Saul Friedländer

Die Jahre der Vernichtung

Das Dritte Reich und die Juden 1939 bis 1945, Band 2

Nach der Machtübernahme Hitlers im Januar 1933, wurde durch die Nationalsozialisten zielstrebig die Lösung der Judenfrage vorangetrieben. Primäres Ziel war es zunächst die rechtliche und wirtschaftliche Situation der Juden zu unterminieren und sie zur Emigration zu zwingen. Die Juden sollten aus dem öffentlichen Leben, später vom deutschen Boden verschwinden. Gesetze, sporadisch organisierter Volkszorn und andere Arten von Drangsalierung erwiesen sich als wirksames Mittel, die etwa 500.000 deutschen Juden und ab 1938 die Juden in den einverleibten österreichischen und tschechoslowakischen Gebieten in ihren Existenz- und Überlebensräumen einzuschränken.

 

War diese Zeit nationalsozialistischer Judenpolitik Thema des viel beachteten ersten Bandes von Saul Friedländer (Die Jahre der Verfolgung. Das Dritte Reich und die Juden 1933-1939), legt er nun den zweiten Band vor.

 

Mit dem Angriff auf Polen am 1. September 1939 und hier setzt das Buch auch ein - intensivierten die Nationalsozialisten den Druck zur Vertreibung. Verwandte Begriffe wie Entfernung oder Endlösung signalisierten nun, dass es für die jüdische Minderheit in Deutschland keine Existenzmöglichkeit mehr gab. Die Gewalt nahm zu und der Begriff Vernichtung deutete klar auf die Möglichkeit des Genozids hin.

 

Diese Phase von 1939 bis 1941 markierte den Übergang zum Völkermord, wobei es laut Autor bis zum Sommer 1941 noch kein klares Programm hinsichtlich des Schicksals der Juden gab. So zog man zunächst die Möglichkeit einer territorialen Lösung der Judenfrage in Erwägung, in der man durch die Errichtung großer Judenreservate in Osteuropa, auf Madagaskar und an anderen entfernten Orten den Juden so schlechte Lebensbedingungen bieten wollte, dass sie zum Aussterben verurteilt geworden wären. Auch begannen die NS-Rassenfanatiker zu diesem Zeitpunkt, die Methoden für den organisierten Massenmord zu erproben.

 

Vor dem Hintergrund des Überfalls auf die Sowjetunion bildete sich 1941 ein allumfassendes Programm der Endlösung heraus. Der zunächst erwogene Plan einer groß angelegten Deportation der europäischen Juden in die besetzten sowjetischen Gebieten, wo sie mittel- oder langfristig zum Aussterben verurteilt gewesen wären, wurde in ein konkretes Mordprogramm umgewandelt. Dies war das Ergebnis längerer Umdenkungsprozesse über das Wann, Wo und Wie der Endlösung:

  • noch vor Ende des Krieges;
  • im besetzten Polen;
  • durch Gas in besonderen Vernichtungslagern.

Wen man Friedländer richtig deutet, war es aber kein Programm im eigentlichen Sinne, sondern nur eine Zwangsvorstellung: Das Reich von den Juden zu befreien, deren Zahl mit jeder Eroberung wuchs. Aber alle Schritte, mit denen Hitler sein Ziel zu erreichen versuchte, schlugen fehl: Die Politik der Ausweisung scheiterte wegen des Kriegsbeginns, der Plan zu einem Judenreservat auf Madagaskar an der Fortsetzung des Krieges gegen England und die Deportationen in die eroberten Gebiete der UdSSR schließlich am Widerstand der sowjetischen Armee. Da sich die wirre Utopie einer rassisch homogenen Volksgemeinschaft, die als Herrenvolk den europäischen Kontinent dominieren sollte, nicht verwirklichen ließ, blieb den Funktionäre in dieser neuen Sackgasse , aufgestachelt insbesondere aber auch von den hasserfüllten Äußerungen des Führers, nur noch ein Weg ihre Ziele auf negative Weise zu erreichen: durch Massenmord.

 

Wie Friedländer meines Erachtens richtig darstellt, kam es zur Entscheidung zur industriellen Vernichtung der Juden nicht auf dem Höhepunkt nationalsozialistischer Eroberungspolitik, sondern erst als die Kriegsmaschine ins Stocken geriet im Dezember 1941.

 

Die eine Führer-Entscheidung zur Ermordung der Juden gab es nicht. Bereits mit Kriegsbeginn gingen die Nationalsozialisten konzeptionell von der Verfolgung zur physischen Vernichtung der Juden über. Je weiter sie den Krieg ausdehnten, desto mehr radikalisierten sie ihre Judenpolitik. Für sie bildeten Krieg und Genozid eine grausame Einheit. Einzigartig am Genozid der Juden war die Globalität. Ab 1942 sollten nicht nur deutsche oder polnische Juden sterben, sondern Juden schlechthin. Die Koexistenz von Juden und Ariern auf der Erdkugel war für die Nationalsozialisten undenkbar.

 

Im Gegensatz zu den bereits zahlreich erschienenen, ja fast inflationären Publikationen zu diesem Thema, gelingt es Friedländer und darin liegt die Besonderheit des Buches - alle Aspekte (Innenpolitisch, außenpolitisch, Tätersicht, Opfersicht, Reaktionen / kollaboratives Verhalten des Auslandes und so weiter) dieser dunklen Zeit in einer fesselnden Darstellung zu vereinen, ohne dieses Thema in mehreren Bänden abzuhandeln, die eh keiner liest.

 

Das Buch gliedert sich in drei Teile. Teil 1 mit der Überschrift Terror behandelt die Zeit vom Angriff auf Polen im Herbst 1939 bis zum Beginn der Operation Barbarossa im Sommer 1941, Teil 2 Massenmord den Zeitraum vom Sommer 1941 bis Sommer 1942 und der letzte Teil Shoah (= Holocaust; hebräisch für Sturm, Verderben) setzt im Sommer 1942 ein und endet im Frühjahr 1945. Diese drei Teile gliedern sich wiederum in insgesamt 10 Kapiteln.

 

Die Stärke des Buches liegt auch in der Verbindung von bekannten Handlungssträngen und Prozessen und der Wahrnehmung und den Gefühlen der Beteiligten und hier wiederum in der Verbindung der ausgezeichneten Analyse der Gedankenwelt Hitlers mit denen der Opfer, aber auch der ach so unbeteiligten Beobachtern. Politisch und militärpolitisch strategische Ereignisse, wie zum Beispiel der Kriegseintritt der Vereinigten Staaten werden verknüpft mit den Handlungen der im Osten wütenden Einsatzgruppen, den dem sinnlosen Morden zusehenden Unbeteiligten bis herab auf das einzelne, leidende Individuum. Gerade diese immer wiederkehrenden Stimmen der Opfer, den immer wieder wechselnden Blickwinkel der Betrachtung, heben das Buch ab von einer rein industrietechnischen und prozessorientierten Abhandlung, die nur Daten und Fakten aneinanderreiht und kurz bewertet.

 

Ohne den Fluss des Erzählens und Berichtens zu unterbrechen, springt er von einem Schauplatz zum Nächsten. Von einer Rede Hitlers ausgehend, beschreibt er die zunehmende Globalisierung des Völkermordes, berichtet über Deportationen in Griechenland gefolgt von einem Kapitel über die Bahntransporte und schließlich der Haltung des Vatikans und der katholischen Kirche. Durch diese Methodik gelingt es Friedländer den Leser alle Schauplätze präsent vor Augen zu halten und in seinen Bann zu ziehen, obwohl einen die Grausamkeiten eigentlich dazu veranlassen, das Buch bei Seite zu legen. Ohne durch diese Sprünge den Leser zu überfordern, überzeugt das Buch mit einer Fülle an Informationen, seiner Analyse und Nachvollziehbarkeit seiner Argumentation und Thesen.

 

Apropos Kirche. Sowohl die evangelische wie auch die katholische Kirche und hier insbesondere den Papst, kritisiert der Autor besonders scharf, verweigerten sie nicht nur oftmals den Schutz der Juden, sondern sympathisierten sogar mit den Mördern. Auch das kollaborative Verhalten der europäischen Nachbarstaaten wird erstmals in dieser Ausführlichkeit behandelt und gibt dem Holocaust eine gesamteuropäische Dimension.

 

Ungeschminkt schildert Friedländer auch die grausame Vernichtungsmaschinerie der Einsatzgruppen und Polizeibataillonen. Wer glaubt, der Autor neigt hier durch seine persönliche Betroffenheit zu Übertreibungen, dem empfehle ich als Gegenbeweis nachhaltig das (von mir rezensierte) monumentale Werk von Andrej Angrick Besatzungspolitik und Massenmord (2003), der den mörderischen Weg der in Transnistrien, auf der Krim und im Kaukasus, also im Bereich der 11. Armee und später der Heeresgruppe A operierenden Einsatzgruppe D beschreibt.

 

Friedländer widerspricht den so genannten Funktionalisten, die die Endlösung als das Ergebnis eines Prozesses der Verfolgung sahen, der sich über jede Prognose hinaus durch die Dynamik des NS-Systems verselbständigt hatte, das nicht nur von Grund auf irrational war, sondern auch unfähig, etwas anderes zu tun als zu improvisieren und sich zu radikalisieren. Als Befürworter der Intentionalisten beschreibt er dagegen von der Rekonstruktion eines geradlinigen, im Wesentlichen von politisch-ideologischen Triebkräften bestimmten Weges in den organisierten Massenmord. Materielle Motive sieht er eher als nebensächlichen Aspekt. Friedländer zieht eine Kontinuitätslinie, die von Mein Kampf über Hitlers Reden und Tischgesprächen bis nach Auschwitz führte. Die Vernichtung der Juden war die Verwirklichung des Programms eines Mannes mit absoluter Macht. Es steht für ihn außer Zweifel, dass ein Verbrechen mit so monströsen Dimensionen nur durch den Mann an der Spitze des NS-Regimes, den Führer Adolf Hitler autorisiert worden sein konnte durch den Mann, der von seiner ersten politischen Stellungnahme aus dem Jahre 1919 bis zu seinem Testament im April 1945 durch seinen pathologisch antisemitische Wahn von der Idee besessen war, die Juden auf die eine oder andere Art zu eliminieren.

 

Fazit: Dieses Werk zeigt wieder einmal, dass Geschichte am Besten durch Zeitzeugen erzählt werden kann. Friedländer, 1932 in Prag geboren, hat den Nationalsozialismus selbst in aller Form persönlich erfahren. Seine Eltern wurden 1942 in Auschwitz ermordet, er selbst entkam dem Tod nur in einem Versteck in einem katholischen Internat. Durch seine meisterhafte Darstellung ist das in immer weiter zeitliche Entfernung gerückte Thema wieder in die öffentliche Diskussion gelangt. Die Verknüpfung der großen Weltpolitik mit den kleinen persönlichen Schicksalen ist einzigartig. Seine plausible Darstellung überzeugt selbst denjenigen der glaubte, alles über die Vernichtung der Juden zu wissen.

 

Andreas Pickel

5 Sterne
5 von 5

© 2006 Andreas Pickel, Harald Kloth