der Literatur, leider!

 

Doch auch als geneigtem Donna-Leon-Leser fällt zunehmend auf, dass die Protagonisten (Brunetti und seine Familie, sein Vorgesetzter Vice-Questore Patta, Kollege Vianello und die alltags-, blut- und alterslose Sekretärin Elettra mit all ihren Beziehungen) sich weder weiter entwickeln noch altern! Sollte die Autorin dies ganz bewusst tun, könnte sie nach und nach Teile ihre Leserschaft verlieren. Spannende, realistische Fälle allein machen noch keine gute Literatur, dazu gehört auch ein gesundes Maß an Weiterentwicklung.

 

Doch vielleicht macht eben genau das den Erfolg von Donna Leon aus, dass die Leserinnen und Leser den lieb gewonnenen, netten Commissario, mit all seinen Kanten und Macken gleich im ersten Satz wieder erkennen; dass er weder altert noch sich verändert. Vielleicht ist es genau diese Konstante, die heutzutage, in der alltäglichen Hektik gesucht wird! So bleibt zumindest bei mir als bekennendem Brunetti-Fan ein leicht bitterer, fader Beigeschmack hängen.

 

Fazit: Gut zu lesende Literatur, aktuelle Themen aus Politik, sozialen Brennpunkten und Kriminalität treffen auf statische, sich nicht weiter entwickelnde Hauptfiguren. Die Fälle des Commissario Guido Brunetti sind und bleiben in dieser Form einfach Literatur für echte Fans von Donna Leon, alle anderen sollten und werden die Finger davon lassen.

 

Wolfgang Gonsch

3 Sterne
3 von 5

© 2008 Wolfgang Gonsch, Ludmila Hück, Harald Kloth